50 Jahre Tatort - „Es ist alles zu korrekt“

Heute wird der Tatort 50 Jahre alt. Axel Milberg, seit 2003 bekannt als Kieler Kommissar Borowski, über mangelnden Mut im deutschen Staatsfernsehen, den Tatort als Sucht und sein persönliches „Bonanza“-Gefühl. Ein Gespräch aus einem Cicero-Titel von 2012.

Axel Milberg als Kommissar Borowski, hier im Mai 2020 / dpa
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Herr Milberg, ich erhoffe mir von diesem Gespräch Heilung, mindestens Aufschluss. Ich tue es jeden Sonntagabend mit meiner Frau, danach sind wir meistens enttäuscht und tun es trotzdem am nächsten Sonntag wieder, freuen uns schon ab Samstag darauf. Was ist da los bei uns?
Dann sind Sie also einer von denen.

Ja, ich gestehe lieber gleich zu Anfang, es hilft ja nichts. Was passiert da?
Das müssen Sie mir beantworten. Sie müssen Ihre Krankheit nicht nur benennen, sondern auch sagen, wie es dazu kam. Wo haben Sie sich angesteckt? Nehmen Sie etwas ein?

Keine Medikamente, nein. Angesteckt? Keine Ahnung. Ich habe inzwischen andere mit angesteckt. Meine Frau beispielsweise, die sich jahrelang gesträubt hat, ist auch infiziert.
Suchen Sie vielleicht Halt? Halt im Taumel der verrinnenden Zeit. Ich schlage doch der vergehenden Zeit ein Schnippchen, indem ich mir Konstanten in meinem Leben erhalte, und dazu gehören das Ritual X und die Übung Y. Oder eben der Tatort am Sonntagabend. Man will nicht wahrhaben, dass das Wochenende zu Ende geht. Am Sonntagmittag haben wir das Gefühl, es sei schon Montag.

Aber das würde ja bedeuten, es ist mehr der Sendeplatz als das Format Tatort, das Millionen vor den Fernseher holt.
Es ist vor allem die Regelmäßigkeit. Als ich ein kleiner Junge war, gab es einen Pflichttermin die Woche: Mittwoch, 18:15 Uhr, Bonanza auf dem Sofa meiner Großmutter. Meine Eltern hatten keinen Fernseher. Ich schaute in eine fremde Welt hinein, wie durch ein umgedrehtes Fernglas auf etwas, das ganz weit weg ist – Amerika! Immer scheint die Sonne, die Guten hier, die Bösen da, Pferde, ein Vater mit drei Söhnen. Meine Großmutter mochte den Hoss besonders gern, aber auch Little Joe, in den war sie verknallt, und dazu der vernünftige Adam – alle längst tot. Bonanza, das war ein Ritual. So wie heute der Tatort.

Wir hatten eine norwegische Gasttochter für ein Jahr, 18 Jahre alt, die hat erst gefremdelt mit dem sehr deutschen Spargel und ihn dann geliebt. Und sie hat von Anfang an gefremdelt mit dem Tatort und bis zum Ende nicht verstanden, warum wir da jeden Sonntag sitzen. Ist der Tatort vielleicht zu deutsch für eine Norwegerin?
Oder zu diffus, zu verschieden. Ich finde die qualitativ auch sehr unterschiedlich – denken Sie mal an Hamburg, da hat man versucht, das moderner zu erzählen mit Mehmet Kurtulus. Oder der Kieler Tatort, den wir nach Finnland verkauft haben, der war extravagant, den wollten die Finnen haben. Wir müssten mehr wagen. Ich habe Wolfgang Petersen, der in den siebziger Jahren in Kiel gedreht hat, neulich gefragt, ob er sich vorstellen kann, dort erneut zu drehen. Mir war natürlich vollkommen klar, er ist in Hollywood, hat Etats von 120 Millionen Dollar. War mir aber wurscht.

Und was hat er gesagt?
Er hat nachgedacht, er hat mich lange angeschaut, gelächelt, er hat gesagt, sein Sohn, der in Hamburg lebt, habe schon mal versucht, ein Buch für den Kiel-Tatort unterzubringen. Wurde abgelehnt. Aber, wenn er so darüber nachdenke, nein, er glaubt doch eher nicht, nein.

Petersen hat schon Tatorte gemacht.
Ja, drei oder vier mit Kommissar Finke, gespielt vom herrlichen Klaus Schwarzkopf. Ich habe ihm vorgeschlagen: Stell dir vor, aus einer deiner Folgen kommt ein Mörder nach 30 Jahren erfolgreich therapiert frei, und der taucht bei mir jetzt wieder auf. Da wäre so viel an Brückenschlag denkbar gewesen, von damals zu heute! Aber Wolfi wollte leider nicht.

