Francis Fukuyama - Wo die Linke falsch abgebogen ist

Der US-Politologe Francis Fukuyama schreibt: Indem die Linke Identitätsfragen an die Stelle von Ökonomie setzt, schaufelt sie sich ihr eigenes Grab und verrät die Arbeiterklasse. Dass davon die Rechte profitiert, verwundert nicht

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Identitätspolitik kann Redefreiheit und rationalen Diskurs bedrohen, sagt Francis Fukuyama / Sebastian König
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Autoreninfo

Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama, geboren 1952 in Chicago, gehört seit dem Bestseller „Das Ende der Geschichte“ (1992) zu den wichtigsten Intellektuellen der Welt.
Dieses Essay ist ein Auszug aus seinem neuen Buch „Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“, das am 5. Februar in Deutschland erscheint. Foto: Djurdja Padejski

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Die Krise der Linken in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts fiel mit ihrer Hinwendung zu Identitätspolitik und Multikulturalismus zusammen. Die Linke wurde weiterhin durch ihre Forderung nach Gleichheit gekennzeichnet, doch ihr Programm legte den Nachdruck nicht mehr wie früher auf die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft, sondern auf die Wünsche eines stetig größer werdenden Kreises ausgegrenzter Gruppen. Viele Aktivisten hielten die alte Arbeiterklasse und ihre Gewerkschaften bald für eine privilegierte Schicht mit wenig Sympathie für das Elend von Einwanderern oder ethnischen Minderheiten. Sie machten sich daran, die Rechte einer wachsenden Anzahl von Gruppen auszuweiten, statt die wirtschaftliche Ungleichheit von Individuen zu verbessern. Dabei blieb die alte Arbeiterklasse auf der Strecke.

Etwas Ähnliches ereignete sich in Europa. In Frankreich hatte die extreme Linke stets eine bedeutendere Rolle gespielt als in den Vereinigten Staaten. Doch nach den événements im Mai 1968 schienen die revolutionären Ziele der alten marxistischen Linken nicht mehr relevant für das sich abzeichnende neue Europa zu sein. Damit verlagerte sich die Agenda der Linken auf die Kultur: Nicht mehr die aktuelle politische Ordnung, welche die Arbeiter ausbeutete, musste zertrümmert werden, sondern die Hegemonie der westlichen Kultur und der westlichen Werte, die Minoritäten in der Heimat und in Entwicklungsländern unterdrückte.

Islamismus wird heruntergespielt

Der klassische Marxismus hatte viele Säulen der westlichen Aufklärung akzeptiert: den Glauben an Wissenschaft und Vernunft, an historischen Fortschritt und an die Überlegenheit moderner gegenüber traditionellen Gesellschaften. Im Gegensatz dazu war die neue kulturelle Linke eher nietzscheanisch und relativistisch eingestellt, sie griff die christlichen und demokratischen Werte der Aufklärung an. Die westliche Kultur galt als Brutstätte des Kolonialismus, des Patriarchats und der Umweltzerstörung. Diese Kritik sickerte zurück in die Vereinigten Staaten und wurde an den Universitäten als Postmodernismus und Dekonstruktivismus gelehrt.

Europa wurde multikultureller, sowohl in der Praxis als auch aus Prinzip. In vielen europäischen Ländern entstanden infolge des Arbeitskräftemangels nach dem Zweiten Weltkrieg Immigrantengemeinschaften, die häufig überwiegend muslimisch geprägt waren. Anfangs drangen Vertreter dieser Gemeinschaften auf gleiche Rechte für Einwanderer und ihre Kinder, doch sie wurden durch unveränderte Schranken für Aufwärtsmobilität und soziale Integration gehemmt. Inspiriert durch die Iranische Revolution 1979 und die Unterstützung salafistischer Moscheen und Koranschulen durch Saudi-Arabien, entstanden in Europa islamistische Gruppen, die dafür eintraten, dass sich Muslime nicht integrierten, sondern getrennte kulturelle Institutionen aufrechterhielten.

