Buchauszug - Europas seltsamer Untergang

Ein Kontinent verspielt seine Zukunft, weil er sein Erbe verwirft. Bestseller-Autor Douglas Murray beschreibt, wie die europäische Zivilisation durch Zuwanderung und Geschichtsblindheit zu Grabe getragen wird

Erschienen in Ausgabe
Europa: Untergang mit wehenden Fahnen? / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Douglas Murray, Jahrgang 1979, ist ein britischer Publizist und Autor. 2006 ver­öffentlichte er das Buch „Neoconservatism: Why We Need It“, in dem er für eine philosophisch grundierte, moderne Form des Neokonservatismus warb. Murray kommentiert das Zeitgeschehen u. a. für BBC, Al Dschasira und das Magazin The Spectator. Er ist stellvertretender Direktor des in London ansässigen Thinktanks The Henry Jackson Society

So erreichen Sie Douglas Murray:

Anzeige

Das Buch zur Stunde oder gefährliche Lektüre? Die Debatte um Douglas Murrays Bestseller „The strange death of Europe“ reißt seit dessen Veröffentlichung im Mai nicht ab. Der amerikanische Philosoph und Religionskritiker Sam Harris lobte es, ebenso taten es „Daily Telegraph“, „Sunday Times“, das niederländische „NRC Handelsblad“. Der „Guardian“ kritisierte Murrays „Unfähigkeit, jene Kultur zu definieren, die er gefährdet sieht“. Wir dokumentieren erstmals in deutscher Übersetzung von Anne Emmert die Einleitung des Buches. Es erscheint im März 2018 unter dem Titel „Der seltsame Tod Europas. Immigration, Identität, Islam“ im Münchner FinanzBuch-Verlag.

Europa ist im Begriff, Selbstmord zu begehen. Oder zumindest haben unsere Staatschefs den Selbstmord Europas beschlossen. Ob das europäische Volk da mitmacht, ist natürlich eine andere Frage.

Wenn ich sage, dass Europa gerade dabei ist, sich umzubringen, meine ich nicht, dass die Last der Regulierungen durch die Europäische Kommission erdrückend wäre oder dass die Europäische Menschenrechtskonvention die Bedürfnisse einer bestimmten Bevölkerungsgruppe nicht ausreichend bediente. Ich meine damit, dass die Zivilisation, die wir als Europa kennen, gerade Selbstmord begeht und dass weder Großbritannien noch ein anderes westeuropäisches Land diesem Schicksal entgehen kann, weil wir alle an denselben Symptomen und Krankheiten leiden. Wenn die meisten Menschen, die derzeit in Europa leben, an ihrem Lebensende stehen, wird daher Europa nicht mehr Europa sein, und die Völker Europas werden den einzigen Ort in der Welt, den wir unser Zuhause nennen konnten, verloren haben.

Europa kämpft nicht für sich

Ein Einwand mag lauten, dass im Lauf unserer Geschichte der Niedergang Europas immer und immer wieder angekündigt wird und Europa ohne diese regelmäßigen Vorhersagen unserer Sterblichkeit nicht Europa wäre. Dennoch waren einige dieser Prophezeiungen zeitlich besser angesetzt als andere. In „Die Welt von gestern“, 1942 posthum erschienen, schrieb Stefan Zweig in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg über seinen Kontinent: „Todgeweiht schien mir Europa durch seinen eigenen Wahn, Europa, unsere heilige Heimat, die Wiege und das Parthenon unserer abendländischen Zivilisation.“

Zumindest etwas Hoffnung schöpfte Zweig damals daraus, dass er in den Ländern Südamerikas, in die er geflohen war, Ablegern seiner eigenen Kultur begegnete. In Argentinien und Brasilien beobachtete er, dass eine Kultur von einem Land ins andere emigrieren und der Baum, der dieser Kultur Leben gab, sogar nach seinem Tod „neue Blüten, neue Frucht“ hervorbringen kann. Auch wenn sich Europa in diesem Moment vollständig selbst zerstört hätte, blieb Zweig der Trost: „Was Generationen vor uns und um uns geschaffen, es ging doch niemals ganz verloren.“

