Flüchtlingskrise - Das Boot ist nicht voll

Deutschland müsse sich gegen die Flüchtlinge abschotten, heißt es immer wieder. Notker Wolf, ehemaliger Abtprimas des Benediktinerordens, hält das für völlig falsch. In seinem neuen Buch erinnert er an christliche Werte und erklärt, was für eine erfolgreiche Integration nötig ist

Womit wir es zu tun haben, sind keine Flüchtlingswellen, sondern Menschen mit einzelnen Schicksalen / picture alliance
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Autoreninfo

Notker Wolf war von 2000 bis 2016 neunter Abtprimas der benediktinischen Konföderation.

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Die Szene könnte aus einem Blockbuster stammen: Ein paar Männer sitzen in einem Boot, zusammengekauert und eingeschüchtert. Völlig verängstigt starren sie auf die Wolken am Himmel, die sich drohend über ihnen zusammenziehen. Sie spüren, wie der Wind aufkommt, wie er immer stärker wird, wie er erst an ihren Haaren, dann an ihren Kleidern und schließlich am ganzen Boot zu zerren beginnt. Das Licht wird schwächer und schwächer, der Wellengang nimmt zu, die Wellen wachsen, werden höher, immer höher. In den Blicken wächst die Angst, und die Fragen werden drängender: Kann das gut gehen? Hätten wir vielleicht an Land bleiben sollen? Und, immer wieder: Sind wir zu viele im Boot?

Und dann, hollywoodreif, der Auftritt des Helden der Geschichte. Er hatte bislang nichts mitbekommen von dem Unwetter, hatte seelenruhig geschlafen. Irgendwann aber war er aufgewacht, vielleicht geweckt vom Wüten des Windes, vielleicht aber auch von den Angstschreien seiner Gefährten. Jetzt steht er auf und blickt seine Freunde an: Warum so ängstlich? Dann dreht er sich um, ohne etwas zu sagen, direkt in die Richtung, aus der der Sturm auf das Boot zurast. Ein kurzer Satz, und es wird still. Kein Wind, keine Wellen mehr, nur noch Stille. Und in die Stille hinein fragt der Held: Warum seid ihr solche Angsthasen?

Unpassende Begrifflichkeiten

Diese Szene ist filmreif, aber sie ist natürlich viel älter als die Erfindung des Kinos. Sie ist in verschiedenen Varianten in der Bibel zu finden, zum Beispiel im Markusevangelium. Und sie ist leicht auf unsere Zeit zu übertragen. Auch bei uns ist von Wellen die Rede, die mit voller Gewalt auf uns zurollen und unser Leben bedrohen. Genauer gesagt, von Flüchtlingswellen oder gar von einer Flüchtlingsflut. Ich empfinde diese Ausdrücke als völlig unpassend und unwürdig. Denn womit wir es zu tun haben, sind keine Wellen, sondern einzelne Menschen mit einzelnen Schicksalen. Und sie brechen nicht wie eine Flut über uns herein, die uns bedroht und gegen die wir schnellstens hohe Deiche bauen müssen, damit nur ja kein einziger armer Tropf zu uns herüberschwappt.

Wir Deutschen haben zum Glück keinen solchen Deich gebaut. Aber das auch bei uns immer wieder zu hörende Gerede von Wellen und Flut halte ich für gefährlich und lehne es ab. Genauso interessant ist das Motiv des Bootes. Keine dreißig Jahre ist es her, Anfang der neunziger Jahre, da warb die rechtsradikale Partei der Republikaner mit dem Slogan „Das Boot ist voll“. Die Plakate boten nichts anderes als eine Ansammlung von rassistischen Stereotypen und Klischees, und sie waren an Dummheit kaum zu überbieten. Seither sind die „Das Boot ist voll“-Warnungen nicht mehr verstummt. Im Gegenteil, gerade in Hinblick auf die Flüchtlingsschiffe, wenn man die baufälligen Kähne, mit denen die Verzweifelten das „Massengrab“ Mittelmeer zu überqueren suchen, so nennen kann, werden die raunenden und inzwischen oft auch offen polemisierenden Rufe wieder lauter.

Italien schafft es doch auch

Der Eindruck wird erweckt, Deutschland gleiche einer Arche Noah, die nichts anderes tue, als alle Welt so lange aufzunehmen, bis entweder kein Platz mehr für die eigene Mannschaft ist oder die überfüllte Arche sinkt. Die Gestrandeten werden deshalb nicht mit offenen Armen empfangen, sondern mit erhobenen Fäusten. Ihnen wird kein Dach über dem Kopf angeboten, sondern das Dach über dem Kopf angezündet. Denken diese Menschen, ob sie nun Brandreden schleudern oder Brandsätze, an die Strapazen, die andere auf ihrem Weg durch die Wüste durchgemacht haben, oft zusammengepfercht auf Lastwägen?

Ich wundere mich immer wieder, wie viele Flüchtlinge in Italien aufgenommen werden. 2016 kamen 180.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer, das waren 20 Prozent mehr als noch im Vorjahr. Seit 2014 kamen mehr als 500.000 Flüchtlinge, die meisten aus Nigeria, Eritrea oder auch der Elfenbeinküste. 2015 war von der EU versprochen worden, dass 40.000 Menschen aus Italien in andere Mitgliedstaaten gebracht werden könnten. Ende 2016 waren es nicht einmal 3000. Es stimmt, dass Deutschland 2015 deutlich und 2016 ein wenig mehr Menschen aufgenommen hat. Nur ist die deutsche Bevölkerung um fast ein Drittel größer als die italienische. Und noch wichtiger: Was ist mit den anderen Ländern? Werden wir, wird Italien im Stich gelassen – und müssen wir deshalb die Menschen, die sich retten wollen, im Stich lassen? Wieso scheint es Italien zu schaffen?