Zahlreiche Angehörige der europäischen Linken begrüßten diesen Trend, da Islamisten ihrer Meinung nach glaubwürdigere Wortführer der randständigen Muslime waren als ihre verwestlichten Glaubensgenossen, die sich dem Gesellschaftssystem angepasst hatten. In Frankreich wurden Muslime zum neuen Proletariat, und nicht wenige Vertreter der Linken gaben ihre säkulare Haltung im Namen des kulturellen Pluralismus auf. Kritische Äußerungen darüber, dass Islamisten ihrerseits intolerant und illiberal seien, wurden oft unter Verweis auf Antirassismus und den Kampf gegen die Islamophobie heruntergespielt.

Identitätspolitik als Ersatz für ernsthafte Gedanken

Die sich wandelnde Programmatik der progressiven Linken in den Vereinigten Staaten und in Europa brachte Vor- und Nachteile mit sich. Die Übernahme der Identitätspolitik war sowohl verständlich als auch notwendig, denn die gelebten Erfahrungen von Identitätsgruppen unterscheiden sich und müssen oftmals auf spezifische Weise behandelt werden. Außenstehende ahnen häufig nichts von dem Schaden, den sie durch ihre Aktionen anrichten, was vielen Männern klar wurde, nachdem die #MeToo-Bewegung Fälle von sexueller Belästigung und Nötigung öffentlich gemacht hatte. Die Identitätspolitik zielt darauf ab, Kultur und Verhalten auf eine Art zu beeinflussen, die den Beteiligten reale Vorteile beschert. Dadurch, dass die Identitätspolitik die Aufmerksamkeit auf persönliche Erfahrungen von Ungerechtigkeit lenkt und konkrete politische Maßnahmen auslöst, hat sie den betroffenen Gruppen geholfen und erfolgreich kulturelle Normen geändert.

Die Black-Lives-Matter-Bewegung etwa hat dafür gesorgt, dass man bei den Polizeibehörden überall in den Vereinigten Staaten vorsichtiger geworden ist, was die Behandlung von Minderheiten angeht, auch wenn es weiterhin Fälle von polizeilicher Gewalt gibt. Die #MeToo-Bewegung hat das gesellschaftliche Bewusstsein für sexuelle Gewalt geschärft und eine wichtige Diskussion über die unzureichende Strafgesetzgebung eröffnet. Die bedeutendste Folge ihres Wirkens dürfte der veränderte Umgang von Männern und Frauen am Arbeitsplatz sein.

Eigentlich gibt es an der Identitätspolitik als solcher wenig zu bemängeln – sie stellt eine natürliche und unvermeidliche Reaktion auf Ungerechtigkeiten dar. Problematisch wird sie erst unter bestimmten Gesichtspunkten. Für manche Linke ist die Identitätspolitik zu einem billigen Ersatz für ernsthafte Überlegungen geworden, wie der seit 30 Jahren andauernde Trend ausufernder sozioökonomischer Ungleichheit in den meisten liberalen Demokratien umgekehrt werden kann. Es ist leichter, im Rahmen elitärer Institutionen über kulturelle Fragen zu diskutieren, als Gelder einzutreiben oder skeptische Gesetzgeber zu einer Änderung ihrer Strategie zu bewegen.

Die Arbeiter wechseln zum Front National

Die sichtbarsten Erscheinungen der Identitätspolitik sind seit den achtziger Jahren an Universitäten zu verzeichnen. Man kann recht mühelos dafür sorgen, dass feministische Literatur und die Stimmen der Minderheiten in die Studienpläne einbezogen werden, doch es bedarf weitaus größerer Anstrengungen, das Einkommen und die soziale Stellung der betreffenden Gruppen zu verbessern. Zudem sind viele der Zielgruppen im Brennpunkt identitätspolitischer Kampagnen der letzten Zeit, etwa weibliche Führungskräfte im Silicon Valley oder aufstrebende Schauspielerinnen und Filmemacherinnen in Hollywood, nicht allzu weit vom Einkommensgipfel entfernt. Es ist löblich, ihnen zu mehr Parität zu verhelfen, doch dadurch wird das krasse Missverhältnis zwischen dem einen Prozent der Großverdiener und den anderen 99 Prozent nicht behoben.