Vor allem wegen der von Zweig beschriebenen Katastrophe ist der Baum Europas heute schlussendlich doch verloren. Europa zeigt wenig Neigung, sich zu reproduzieren, für sich zu kämpfen oder sich auch nur in einer Auseinandersetzung zu behaupten. Die Mächtigen reden sich wohl ein, es machte nichts aus, wenn die Menschen und die Kultur Europas der Welt abhandenkämen. Einige haben recht offensichtlich beschlossen (wie Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Die Lösung“ 1953 schrieb), das Volk aufzulösen und sich ein anderes zu wählen, weil – so drückte es der frühere konservative Ministerpräsident von Schweden Fredrik Reinfeldt aus – „Barbarei“ aus Ländern wie seinem, von außen aber nur Gutes komme.

Identitätsverlust durch Massenmigration

Es gibt nicht die eine Ursache für das derzeitige Gebrechen. Die aus der jüdisch-christlichen Tradition, der Kultur der Griechen und Römer und den Entdeckungen der Aufklärung hervorgegangene Zivilisation geht nicht an Kleinigkeiten zugrunde. Der letzte Akt ergibt sich vielmehr aus der Verknüpfung zweier gleichzeitig ablaufender Prozesse, von denen sich diese Zivilisation nun wohl nicht mehr erholen kann.

Der erste Prozess ist die Massenmigration nach Europa. In allen westeuropäischen Ländern setzte sie nach dem Zweiten Weltkrieg ein, weil Arbeitskräftemangel herrschte. Bald wurde Europa abhängig von Migration und hätte den Strom nicht mehr aufhalten können, auch wenn es das gewollt hätte. So wurde das einstige Europa – die Heimat der europäischen Völker – nach und nach zur Heimat für die gesamte Welt. Orte, die europäisch gewesen waren, wurden nach und nach neu verortet. Orte, in denen pakistanische Einwanderer vorherrschten, ähnelten in allem außer ihrem Standort Pakistan, denn die Neuankömmlinge und ihre Kinder aßen die Gerichte ihres Ursprungslands, sprachen die Sprache ihres Ursprungslands und praktizierten die Religion ihres Ursprungslands. Straßen in kalten regnerischen nordeuropäischen Städten füllten sich mit Menschen, die für das pakistanische Bergland oder arabische Sandstürme gekleidet waren. „Das Imperium schlägt zurück“, stellten Beobachter mit kaum verhülltem Hohn fest. Doch während die Imperien Europas aus der Bahn gerieten, waren diese neuen Kolonien offenbar auf Dauer angelegt.

Die ganze Zeit redeten sich die Europäer ein, das könnte gut gehen. So wurde beharrlich erklärt, solche Zuwanderung sei normal. Oder wenn Integration in der ersten Generation nicht stattfinde, gelinge sie den Kindern, Enkeln oder einer späteren Generation. Oder es spiele keine Rolle, ob sich die Menschen integrierten oder nicht. Die ganze Zeit taten wir die viel wahrscheinlichere Möglichkeit ab, dass es nicht gut gehen würde. Das ist eine Schlussfolgerung, die sich durch die Migrationskrise der letzten Jahre verstärkt hat.

Die existenzielle Zivilisationsmüdigkeit

Das bringt mich zum zweiten Prozess. Denn auch durch die Massenmigration von Millionen von Menschen würde unserem Kontinent nicht das letzte Glöcklein schlagen, hätte Europa (zufällig oder nicht) nicht gleichzeitig das Vertrauen in seine Überzeugungen, Traditionen und Legitimität verloren. Unzählige Faktoren haben zu dieser Entwicklung beigetragen, doch einer von ihnen ist, dass die Westeuropäer das, wie es der spanische Philosoph Miguel de Unamuno nannte, „tragische Lebensgefühl“ eingebüßt haben. Sie haben vergessen, was Zweig und seine Generation so schmerzhaft erfahren mussten: dass alles, was man liebt, auch die größten und kultiviertesten Zivilisationen der Geschichte, von Menschen hinweggefegt werden können, die ihrer nicht würdig sind. Dieses tragische Lebensgefühl kann man einfach ignorieren, oder man kann es auch mit dem festen Glauben an die Woge des menschlichen Fortschritts verdrängen. Das ist derzeit die beliebteste Taktik.

