Zum Tod von Ennio Morricone - Mordsmusik

Ennio Morricone ist tot. Der legendäre Komponist, der die Musik zu Filmklassikern wie „Spiel mir das Lied vom Tod“ oder „Für eine Handvoll Dollar“ geschrieben hat, starb in der Nacht zum Montag in einem römischen Krankenhaus.

Ennio Morricone dirigiert während eines Konzerts seiner Tour „The 60 Years of Music“ in der Centennial Hall in Warschau / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Ein einsamer, runtergekommener Bahnhof irgendwo im staubigen Südwesten der USA. Ein alter, gebrechlicher Bahnhofswärter. Eine Indianerin. Drei brutale Gestalten in langen Staubmänteln. Der Anführer der drei Fremden sperrt den alten Mann in eine Kammer, die Indianerin flüchtet. Dann folgt die vielleicht intensivste, bedrückendste, mit Sicherheit aber brillanteste Eröffnungssequenz der Filmgeschichte: Fünf Minuten und 48 Sekunden herrscht absolute Stille. Man hört lediglich das Quietschen des Windrades, das Ticken des Telegraphen, eine Fliege, die der Anführer der Männer mit seinem Revolverlauf einfängt, das Knacken von Fingergelenken und Wassertropfen, die in einen Hut fallen. Plötzlich zerreißt das Pfeifen einer Lok die Stille, der Zug fährt ein, die Maschine schnaubt, ein Paket wird aus einem Wagen geschmissen, der Zug fährt wieder an, die Männer wenden sich schon ab, um zu ihren Pferden zurückzugehen.

Da, wie aus dem Nichts, erklingt eine Mundharmonikamelodie. Klagend, traurig und zugleich bedrohlich. Es sind nur fünf Töne. Aber in ihnen liegt das ganze Drama, das nun folgt. Aus diesen Tönen entwickelt sich eine Melodie und aus der Melodie ein ganzes Panoptikum weiterer Melodien. In dem nun sich abspielenden Drama um Rache, Mord, Geld, verlorene Träume und natürlich um Liebe ist jeder Figur ein eigenes Leitmotiv zugeordnet: dem namenlosen Mundharmonikaspieler, dem Mörder Frank, dem Banditen Cheyenne und natürlich der Prostituiertem Jill, gespielt von der sagenhaften Claudia Cardinale.

Eine Synthese aus Kamera, Schnitt und Melodie

In „Spiel mir das Lied vom Tod“ – im Original „Cer’a una volta il West“ – verschmelzen Musik, Bild und Handlung zu einer atemberaubenden Einheit. Regisseur Sergio Leone und seinem Leib und Magen Komponisten Ennio Morricone gelang mit dem 1968 entstandenen Meisterwerk eine Synthese von monumentalen Kameraeinstellungen, überwältigenden Schnitten und Melodien, die selbst dem abgebrühtesten Zuschauer das Innerste zusammenziehen. Allenfalls dem Duo Leone/Morricone selbst sind in den Jahrzehnten gemeinsamer Zusammenarbeit Sequenzen vergleichbarer Intensität gelungen – etwa in „The Good, the Bad and the Ugly" oder natürlich in „Once upon a Time in America“.

Die Zusammenarbeit von Leone und Morricone begann Anfang der 1960er Jahre, als der Regisseur einen Komponisten für seinen ersten Western „Per un pugno di dollari“ („Für eine Handvoll Dollar“) mit Clint Eastwood in der Hauptrolle suchte. Es war der Start für eine der kreativsten und innovativsten Kooperationen in der Filmgeschichte. Leone lieferte Bilder von einer Trostlosigkeit, Leere und gleichzeitigen Virtuosität, wie man es im Genrekino bis dahin nicht gesehen hatte. Und Morricone fand dazu eine Musiksprache von größer Eindringlichkeit. Dazu bediente er sich nicht nur einer opernhaften Leitmotiv-Dramaturgie, sondern auch einer ebenso extravaganten wie atmosphärischen Instrumentierung und musikalischer Bilder von unvergleichbarer Dichte.

Gemälde von überwältigender Kraft

Vor allem aber gelangen dem Gespann Leone/Morricone durch das Zusammenspiel von Rhythmus und Schnittfrequenz Gemälde von überwältigender Kraft. Man denke nur an das Schlussduell zwischen Frank und dem Namenlosen aus dem „Lied vom Tod“, der Schnitt-Gegenschnitt-Sequenz zu Beginn, dem Moment, als Franks Jacke punktgenau zum einsetzen des Orchesters in den Staub fällt. Zugleich war sich Morricone auch nie für die großen Cinemascope-Momente zu schade. Etwa wenn in der Schlusseinstellung die Sopranistin Edda Dell’Orso das Thema von Jill anstimmt und die Kamera sich versöhnlich über die Baustelle von Sweetwater hebt. Doch diese Szene ist von so großer Humanität, dass jede Kritik verblasst.

Insgesamt produzierten Leone und Morricone gemeinsam sechs Filme. Darüber hinaus arbeitete der Komponist mit vielen anderen großen Regisseuren seiner Zeit zusammen, etwa mit Bernardo Bertolucci, Pier Paolo Pasolini, mit Brian De Palma und Roman Polanski oder Wolfgang Petersen („In the Line of Fire“). Ohne Morricone wäre die Filmgeschichte sehr viel ärmer. Vor allem aber: In einer Zeit, in der sich die ernsthafte Musik in experimentelle Lautmalereien und akademische Klanginstallationen verlor, schuf er mit seinen Kompositionen eine zeitgemäße, moderne Symphonik, die nicht nur den Kopf anspricht, sondern Menschen in ihrem Inneren bewegt. Seine ausverkauften Farewell-Konzerte in der Spielzeit 2018/2019 zeugten davon. Heute ist Ennio Morricone, der Meister der großen Filmmelodien, im Alter von 91 Jahren verstorben.

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