Hier wird ein zweites Problem deutlich, das sich aus der Konzentration auf immer neue und enger definierte ausgegrenzte Gruppen ergibt: Sie lenkt die Aufmerksamkeit von den schwerwiegenden Problemen größerer Gruppen ab. Ein beträchtlicher Teil der weißen Arbeiter in den USA ist in die Unterschicht abgeglitten – eine Erfahrung, die sich mit jener der Afroamerikaner in den siebziger und achtziger Jahren vergleichen lässt. Trotzdem hatten linke Aktivisten bis vor kurzem wenig über die fortschreitende Opioid-Krise oder über das Schicksal von Kindern zu sagen, die in den ländlichen Vereinigten Staaten in verarmten Single-Haushalten heranwachsen. Die Demokraten haben keine Strategie für die Bewältigung der enormen Arbeitsplatzverluste, die die Automatisierung begleiten werden, oder für die wachsenden Einkommensunterschiede in der Gesellschaft.

Das gleiche Problem plagt Parteien der Linken in Europa: Die kommunistische und die sozialistische Partei in Frankreich haben in den letzten Jahrzehnten erhebliche Wählerzahlen an den Front National verloren, genau wie die Zustimmung der deutschen Sozialdemokraten zu Angela Merkels Flüchtlingspolitik bei der Bundestagswahl 2017 zu ähnlichen Einbußen führte.

Die Linke ist weiter nach links gerückt

Ein drittes Problem des gegenwärtigen Identitätsverständnisses besteht darin, dass es die Redefreiheit und, im weiteren Sinne, den für eine Demokratie erforderlichen rationalen Diskurs bedrohen kann. Liberale Demokratien sind dem Schutz des Rechtes verpflichtet, besonders im politischen Bereich, jeden Gedanken auf dem Marktplatz der Ideen äußern zu können. Doch die Bevorzugung der Identität kollidiert mit der Notwendigkeit eines durchdachten Austauschs: Gelebte Erfahrung wird unter emotionalen Gesichtspunkten bewertet statt unter rationalen. „Unsere politische Kultur ist im Mikrobereich durch die Verschmelzung der Meinung einer Person mit dem gekennzeichnet, was sie als ihr einzigartiges, permanentes und authentisches Selbst erachtet“, kommentiert ein Beobachter. Damit erhalten aufrichtig vertretene Ansichten den Vorzug vor vernünftigen Überlegungen, die jemanden zwingen könnten, seinen Standpunkt aufzugeben. Wenn ein Argument das Selbstwertgefühl eines Menschen beleidigt, gilt dies häufig als Diskreditierung des Sprechers – ein Trend, der durch die verkürzte Kommunikation in den sozialen Medien begünstigt wird.

Die politische Strategie, eine linke Bewegung aus einer Koalition verschiedener Identitätsgruppen zusammenzufügen, ist ebenfalls problematisch, wie Mark Lilla erklärt hat. Die Dysfunktion und der Verfall des amerikanischen staatlichen Systems sind mit der extremen und stetig zunehmenden Polarisierung der Politik verknüpft, wodurch die routinemäßige Regierungsausübung zu einem Spiel mit dem Feuer wird, das droht, sämtliche Institutionen des Landes zu politisieren. Die Schuld daran verteilt sich nicht gleichmäßig auf die Linke und die Rechte. Wie Thomas E. Mann und Norman J. Ornstein darlegen, hat sich die Republikanische Partei viel rascher den extremistischen Standpunkten ihres Tea-Party-Flügels angenähert als die Demokratische Partei den linken Positionen ihres extremen Flügels.

Andererseits ist auch die Linke weiter nach links gerückt. Damit reagieren beide Seiten auf die Anreize, die ein Zwei-Parteien-Wahlsystem und die Vorwahlen ihren politisch bewussten Aktivisten bieten. Die Parteimitglieder, die sich am stärksten für Identitätsfragen interessieren, sind selten repräsentativ für die Wählerschaft als Ganzes. Im Gegenteil, ihre Ansichten wirken häufig abschreckend auf den Durchschnittswähler. Zudem provoziert die moderne Identität mit ihrem Nachdruck auf gelebten Erfahrungen naturgemäß Konflikte innerhalb der liberalen Koalition. Zum Beispiel haben Streitigkeiten über „kulturelle Aneignung“ progressive Schwarze und Weiße gegeneinander aufgebracht.