Trotzdem verfolgen uns ständig selbst fabrizierte schreckliche Selbstzweifel, denen wir mitunter völlig verfallen. Mehr als auf jedem anderen Kontinent und in jeder anderen Kultur in der heutigen Welt lastet auf Europa die Schuld der Vergangenheit. Neben dieser extrovertierten Spielart des Selbstzweifels gibt es auch eine introvertierte Variante des Schuldbewusstseins. Denn Europa leidet zudem unter einer existenziellen Müdigkeit und dem Gefühl, dass für Europa die Geschichte womöglich zu Ende erzählt ist und eine neue beginnen muss. Eine Version dieser neuen Erzählung ist die Masseneinwanderung – der Ersatz großer Teile der europäischen Bevölkerung durch andere. Veränderung, so dachten wir wohl, sei ebenso gut wie Stillstand. Eine solche existenzielle Zivilisationsmüdigkeit ist kein spezifisch europäisches Phänomen unserer Zeit, doch dass einer Gesellschaft genau in dem Moment die Kraft ausgeht, in dem der Einzug einer neuen Gesellschaft beginnt, muss gewaltige, ja epochale Umwälzungen nach sich ziehen.

Geistiger Reichtum dank Offenheit

Wäre eine Diskussion darüber möglich gewesen, hätte man vielleicht eine Lösung finden können. Doch nicht einmal 2015, auf dem Gipfel der Migrationskrise, konnte man alles sagen und denken. Auf dem Höhepunkt der Krise im September 2015 wollte die deutsche Kanzlerin Merkel vom Facebook-Chef Mark Zuckerberg offenbar wissen, wie man europäische Bürger daran hindern könne, auf Facebook Kritik an ihrer Migrationspolitik zu äußern. Ob er die Situation verbessern wolle? Dabei wären Kritik, Reflexion und Diskussion dringend nötig gewesen. Im Rückblick ist bemerkenswert, wie stark wir die Debatte einschränkten und gleichzeitig unsere Heimat der Welt öffneten.

Vor 1000 Jahren vermischten sich die Menschen von Genua und Florenz nicht so stark wie heute, doch mittlerweile sind alle erkennbar Italiener, und ethnische Unterschiede haben sich mit der Zeit eher abgeschwächt als verstärkt. Heute vermuten wir, dass in einigen Jahren Menschen aus Eritrea und Afghanistan innerhalb Europas miteinander verschmolzen sind wie die heutigen Genueser und Florentiner in Italien. Die Eritreer und Af­ghanen mögen eine andere Hautfarbe haben, ihre ethnische Herkunft mag weiter entfernt sein, doch Europa werde Europa bleiben, und die Menschen werden sich im Geiste Voltaires und Paulus’, Dantes, Goethes und Bachs weiter vermischen.

Wie manch gängiger Irrglaube hat auch dieser durchaus etwas für sich. Europa hat sich seit jeher verändert, und – das zeigen Handelsstädte wie Venedig – eine große und ungewöhnliche Offenheit für Ideen und Einflüsse von außen an den Tag gelegt. Seit den alten Griechen und Römern schicken die Völker Europas Schiffe aufs Meer, damit sie die Welt erforschen und berichten, was sie vorgefunden haben. Selten, wenn überhaupt, erwiderte der Rest der Welt diese Neugier, aber trotzdem stachen Schiffe in See und kehrten mit Geschichten und Entdeckungen zurück, die mit Europa verschmolzen. Die Aufgeschlossenheit war außerordentlich, jedoch nicht grenzenlos.

Die Grenzen der Kultur

Die Frage nach den Grenzen der Kultur wird von Anthropologen unablässig diskutiert und lässt sich nicht abschließend beantworten. Doch es gab Grenzen. Europa war beispielsweise nie ein Kontinent des Islam. Dennoch herrscht in Europa das tiefe Bewusstsein, dass sich unsere Kultur ständig, fast unmerklich verändert. Die Philosophen im alten Griechenland wussten um diese Schwierigkeit und fassten sie in das berühmt gewordene Paradoxon vom Schiff des Theseus. Wie Plutarch berichtet, bewahrten die Athener das Schiff, mit dem Theseus einst gesegelt war, auf und tauschten moderndes Holz des Schiffes gegen neues aus. Aber war es, als es keines der Materialien mehr enthielt, mit denen Theseus einst gesegelt war, noch das Schiff des Theseus?

