Streit um Eugen Gomringer - Der Geist der Unfreiheit drängt auf die Fassaden

Ein Gedicht von Eugen Gomringer muss von der Wand der Berliner Alice-Salomon-Hochschule verschwinden. Dem Dichter wird vorgeworfen, sexuelle Belästigung zu verharmlosen. Eine solche Zensur dient aber nicht der Aufklärung, sondern dem Gegenteil: einer exklusiven Ignoranz

Fassade mit Gomringer-Gedicht: Niederlage der Kunst / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Bald schlägt die Stunde der Anstreicher. Wo jetzt noch ein Gedicht des Lyrikers Eugen Gomringer zu lesen ist, soll Farbe aus Kunst erst ein Nichts und dann eine andere Kunst machen, eine ganz gewiss vorbildlich geschlechtersensible, emanzipatorische, partizipative, komplett korrekte Kunst, Gedichtkunst aus Künstlerinnenhand. Die nun beschlossene Übermalung acht harmloser spanischer Zeilen an der Südfassade der staatlichen Berliner Alice-Salomon-Hochschule, wo sie seit 2011 prangen, markiert einen Sieg des Geschmackstotalitarismus‘ und des „Allgemeinen Studierendenausschusses“, eine Niederlage der Kunst, der Freiheit, der Toleranz. Künftig kann man in Kreuzworträtseln nach „Bildungsverlierern mit vier Buchstaben“ fragen. Die Antwort wird „Asta“ lauten.

Das Bauchgefühl triumphiert

Der Asta gewann eine Mehrheit im Akademischen Senat für ein Geschmacksempfinden, das da lautet: Das verbfreie Gedicht „avenidas“ über Alleen, Blumen, Frauen und einen „Bewunderer“ verursache „irgendwie (…) ein komisches Bauchgefühl. Und ein komisches Bauchgefühl im eigenen Haus – das ist doch nicht schön. (…) Wir haben der Hochschulleitung geschrieben und ihr gesagt, dass wir uns mit dem Gedicht unwohl fühlen – und dass wir gerne wissen wollen, warum es eigentlich da hängt und ob es nicht diskutiert werden könnte, an die Wand mal was Neues zu schreiben. (…) Wir reden über unangenehme Erfahrungen, die wir gemacht haben, genauer gesagt, über sexuelle Belästigung und patriarchale Strukturen.“ Mit Zensur oder gar Faschismus habe die Entfernung des Gedichts nichts zu tun; es handele sich bei der Übermalung um „gelebte Demokratie“: „Wir wollen eine einfache Wand neu streichen und haben diese Entscheidung in einem langen Prozess durch demokratisch gewählte Gremien erkämpft.“ Kurz gefasst: Das kämpfende Bauchgefühl hat sich sein Haus zurückerobert. Friede den Wänden, Krieg dem Gedicht!

Der Rektor der Hochschule, ein Mann mit Humor auch er, bindet die Debatte ab mit dem Bonmot, die Entfernung der Kunst sei „ein klares Bekenntnis zur Kunst“. Schließlich soll dann durch eine Tafel auf den einstigen Stein des Anstoßes verwiesen werden. Wenn das mal nicht Schule macht in schlingernder Zeit: Die Abwahl eines Politikers wäre dann ein klares Bekenntnis zu diesem Politiker, die Missachtung von Gesetzen ein klares Bekenntnis zur Rechtstreue, die Erhöhung von Steuern ein klares Bekenntnis zum schlanken Staat. Der Anwendung sind keine Grenzen gesetzt.

Exklusive Ignoranz

Eugen Gomringer, 93 Jahre alt, mit ebenso schweizerischen wie bolivianischen Wurzeln, ist eher zum Heulen als zum Lachen zumute. Es benennt den unfreundlichen Akt jener Hochschule, die ihn 2011 mit dem „Alice Salomon Poetik Preis“ auszeichnete, als das, was er ist, als einen „Eingriff in die Freiheit von Kunst und Poesie“ – wovor selbst hochbetagte Pioniere eines programmatisch antipopulistischen Genres wie der Konkreten Poesie in diesen Tagen nicht gefeit sind. Gomringers Erschütterung über den „unverständlichen und unverantwortlichen“ Vorgang sorgt beim Zensierten gewiss ebenfalls für ein „komisches Bauchgefühl“, doch den Letzten beißen bekanntlich die Hunde.

Fast schon hat man sich daran gewöhnt, dass staatliche Hochschulen, die einmal ganz zweckfrei, radikal vorurteilslos die Universalität des Wissens abbildeten, sich zu geschlossenen Vereinen mit Klubmoral entwickeln. Nun drängt der Geist der Unfreiheit aus den Aulen und Sälen hinaus auf die Wände und Fassaden. Die exklusive Ignoranz ist da, im Namen freilich ihres Gegenteils. Auch die Reaktion kennt ihre Dialektik.

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