Tabus im öffentlichen Diskurs

Das abschließende und vielleicht bedeutsamste Problem der heutzutage von der Linken praktizierten Identitätspolitik besteht allerdings darin, dass sie eine entsprechende Politik der Rechten ausgelöst hat. Die linke Identitätspolitik zieht eine politische Korrektheit nach sich, deren Ablehnung zu einer wichtigen Mobilisierungsquelle für die Rechte geworden ist. Da dieser Begriff ein zentrales Thema der US-Präsidentschaftswahl 2016 ausmachte, sollten wir hier kurz seine politische Herkunft erörtern.

Politische Korrektheit bezieht sich auf Dinge, die man in der Öffentlichkeit nicht äußern darf, ohne mit moralischen Schmähungen rechnen zu müssen. In jeder Gesellschaft gibt es Ideen, die ihrem Gründungsgedanken zuwiderlaufen und deshalb im öffentlichen Diskurs tabu sind. In einer liberalen Demokratie darf man durchaus glauben, dass Hitler Juden zu Recht ermordet habe oder dass die Sklaverei eine mildtätige Institution gewesen sei, und das im Privaten auch äußern. Nach dem 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten ist das Recht, solche Aussagen zu machen, zudem konstitutionell geschützt.

Dennoch würde heftige moralische Kritik an jedem Politiker geübt werden, der derartige Ansichten vorträgt, da sie dem in der Unabhängigkeitserklärung verkündeten Prinzip der Gleichheit widersprechen. In etlichen europäischen Demokratien, die nicht die gleiche absolutistische Haltung zur Redefreiheit vertreten wie die Vereinigten Staaten, sind solche und ähnliche Statements seit vielen Jahren gesetzlich verboten.

Trumps Anti-political-correctness

Das gesellschaftliche Phänomen der politischen Korrektheit ist jedoch komplexer. Die dauernden Entdeckungen neuer Identitäten und die schwankende Grundlage für akzeptable Äußerungen sind schwer im Auge zu behalten: manhole, ein Schacht für Bauarbeiter, wird in den USA inzwischen als maintenance hole umschrieben; der Name des Footballteams Washington Redskins wird von amerikanischen Ureinwohnern als herabsetzend kritisiert; der Gebrauch von Personalpronomen wie er oder sie im falschen Kontext wird als mangelnde Sensibilität gegenüber Intersex- oder Transgender-Personen empfunden. Dem hervorragenden Biologen Edward O. Wilson wurde ein Eimer Wasser über den Kopf gegossen, weil er erklärt hatte, dass manche Unterschiede zwischen Mann und Frau biologische Ursachen hätten. Keines dieser Themen ist von Bedeutung für fundamentale demokratische Prinzipien, doch sie scheinen die Würde einer speziellen Gruppe infrage zu stellen und einen Mangel an Achtsamkeit oder Mitgefühl für die Herausforderungen und Kämpfe jener Gruppe auszudrücken.

Tatsächlich setzt sich nur eine relativ kleine Anzahl von linken Schriftstellern, Künstlern, Studenten und Intellektuellen für die extremeren Formen politischer Korrektheit ein, doch solche Beispiele werden von konservativen Medien aufgegriffen und dazu benutzt, die gesamte Linke über einen Kamm zu scheren. Dies könnte einen der außerordentlichen Aspekte der US-Präsidentschaftswahl 2016 erklären, nämlich Donald Trumps fortgesetzte Popularität ungeachtet eines Benehmens, das die Karriere jedes anderen Politikers beendet hätte. Im Wahlkampf verspottete er einen behinderten Journalisten, er prahlte damit, Frauen begrapscht zu haben, und er bezeichnete Mexikaner pauschal als Vergewaltiger und Verbrecher.