Wir wissen, dass die Griechen heute nicht dasselbe Volk sind wie im alten Griechenland. Wir wissen, dass die Engländer heute nicht dieselben sind wie vor einem Jahrtausend und die Franzosen nicht dieselben Franzosen. Und dennoch sind sie erkennbar griechisch, englisch und französisch, und alle sind Europäer. In diesen und anderen Identitäten erkennen wir eine kulturelle Nachfolge: eine Tradition, die sich in bestimmten Qualitäten (positiven wie negativen), Gebräuchen und Verhaltensweisen bewahrt. Wir begreifen, dass die großen Migrationsbewegungen der Normannen, Franken und Gallier enorme Umwälzungen mit sich brachten. Und wir wissen aus der Geschichte, dass einige Wanderungen die Kultur langfristig relativ wenig beeinflussen, während andere sie irreversibel verändern können. Probleme entstehen nicht aus der Akzeptanz der Veränderungen, sondern daraus, dass mit diesen Veränderungen, wenn sie zu schnell erfolgen oder zu viel anderes mit sich bringen, auch aus uns etwas anderes wird – etwas, das wir vielleicht nie sein wollten.

Welches sind europäische Werte?

Gleichzeitig fragen wir uns ratlos, wie das funktionieren soll. Zwar sind wir uns generell darüber einig, dass ein einzelner Mensch unabhängig von seiner Hautfarbe eine bestimmte Kultur übernehmen kann (das rechte Maß an Begeisterung aufseiten dieses Menschen und der Kultur vorausgesetzt), doch wissen wir auch, dass wir Europäer nicht nach Belieben etwas anderes werden können. Wir können beispielsweise keine Inder oder Chinesen werden. Und dennoch sollen wir glauben, dass Menschen aus aller Welt nach Europa übersiedeln und Europäer werden können. Wenn sich Europäer nicht über ihre Hautfarbe definieren – und das tun sie hoffentlich nicht –, dann ist es umso wichtiger, dass sie sich über Werte definieren. Deshalb ist die Frage „Welches sind europäische Werte?“ so wichtig. Doch auch das ist eine Diskussion, über die große Verwirrung herrscht.

Sind wir beispielsweise Christen? In den 2000er-Jahren spitzte sich diese Frage im Streit über den Wortlaut der neuen EU-Verfassung zu, in der jeder Hinweis auf das christliche Erbe des Kontinents fehlte. Papst Johannes Paul II. und sein Nachfolger versuchten das zu korrigieren. Johannes Paul schrieb 2003: „Ich respektiere völlig die säkulare Ausrichtung der Institutionen, doch möchte ich einmal mehr an diejenigen appellieren, die den künftigen europäischen Verfassungsvertrag aufsetzen, dass er einen Hinweis auf das religiöse und besonders das christliche Erbe Europas enthalten sollte.“

Religion und Säkularisierung

Die Debatte spaltete Europa nicht nur geografisch und politisch, sondern machte auch eindrücklich klar, worauf Europa eigentlich aus war. Denn in Westeuropa war die Religion auf dem Rückzug, und an ihre Stelle trat der Wunsch zu beweisen, dass Europa im 21. Jahrhundert ein eigenständiges Gefüge aus Rechten, Gesetzen und Institutionen besaß und dass dieses Gefüge auch ohne die Quelle bestehen konnte, die es einst mit Leben erfüllt hatte. Wie Kants Taube fragten wir uns, ob wir im „luftleeren Raum“ ohne Strömungswiderstand vielleicht schneller fliegen könnten. Vom Erfolg dieses Traumes hing viel ab.
An die Stelle der Religion trat die sich stetig aufblähende Sprache der „Menschenrechte“ (ihrerseits christlichen Ursprungs). Ungelöst ließen wir die Frage, ob die gewonnenen Rechte von Glaubenssätzen abhängig waren, die der Kontinent nicht mehr vertrat, oder ob sie von sich aus existierten. Das war, gelinde gesagt, eine Frage, die zu wichtig war, als dass man sie hätte ungelöst lassen können, während von großen neuen Bevölkerungsgruppen erwartet wurde, dass sie sich „integrieren“.

