Frankfurter Buchmesse - Auf Europa kommt es an

Gilles Kepel blickt in den Nahen Osten und auf dessen Islamisierung. Seine Darstellung ist kenntnisreich und darum nur sehr verhalten optimistisch

Erschienen in Ausgabe
Der Nahe Osten und Nordafrika sind für Europa nah und fern zugleich / picture alliance
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Autoreninfo

Thomas Speckmann ist Historiker und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam.

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Der Nahe Osten war für die meisten Europäer lange ein ferner. Ebenso Nordafrika. Man machte gute Geschäfte miteinander, aber politisch oder gesellschaftlich eng verflochten waren nur wenige Länder diesseits und jenseits des Mittelmeers. Ein „Mare Nostrum“ gab es nicht. Dies hat sich mit Beginn der europäischen Flüchtlingskrise in den letzten Jahren massiv verändert. Nun hat das Geschehen in Nordafrika und im Nahen Osten direkten Einfluss auf die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäer. Es prägt allmählich auch die Wahlergebnisse in Europa.

Einer der wenigen wirklich ernst zu nehmenden Beobachter des arabisch-islamischen Raumes ist Gilles Kepel. Im Gegensatz zu vielen anderen, die sich je nach medialer Konjunktur selbst zum Experten dieser oder jener Weltregion erklären, beschäftigt sich der 1955 in Paris geborene Soziologe nicht nur bereits seit seinem Studium der Arabistik mit der arabischen Welt, dem politischen Islam und dem radikalen Islamismus. Der Professor am Institut d’Études Politiques de Paris hat sich einen Namen gemacht mit seinem „Schwarzbuch des Dschihad“ und weiteren viel beachteten Werken zur Spirale des islamistischen Terrorismus vom 11. September 2001 bis in die Vorstädte westlich geprägter Metropolen hinein.

Der Zeuge vor Ort, Beobachter und Chronist

Nun widmet sich Kepel einer Situation, die immer komplexer zu werden scheint: Krieg und humanitäre Katastrophen in Syrien und Jemen, das Kräftemessen zwischen Schiiten und Sunniten, die latente Bedrohung durch die verbleibenden Kämpfer des „Islamischen Staates“ in der Levante, widerstreitende geopolitische Interessen. Hinzu kommen der demografische Druck und der notwendige Wandel überholter Wirtschaftssysteme – Herausforderungen, mit denen sich die Region zeitgleich konfrontiert sieht.

Als Zeuge vor Ort, Beobachter und Chronist beschreibt Kepel die zunehmende Islamisierung der politischen Ordnung im Nahen Osten. Nach seiner Darstellung der letzten 45 Jahre haben die gewaltigen Öleinnahmen und die Durchsetzung des politischen Islams den chaotischen Kreislauf angetrieben, der mit dem Jom-Kippur-Krieg von Ägypten, Syrien und weiteren arabischen Staaten gegen Israel im Oktober 1973 begann und – paradoxerweise – sowohl über die Ausweitung des Dschihad als auch über die Aufstände des Arabischen Frühlings 2011 ins monströse „Kalifat“ des IS in Syrien und im Irak und damit in die Zerstörung der Levante mündete.

Und der Westen? Kepel erinnert wohltuend daran, dass das Desinteresse der amerikanischen Supermacht an der Region in der Präsidentschaft von Barack Obama begann. Nun werde es auf spektakuläre Art und Weise von dessen Nachfolger Donald Trump fortgesetzt: „Damit ist Europa gezwungen, seiner Verantwortung voll und ganz gerecht zu werden.“

Nah und fern zugleich

Unter diesen Voraussetzungen ist die Wiederbelebung der Levante ein „entscheidender Punkt“. Nach Kepels Analyse wurde die Region ihrer Lebensgrundlage beraubt, als der unternehmungsfreudigste Teil der Bevölkerung an die Küsten des Persischen Golfes abwanderte. In der Stärkung der Levante als Gelenk zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten und im Zusammenhalt der beiden Regionen sieht Kepel das Mittel, um einen kulturellen Zusammenstoß zu vermeiden, der die Krisen der letzten Jahrzehnte verstetigen würde.

Doch wird es Europa gelingen, das sich vor allem durch seine von Terroristen wie Flüchtlingen angesteuerte Mittelmeerküste plötzlich in einer Krisenzone befindet, seine Passivität zu überwinden? Kepel wirkt skeptisch: „Derzeit sieht Europa, von der Blockade seiner Institutionen gehemmt, den Zentrifugalkräften einer extremen Rechten wie eines linken, von Islamismus durchsetzten Populismus ohnmächtig zu.“ Der Nahe Osten und Nordafrika scheinen für die meisten Europäer nun beides zu sein: nah und fern zugleich. 

Gilles Kepel:„Chaos: Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen“. Aus dem Französischen von Enrico Heinemann und Jörn Pinnow Antje Kunstmann, München 2019. 448 Seiten, 28 €

Dieser Text ist in der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können. 

 

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