Obwohl vielen seiner Anhänger sicher nicht jedes dieser Statements gefallen hat, gefiel ihnen die Tatsache, dass er sich von dem Zwang, politisch korrekt aufzutreten, nicht einschüchtern ließ. Trump war der perfekte Vertreter der Ethik der Authentizität, die typisch für unser Zeitalter ist: Er mag verlogen, bösartig, scheinheilig und nicht präsidentenhaft sein, aber zumindest sagt er, was er denkt.

Landbewohner sind das Rückgrat der Populisten

Indem Trump die politische Korrektheit so frontal angriff, trug er wesentlich dazu bei, den Fokus der Identitätspolitik von der Linken auf die Rechte zu verschieben, wo sie nun neue Wurzeln schlägt. Linke Identitätspolitik neigte dazu, nur gewisse Identitäten anzuerkennen, andere hingegen zu ignorieren oder gar herabzusetzen, etwa die europäische (das heißt weiße) Ethnizität, das Christentum, die Landbevölkerung, traditionelle Familienwerte und Ähnliches. Viele von Donald Trumps Anhängern aus der Arbeiterschaft haben das Gefühl, dass sie von den Eliten missachtet werden: Hollywood drehe Filme mit sympathischen weiblichen, schwarzen oder schwulen Charakteren, doch nur wenige Streifen seien Menschen wie ihnen gewidmet, und wenn, dann nur solche, in denen man sich über sie lustig mache.

Landbewohner, die das Rückgrat der populistischen Bewegungen nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in etlichen europäischen Ländern bilden, vermuten häufig, dass ihre traditionellen Werte durch die kosmopolitischen städtischen Oberschichten bedroht werden. Sie fühlen sich benachteiligt von einer säkularen Kultur, die den Islam oder das Judentum nicht kritisiere, das Christentum jedoch für einen Ausdruck von Bigotterie halte. Auch fürchten sie, dass die politische Korrektheit der Medien negative Auswirkungen auf ihre Sicherheit hat, etwa nach der Silvesternacht 2016, als die deutsche Presse tagelang nicht über alle Details der massenhaften sexuellen Übergriffe durch hauptsächlich muslimische Männer in Köln berichtete, um die Islamophobie nicht anzuheizen.

Die Gefahr rechter Identitätspolitik

Am gefährlichsten werden diese neuen rechten Identitäten, wenn sie mit der Rassenideologie verknüpft werden. Präsident Trump achtet darauf, sich nie offenkundig rassistisch zu äußern, aber er hat die Unterstützung von Individuen und Gruppen mit solchen Auffassungen gern akzeptiert. Als Kandidat vermied er es, den früheren Anführer des Ku-Klux-Klans David Duke zu kritisieren, auch machte er „beide Seiten“ für die Gewalttaten nach der Demonstration im August 2017 in Charlottesville verantwortlich, die unter dem Motto „Unite the Right“ stand. Er verbringt zudem viel Zeit damit, schwarze Sportler und Prominente gezielt anzugreifen. Die Frage, ob die Denkmäler für die Bürgerkriegshelden der Südstaaten entfernt werden sollen, zieht tiefe Gräben durchs Land – ein Konflikt, den sich Trump bereitwillig zunutze macht. Seit seinem Aufstieg ist der weiße Nationalismus von einer Randbewegung zu einer der Hauptströmungen der US-amerikanischen Politik geworden.

Seine Anhänger bemängeln, dass es politisch akzeptabel sei, wenn sich schwarze, homosexuelle und lateinamerikanische Wählergruppen formieren und so ihre spezifische Identität betonen. Sobald man jedoch das Adjektiv weiß zur Selbstidentifizierung benutze oder sich politisch zum Thema der „weißen Rechte“ äußere, werde man nach Ansicht der weißen Nationalisten unverzüglich als Rassist und Fanatiker abgestempelt.

Ähnliche Vorgänge spielen sich in anderen liberalen Demokratien ab. Der weiße Nationalismus hat eine lange Geschichte in Europa, wo man ihn als Faschismus kennt. Dieser wurde 1945 militärisch besiegt und wird seitdem niedergehalten. Allerdings haben sich manche Einschränkungen gelockert. Die Flüchtlingskrise hat in Osteuropa zu der panischen Angst geführt, dass muslimische Migranten das demografische Gleichgewicht der Region verschieben könnten. Im November 2017, am Jahrestag der polnischen Unabhängigkeit, marschierten 60 000 Menschen durch Warschau und skandierten: „Reines Polen, weißes Polen“ und „Flüchtlinge raus“. Die populistische Regierungspartei PiS distanzierte sich von den Demonstranten, sandte jedoch ähnlich wie Donald Trump widersprüchliche Signale, die nahelegten, dass sie die Forderungen der Demonstranten nicht völlig ablehnte.