Eine gleichermaßen wichtige Diskussion entzündete sich etwa um dieselbe Zeit um Stellung und Zweck des Nationalstaats. Vom Westfälischen Frieden im Jahr 1648 bis Ende des 20. Jahrhunderts galt der Nationalstaat in Europa generell als der beste Garant für eine verfassungsmäßige Ordnung und liberale Rechte und überdies als der wichtigste Garant für den Frieden. Doch auch diese Gewissheit löste sich auf. Ein bedeutender Europäer wie Helmut Kohl betonte 1996: „Der Nationalstaat [...] kann die großen Probleme des 21. Jahrhunderts nicht lösen.“ Die Auflösung der Nationalstaaten Europas in einer großen integrierten politischen Union sei, so Kohl, gar eine „Frage von Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert“. Andere teilten seine Ansicht nicht, und 20 Jahre später demonstrierte knapp über die Hälfte der Briten an der Wahlurne, dass Kohls Argument sie nicht überzeugte. Aber auch hier: Egal, wie man zu dieser Frage steht, war sie einfach zu wichtig, als dass man sie in einer Zeit gewaltiger Bevölkerungsumwälzungen hätte ungelöst lassen dürfen.

Den Europäern geht die einheitsstiftende Idee ab

Obwohl wir uns unserer selbst im Innern unsicher waren, unternahmen wir noch mehrere Versuche, unsere Werte nach außen zu tragen. Doch immer, wenn sich unsere Regierungen und Armeen für diese „Menschenrechte“ einsetzten – Irak 2003, Libyen 2011 –, machten wir alles nur noch schlimmer und setzten uns ins Unrecht. Als der syrische Bürgerkrieg ausbrach, wurde der Ruf laut, die westlichen Nationen sollten eingreifen im Namen der Menschenrechte, die dort zweifellos verletzt wurden. Aber der Wunsch, diese Menschenrechte zu schützen, war dahin. Ob wir nun im Innern noch daran glaubten oder nicht, wir hatten jedenfalls das Vertrauen verloren, sie im Ausland verteidigen zu können.

Irgendwann sah es so aus, als könnte das „letzte Utopia“ – das erste Universalsystem, in dem die Rechte der Menschen unabhängig waren vom Einfluss der Götter oder Tyrannen – womöglich das Scheitern europäischer Hoffnungen einschließen. Wenn das stimmt, geht den Europäern im 21. Jahrhundert die einheitsstiftende Idee ab, mit der es gelingen könnte, die Gegenwart zu ordnen und sich der Zukunft zu stellen.

Das Abhandenkommen einheitsstiftender Geschichten über die Vergangenheit oder zündender Ideen, was wir mit unserer Gegenwart und Zukunft anfangen sollen, wäre zu jedem Zeitpunkt ein ernstes Problem. Doch in einer Zeit massiver gesellschaftlicher Umwälzungen und Umbrüche sind die Folgen fatal. Die Welt kommt genau in dem Moment nach Europa, in dem Europa aus den Augen verloren hat, was es ist. Wenn Millionen von Menschen aus anderen Kulturen auf eine starke und selbstbewusste Kultur getroffen wären, hätte das womöglich gut gehen können, doch im Falle einer Migration von Millionen von Menschen in eine schuldgeplagte, ermattete und sterbende Kultur ist das anders. Noch immer reden die europäischen Staatschefs von verstärkten Anstrengungen, die Millionen von Neuankömmlingen einzugliedern.

„Respekt“ und „Toleranz“ statt Ethik und Überzeugungen

Auch diese Anstrengungen werden scheitern. Will man eine möglichst große und vielfältige Zahl von Menschen eingliedern, muss die Inklusion auch möglichst breit und unbedenklich definiert sein. Wenn Europa zur Heimat der Welt werden will, muss es zu einer Definition seiner selbst gelangen, die breit genug ist für die ganze Welt. Bevor dieses Bestreben ermüdet, werden daher unsere Werte so weit gefasst sein, dass sie bedeutungslos und oberflächlich geworden sind.

