Frank-Walter Steinmeier auf der Documenta - Diese Rede ist ein Skandal

Nirgendwo auf der Documenta wird das Existenzrecht Israels in Frage gestellt. Trotzdem hielt der Bundespräsident in Kassel eine Rede, die die Antisemitismus-Vorwürfe einfach als berechtigt darstellte. Ein Kommentar

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung der documenta / dpa
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Elke Buhr ist Chefredakteurin des Monopol Magazins

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Gemeinschaft, Kooperation, Ressourcenteilung, das sind die Werte, die das indonesische Kollektiv Ruangrupa auf der Documenta Fifteen umsetzen will. Dazu haben sie zahlreiche weitere Kollektive vor allem aus dem Globalen Süden eingeladen, die wiederum selbst viele Künstlerinnen und Künstler gebeten haben, an der Großausstellung in Kassel teilzunehmen. Die vollständige Künstlerliste, die gerade erst veröffentlicht wurde, ist selbst fast wie ein Konzeptkunstwerk: Sie umfasst Tausende von Namen.

An den Eröffnungstagen ging das Konzept auf: Überall standen Menschen entspannt zusammen, lagen in der Sonne, freuten sich über den positiven Vibe, der die Ausstellung durchzieht – obwohl viele Werke auch Krieg, Unterdrückung, ökologische Katastrophe und Kolonialismus zum Thema haben.

Doch nein, nicht alle freuten sich. Ein paar Journalistinnen und Journalisten hatten anderes zu tun: Sie suchten nach Antisemitismus. Die zunächst von einem zweifelhaften Kasseler Blog erhobenen Vorwürfe gegen Ruangrupa und vor allem eine palästinensische Gruppe, die sich schnell zu Vorwürfen gegen alles „Postkoloniale“ erweiterten, waren so konsequent aufgeblasen worden, dass sie für viele zu einer Schablone wurden, unter der die Ausstellung wahrgenommen wurde. Wo ist er denn nun, der Antisemitismus? 

Keine Diffamierung oder Herabwürdigung

Eine erste Antwort soll hier nun klar gegeben werden: Nirgendwo auf dieser Ausstellung wird das Existenzrecht Israels in Frage gestellt. Es werden auch keine Juden diffamiert und herabgewürdigt. Im Übrigen hatte auch im Vorfeld keiner der Beteiligten sich irgendwie antisemitisch geäußert, alle hatten Antisemitismus explizit verurteilt.

Was allerdings stattfindet, ist die Präsentation von palästinensischen Künstlerinnen und Künstlern. Zum Beispiel bei dem Kollektiv Question of Funding aus Ramallah. Es dokumentiert die Geschichte des Künstlerkollektivs Eltiqa aus dem Gaza-Streifen-Künstlerinnen und -Künstler, die wegen israelischer Einfuhrregulation kaum über Leinwand und Farben verfügen, deren Biografien geprägt sind von Kriegen und Armut. Die Situation dieser Menschen wird nicht einmal bewertet, nur dargestellt. Ist das bereits zu viel?

Es gibt noch mehrere palästinensischstämmige Künstlerinnen und Künstler in der Ausstellung, und sie beschäftigen sich mit sehr unterschiedlichen Themen, längst nicht alle mit dem Nahostkonflikt. Und ja, jüdische Künstlerinnen und Künstler mit Wohnsitz im Staat Israel sind zumindest nicht prominent vertreten – noch ist die lange Liste nicht komplett durchforstet worden.

Kaum Künstler aus dem industrialisierten Westen

Dazu muss man allerdings wissen, dass insgesamt so gut wie keine Künstlerinnen und Künstler aus reichen, industrialisierten Ländern eingeladen wurden – und wenn, dann gehören sie kaum jemals der Mehrheitsgesellschaft an. Aus Dänemark kommt eine Gruppe, die Asylsuchende vertritt. Aus Australien der Aborigine Richard Bell, der die Weißen auffordert, das gestohlene Land zurück zu geben. Aus Ungarn die Roma-Künstler. Hunderte weiterer Länder sind überhaupt nicht vertreten – warum auch, man ist hier ja nicht bei der Uno-Vollversammlung, sondern bei einer Ausstellung mit einem bestimmten Fokus. Dieser liegt bei Künstlerinnen und Künstlern aus dem Globalen Süden. Und deren Perspektive ist – Überraschung – anders als die der Bundesrepublik Deutschland.

Dass die Bild-Zeitung damit Probleme hat und mit Überschriften wie „Documenta und Judenhass – Steinmeier eröffnet Kunstmesse der Schande“ nicht nur mal wieder Ausstellung und Messe verwechselt, sondern auch tief in die Diffamierungskiste greift, war leider zu erwarten. Dass aber auch der deutsche Bundespräsident die Documenta Fifteen mit einer Rede eröffnet hat, die einfach mal voraussetzt, dass die Vorwürfe begründet seien, ist ein Skandal.

„Kritik an israelischer Politik ist erlaubt. Doch wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten“, sagte Steinmeier. Ja, ganz richtig – aber wie kommt er darauf, dass das auf der Ausstellung irgendwo der Fall ist? Das Rätsel löst sich ein paar Sätze später: Ein Boykott Israels käme einer Existenzverweigerung gleich. Aus der puren Tatsache der Abwesenheit von Israelis – nicht von Juden übrigens – schließt diese Argumentation bereits, hier läge ein Boykott vor. Muss ab jetzt jede Gruppenausstellung in Deutschland eine entsprechende Quote einhalten?

Die Gäste aus Indonesien werden zurechtgewiesen

Es gibt vieles auf der Documenta Fifteen, wozu sich Steinmeier hätte äußern können. Der Ruf nach einer anderen Wirtschaftsweise. Die Zurückweisung von Ausbeutung durch die westlichen Industrieländer. Die scharfe Kritik an der europäischen Flüchtlingspolitik, der Festung Europa, deren Opfer tot im Mittelmeer treiben. Es hat ihn offenbar nicht interessiert. Wichtiger war ihm, die Gäste aus Indonesien zurechtzuweisen – ihnen zu sagen, wen genau man in Deutschland, im Land des Holocaust, in eine Ausstellung einzuladen hat und wen nicht.

Die jüdische Philosophin Susan Neiman hat sich im Vorfeld der Documenta Fifteen mehrfach dagegen ausgesprochen, wie in der Debatte der Antisemitismus-Begriff ausgehöhlt und instrumentalisiert wird. „Man lädt ein indonesisches Kuratoren-Kollektiv ein, um einen anderen Blick auf die Welt kennenzulernen, den Blick des Globalen Südens. Aber eigentlich will man diesen Blick dann doch nicht haben“, sagte sie im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Dabei würde es sich lohnen, sich auf den Perspektivwechsel einzulassen. Zuhören wäre vielleicht mal eine gute Idee. Wir haben noch 100 Tage Zeit.

Die Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier im Wortlaut lesen Sie hier.

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