Wie die Rechten linke Felder aufgreifen

Die Verfechter der linken Identitätspolitik würden argumentieren, dass die Identitätsbekundungen der Rechten illegitim seien und sich auf einer anderen moralischen Ebene bewegen würden als die von Minderheiten, Frauen und anderen benachteiligten Gruppen. Vielmehr würden sie die Standpunkte einer dominierenden Kultur reflektieren, die in Vergangenheit und Gegenwart als privilegiert gelten kann.

Diese Argumente treffen zu. Die Auffassung der Konservativen, dass Minderheiten, Frauen oder Flüchtlingen unfaire Vorteile gewährt wurden, ist stark überspitzt, ebenso wie das Empfinden, dass die politische Korrektheit überall Amok laufe. Die sozialen Medien tragen wesentlich zum Problem bei, da ein einziger Kommentar schnell repräsentativ für eine ganze Gruppe von Personen werden kann. Die Realität ist für viele Randgruppen jedoch unverändert: Afroamerikaner sind weiterhin Opfer der Polizeigewalt, und Frauen werden immer noch angegriffen und belästigt.

Bemerkenswert ist, in welchem Maße die Rechte die Sprache und Einordnung der Identität von der Linken übernommen hat: Ihre spezielle Gruppe werde ungerecht behandelt, die übrige Gesellschaft nehme ihre Situation und ihre Leiden nicht gebührend wahr, das gesamte soziale und politische Gefüge, das dafür verantwortlich sei (lies: die Medien und die Elite), müsse zertrümmert werden. Identitätspolitik ist die Linse, durch die man gesellschaftliche Probleme heute über das gesamte ideologische Spektrum hinweg betrachtet.

Gesellschaften müssen Minderheiten schützen

Liberale Demokratien haben gute Gründe dafür, sich nicht um eine Reihe unablässig wuchernder Identitätsgruppen zu organisieren, die für Außenstehende unzugänglich sind. Die Identitätspolitik entwickelt die Dynamik, immer wieder den gleichen Prozess anzukurbeln, da die verschiedenen Gruppen einander als bedrohlich betrachten. Im Unterschied zu Forderungen nach wirtschaftlichen Ressourcen sind Identitätsansprüche gewöhnlich unübertragbar, weil sie sich von Rasse, Ethnizität oder Gender ableiten: Das Recht auf gesellschaftliche Anerkennung beruht auf unveränderlichen biologischen Merkmalen und kann nicht gegen andere Güter eingetauscht werden.

Abweichend von der Überzeugung mancher Vertreter der Linken wie der Rechten sind nicht alle Identitäten biologisch vorherbestimmt. Zwar werden sie durch Erfahrung und Umwelt geformt, doch lassen sie sich sowohl straff als auch locker definieren. Die Tatsache, dass ich auf diese oder jene Weise geboren wurde, bedeutet nicht, dass ich auf diese oder jene Weise denken muss. Gesellschaften haben die Pflicht, Minderheiten zu schützen, aber sie müssen auch gemeinsame Ziele mithilfe von Abwägung und Konsens erreichen. Dieser Prozess wird bedroht, wenn sich Linke und Rechte immer stärker auf den Schutz immer enger gefasster Gruppenidentitäten konzentrieren. Die Lösung liegt nicht darin, die Idee der Identität aufzugeben, da sie einen wesentlichen Teil des Bildes ausmacht, das die Menschen von sich selbst und ihrer Gesellschaft haben. Vielmehr gilt es, größere, einheitlichere nationale Identitäten zu definieren, welche die Mannigfaltigkeit liberaler demokratischer Gesellschaften berücksichtigen.

Illustrationen: Sebastian König

Dies ist ein Artikel aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie ab am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.











 

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