Während die europäische Identität in der Vergangenheit auf sehr spezifische und auch philosophisch und historisch tief reichende Grundlagen zurückging (Rechtsstaatlichkeit, die aus Geschichte und Philosophie des Kontinents abgeleitete Ethik), drehen sich heute Ethik und Überzeugungen Europas – ja Identität und Ideologie Europas – um „Respekt“, „Toleranz“ und (mehr Selbstverleugnung geht nicht) um „Vielfalt“. Solche dürftigen Selbstdefinitionen mögen uns ein paar Jahre über Wasser halten, können aber keinesfalls das tiefe Zugehörigkeitsgefühl heraufbeschwören, das eine Gesellschaft zum Überleben braucht.

Das ist nur einer der Gründe, warum unsere europäische Kultur, die all die Jahrhunderte überdauert und gemeinsam mit der Welt so viel Wunderbares hervorgebracht hat, nicht überleben wird. Wie die jüngsten Wahlen in Österreich und der Aufstieg der Alternative für Deutschland zu beweisen scheinen, wird sich die kulturelle Erosion wahrscheinlich immer weiter fortsetzen, während jegliche Verteidigung der Kultur inakzeptabel bleibt. Stefan Zweig erkannte den Wahn, er erkannte, dass die Wiege und der Parthenon der westlichen Zivilisation das Todesurteil über sich selbst gesprochen hatten. Nur im Zeitpunkt irrte er sich. Es dauerte noch viele Jahrzehnte bis zur Vollstreckung dieses Todesurteils – durch uns an uns. Heute, in den Jahren dazwischen, wollen wir nicht weiter die Heimat der europäischen Völker sein, sondern ein Utopia werden, allerdings im griechischen Sinne des Wortes: ein „Nichtort“. Dieses Buch schildert diesen Prozess.

Kreuz und quer durch Europa

Die Recherche und Arbeit an diesem Buch haben mich kreuz und quer durch einen Kontinent geführt, den ich schon seit Jahren ausgiebig bereise, häufig aber in Gegenden, die ich andernfalls nicht aufgesucht hätte. Über mehrere Jahre verteilt besuchte ich die griechischen Inseln im äußersten Südosten und die Vorposten Italiens im äußersten Süden, das Herz Schwedens im Norden und zahllose Vorstädte in Frankreich, in Holland, in Deutschland und anderswo. Während der Arbeit hatte ich Gelegenheit, mit vielen Bürgerinnen und Bürgern zu sprechen, mit Politikern und Entscheidungsträgern aus dem gesamten politischen Spektrum, mit Grenzbeamten, Geheimdienstlern, Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisationen und mit vielen anderen an vorderster Front.

Am Aufschlussreichsten waren meine Gespräche mit den Neuankömmlingen in Europa – Menschen, die zum Teil buchstäblich erst am Tag zuvor angekommen waren. Auf den Aufnahmeinseln Südeuropas und überall dort, wo sie auf ihrem Weg nach Norden Station machen oder bleiben, haben alle eine Geschichte zu erzählen, manche eine Tragödie zu tragen. Alle sehen in Europa den Ort, an dem sie ihr Leben am besten leben können.

Der Kreis meiner Gesprächspartner ergab sich naturgemäß daraus, wer bereit war, mit mir zu reden und mir seine Geschichte zu erzählen. Manchmal, wenn ich abends vor einem Lager stand, sah ich Menschen kommen und gehen, die unserem Kontinent – gelinde gesagt – nicht gerade mit Großmut und Dankbarkeit begegneten. Viele andere aber waren ausnehmend freundlich und dankbar für die Gelegenheit, ihre Geschichte weiterzugeben.

Unabhängig davon, wie ich die Situation, die sie hierher führte, und die Reaktion unseres Kontinents beurteile, endeten die Gespräche meinerseits stets mit den einzigen Worten, die ich ehrlich und vorbehaltlos aussprechen konnte: „Viel Glück.“

Dies ist ein Artikel aus der November-Ausgabe des Cicero, die sind in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

 

 

Anzeige