Vielleicht ist man dort einfach daran gewöhnt, vielleicht kennt man es schon seit jenen alten Zeiten, als die germanischen Horden im 6. und 7. Jahrhundert aus dem Norden in Italien einfielen. Selbst die Bajuwaren, die im 14. Jahrhundert unter ihrem Ludwig von Bayern Rom belagerten, wurden integriert. Ihre Nachkommen wohnen heute noch in Rocca di Papa. Die Italiener scheinen von einer unermesslichen Toleranz beseelt zu sein. Vielleicht ist das das eigentliche christliche Abendland, das ganz anders aussieht als dasjenige, auf das sich Pegida & Co. immer wieder gerne berufen. Doch ist es nicht nur Toleranz. Es ist der Respekt, den Italiener den Fremden gegenüber zeigen. Und Respekt erzeugt Gegenrespekt. Eines ist außerdem gewiss: Christlich ist der Gedanke der Abschottung nicht.

Integration gilt für beide Seiten

Zugegeben, es muss bei der Integration klare Grenzen geben. Aber eben keine Ländergrenzen, sondern Grenzen im Verhalten. Wer hierher kommt, muss unsere Grundwerte nicht nur akzeptieren, das reicht nicht aus. Er muss sie achten, und er muss auch dazu bereit sein, sie zu verteidigen. Integration ist mehr als eine bloße Duldung – und das gilt für beide Seiten. Denn würde es bei der Duldung allein bleiben, kämen wir zusammen nicht weiter. Für mich steht außer Frage, dass wir auch manchmal strenger sein müssen. Wir können nicht akzeptieren, dass sich jemand weigert, die deutsche Sprache zu erlernen. Genauso wenig können wir akzeptieren, dass ein Neuankömmling offen die Grundlagen der Gesellschaft, die ihn aufnimmt, in Frage stellt oder bekämpft. Solche Menschen auszuweisen, halte ich nicht für unbarmherzig, sondern für ein Gebot der Stunde.

Ich zum Beispiel habe als Deutscher in Italien gelebt, und ich habe mich dort immer als Deutscher gefühlt. Aber ich habe nicht nur die italienischen Gesetze geachtet, sondern auch versucht, mich in die Traditionen des Landes einzuleben. Zum Beispiel werden kirchliche Feste wie Heiligabend oder Ostern in Italien ganz anders begangen als bei uns. Das wirkte auf mich vor allem zu Beginn meiner Zeit in Italien manchmal etwas befremdlich, und ich muss offen sagen, dass bis heute ein Weihnachten, wie wir es bei mir zuhause feiern, immer noch mehr meine Sache ist. Und doch habe ich versucht, die Schönheiten dieser anderen Traditionen zu entdecken, mich auf das einzulassen, was den anderen wichtig ist. Das erwarte ich auch von allen, die zu uns kommen.

Gesellschaftliches Engagement ist wichtig

Und, was ich für mindestens ebenso wichtig halte: Jeder, egal, ob hier geboren oder nicht, egal, ob deutscher Staatsbürger oder Schutzsuchender, muss sich engagieren, muss seinen Beitrag dafür leisten, dass die Gemeinschaft, die ihn aufgenommen hat, auch funktioniert. Integration ist nicht allein die Aufgabe derer, die zu uns kommen, sondern auch und gerade eine Herausforderung für uns Deutsche.

Wozu mangelndes gesellschaftliches Engagement führen kann, lässt sich in Italien beobachten: Viele Italiener fühlen sich gar nicht als Italiener im eigentlichen Sinne, sondern eher als Norditaliener oder Süditaliener oder auch nur als Kalabresen, Piemontesen oder Römer. Die gemeinsame Sorge für das, was wir Gemeinwohl nennen, wird kleiner. Das Verantwortungsgefühl gegenüber dem Land Italien oder gar dem Staat schwindet zusehends; und manche behaupten sogar, dieses Verantwortungsgefühl war niemals oder kaum vorhanden. Nicht ohne Grund hat Massimo d’Azeglio, einer der Vordenker des „Risorgimento“, der Wiedererstehung Italiens im 19. Jahrhundert, bei der allerersten Sitzung des gesamtitalienischen Parlaments nach der Unabhängigkeit ausgerufen: „Wir haben Italien geschaffen, jetzt müssen wir Italiener schaffen!“ Und nicht wenige Italiener würden heute bezweifeln, dass das in den zwei Jahrhunderten danach gelungen ist. Das Engagement für das große Ganze, das für uns Deutsche gerade nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend gewesen ist, ist auch eine entscheidende Voraussetzung zur Integration, und zwar ein Engagement von allen Seiten. Und: Integration ist nie zu Ende, sie muss immer neu bewältigt werden, in jeder Generation.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Schluss mit der Angst – Deutschland schafft sich nicht ab“ von Notker Wolf und Simon Biallowons, 160 Seiten, erschienen im Herder Verlag, 16,99 Euro.

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