Gedanken zum Brexit - Vom Leuchtturm lernen

Kolumne: Morgens um halb sechs. Für den Austritt Großbritanniens aus der EU gibt es kein Vorbild, er ist vollkommen neu. Wo aber die Scheidungskultur fehlt, wird sie durch Härte ersetzt. So droht die Trennung in einer Schlammschlacht zu enden

Wir brauchen einen Leuchtturm. Eine haltbare Form, die dem Sturm trotzt / picture alliance
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Autoreninfo

Sabine Bergk ist Schriftstellerin. Sie studierte Lettres Modernes in Orléans, Theater- und Wirtschaftswissenschaften in Berlin sowie am Lee Strasberg Institute in New York. Ihr Prosadebüt „Gilsbrod“ erschien 2012 im Dittrich Verlag, 2014 „Ichi oder der Traum vom Roman“.

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Noch immer zerschellen Schiffe am Eingang des Ärmelkanals. Die Klippen am ehemaligen Ende der Welt, das die Römer finis terrae nannten, bestehen größtenteils aus variszischem Granit. Wie kräftig die Wellen im Finistère sind, ist auf dem legendären Foto des Leuchtturms von La Jument festgehalten, das Jean Guichard 1989 vom Hubschrauber aus schoss. Wird dieser Leuchtturm nun zum Wahrzeichen einer von Stürmen gebeutelten, zerrissenen Europäischen Union?

Seit dem Leuchtturmschnappschussjahr ist Europa unentwegt zusammengewachsen. Nun steht die erste Scheidung an. Ein solcher Fall war nicht vorhersehbar, er ist vollkommen neu. Es gibt kein Regelwerk für einen europäischen Exit. Wir befinden uns in einem Nullraum. Die Folge einer solchen Vakuumsituation ist logisch – beiderseits wird mit Härte gedroht, da elementare Ängste auf fehlende Strukturen prallen. Zahlen sollen als Warnsignale Verhaltensgrenzen abstecken. Es fehlt an einer europäischen Scheidungskultur und wo Kultur fehlt, regiert die Faust. Dabei können Drohungen keinen weiteren Exit verhindern. Wer gehen will, wird auch im Härtefall gehen wollen. Die Wellen prallen dann eben auf härteren Fels.

Wir brauchen einen Leuchtturm

„Wenn einer fortgeht, muss er den Hut mit den Muscheln, die er sommerüber gesammelt hat, ins Meer werfen und fahren mit wehendem Haar“, schrieb Ingeborg Bachmann in den „Liedern von einer Insel“. Loszulassen ist nicht einfach, vor allem nicht, wenn es um ein Königreich geht. Doch erst nach dem Loslassen besteht Aussicht auf eine mögliche Rückkehr. Ingeborg Bachmann beendet das Gedicht mit Auslassungspunkten.

Mit Verlust konstruktiv und kultiviert umzugehen, ihn nicht in eine beleidigte Zahlenschlacht zu verwandeln, will gekonnt sein. In einer gewinnorientierten Welt ist man auf Verluste nicht vorbereitet und versucht es zunächst in der gewohnten Zahlensprache. Dabei bräuchte es vielmehr Fingerspitzengefühl und einen feinen Geist als dieses ständige Gezeter um Geld. Es gilt, ein stabiles Gerüst zu konstruieren und es in den Boden zu rammen, um künftige Stürme gekonnter zu überstehen. Kurzerhand: Wir brauchen einen Leuchtturm. Eine haltbare Form, die dem Sturm trotzt. Die Aufmerksamkeit sollte daher nicht auf den Konflikt gerichtet, sondern in die Formfindung gelenkt werden.

Erpressung als Zeichen von Hilflosigkeit

Derzeit konzentriert man sich in Brüssel auf das Berechnen von Geldhaufen. Geld kann den Verlust Großbritanniens jedoch nicht kompensieren. Niemand kann ein Land zwingen, Europa nicht zu verlassen. Oder soll Europa zur neuen DDR werden, mit Drinnen-bleiben-Zwang und Uns-geht’s-gut-Beschwichtigungsrhetorik? Erpressung ist kein Zeichen positiven Zusammenlebens, vielmehr entblößt sich hier Hilflosigkeit, fehlende Form.

Die Folgen hilflosen Verhaltens in Beziehungskonstellationen können dramatische Fahrt aufnehmen. Wenn keine Modelle existieren, zwischen denen man wählen und kombinieren kann, besteht die Gefahr, in archaische Handlungsmuster zurück zu fallen. Eine Scheidung, die ein lockeres Getrenntleben mit Besuchsregelung hätte werden können, mutiert dann zum Rosenkrieg.

Wenn Scheidungen zu Schlammschlachten werden

Als Kind erlebte ich die Folgen einer solchen Scheidung. Es gab keine ähnlichen Fälle in der Umgebung, keine vorgelebten Alternativen. Es gab im näheren Kilometerkreis auch keine Patchworkfamilien. Alle waren verheiratet. Der durchlebte Rosenkrieg um Haus, Kind, Hund und Buchsbaumhecke war klassisch und entsprach der damals einzig bekannten Scheidungsform – der Schlammschlacht. Übrig blieben, nach schweren Krankheiten, Atemnot und Intensivstationsaufenthalten, zwei zerrissene Kinder, um die es ursprünglich einmal ging. Eine Zeit lang fuhr ich jede Woche mit dem Fahrstuhl aufs Schuldach, kaute an einer Lakritzschnecke und starrte auf den angrenzenden Friedhof. Wenn das Meer direkt auf den Fels trifft, schnellt es in die Höhe und zerbricht Schiffe.

Gleich eine Entwicklungsstufe zu überspringen, wie ein begabtes Kind – die geballte Energie gleich in bessere Wege des gemeinsamen Getrenntlebens oder des getrennten Zusammenlebens zu investieren – wäre meine hoffnungsvolle Morgenrundenvision. Bisher trifft die Brüsseler Brandung jedoch direkt auf großbretonisches Granit. Das erzeugt meterhohe Wellen. Der Leuchtturm von La Jument kennt viele solcher Wellen und hat sie überstanden. Wir sollten ihn um Rat fragen.

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