Schauen Sie die alten Tatorte an?
Ja, klar. Das macht mir richtig Spaß. Durch diesen zeitlichen Abstand lernt man viel über die Bundesrepublik und Sozialgeschichte – Koteletten, Hosen mit Schlag, wie die Menschen gesprochen haben, ihre soziale Struktur. Auch, wie man sich damals beschimpft hat: „Gib die Knarre her!“ – „Du bist ein Ganove!“ Niedlich. Heute sagen wir doch: „Fick dich doch, du Wichser“ oder irgend so was. Und damals gab es noch Moneten oder die Spritze, ja, statt Pistole haben sie Spritze gesagt und sind sich unglaublich frivol dabei vorgekommen. Und das macht dann Spaß, das wieder anzugucken.

Wobei der Tatort der Realität doch hinterherhinkt.
In Deutschland war das Wort Scheiße schon zehn Jahre länger salonfähig, bis es Schimanski das erste Mal im Tatort in den Mund nahm. Ja, es ist alles immer noch viel zu korrekt. Wir dürfen heute im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, oder wie Thomas Platt sagen würde: im Staatsfernsehen, nicht mehr rauchen, und wir müssen auch immer angeschnallt sein. Vier Typen qualmend in einer DS, und dann die Verfolgungsjagd ohne Gurt wie in einem Film Noir – undenkbar im deutschen Staatsfernsehen!

Ist der Tatort politisch?
Wenn er will, schon. Er kann dann Anregungen und auch Verstörung in die Gesellschaft tragen. Primär ist aber, dass man spannende Unterhaltung macht.

Das heißt, politische Themen, wenn sie denn vorkommen, sind Vehikel, ein dramaturgisches Mittel und kein Impetus?
Wir klammern aktuelle politische Themen nicht aus, wenn wir uns davon eine gute Geschichte versprechen. Aber wenn ein korrupter Minister in einem Tatort verhaftet wird oder ein Mörder ist, ist es ein korrupter Minister, der einen Mord begangen hat, aber deswegen sind nicht alle Minister Schweine. Wenn ein Angler ein Mörder ist, dann sind nicht die Angler gemeine Mörder. Was auch so öde ist in Deutschland: Wenn es politisch wird, ist es meistens gleich auch pädagogisch und erzieherisch. Dass wir es mal hinkriegen und das voneinander lösen, diese siamesischen Zwillinge – politisch ist gleich auch erzieherisch –, das wäre geil. Aber das geht offenbar nur anderswo.

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Welches im weiteren Sinne politische Thema hätten Sie gerne mal im Tatort?
Zum Beispiel Massentierhaltung. Ich finde es ganz schwierig, mir vorzustellen, dass um Mitternacht, wenn wir alle nicht auf den Straßen sind, Kolonnen von LKWs Schweine, Rinder und Kälber durch die Gegend zur Massenschlachtung fahren, die ein erbärmliches Leben gelebt haben. Da liegt doch ein Fehler im System, und dahinter steckt eine ganz fiese Fleischlobby – und Verbraucher, die im Ernst glauben, man könne ein Hähnchen artgerecht halten und dann für 7,99 Euro an der Pommesbude verkaufen. Als ich in irgendeiner Zeitschrift las, dass an der deutsch-holländischen Grenze ein Toter gefunden worden war, der Folterspuren trug, und man die Fleischlobby dahinter vermutete, da dachte ich: Hey, das ist doch ein Tatort-Stoff! Aber die Resonanz auf meine Idee war, na ja, verhalten. Genauso wie bei Kinderpornografie, ein furchtbares Milliardengeschäft mit Tatort-Potenzial. Also, es gibt schon ein paar Sachen, die man ruhig machen könnte.

Warum ist eigentlich der primär politische Raum so Tatort-frei? Keine Morde im Kanzleramt.
Da sind die Morde so perfekt, dass man sie nicht nachweisen kann. Nein, manche Themen kommen einfach nicht an. Dazu gehören Geschichten aus der Politik, aber auch zum Beispiel Geschichten, die in Schauspielerkreisen spielen. Ich wollte mal einen Stoff entwickeln lassen, wo ich einen Schauspieler spiele, der nicht besonders gut im Geschäft ist und sich so durchschlägt. Keine Chance.

Man munkelt, dass Sie demnächst einen sehr politischen Tatort zeigen werden.
Pst, unter uns: Man hat Haare gefunden auf Barschels Strickjacke, auf den Socken und auf der Hose. Was will ich damit sagen: Im übernächsten Borowski, der im Oktober ausgestrahlt wird, wenn sich Barschels Tod zum 25. Mal jährt, da gibt es eine Geschichte, in der dieser Todesfall vorkommt. Mehr kann, will, darf, soll ich darüber nicht sagen. Aber so viel schon.

Dann eine unverfänglichere Frage: Wo ist diese unglaublich hässliche hellbraune Karre her? Und wie lange wollen Sie diesen alten Passat eigentlich noch fahren als Kommissar?
Den erschieße ich in der nächsten Folge.

Im Ernst?
Ja, als mein Dienstwagen mal wieder stehen bleibt, auf freiem Acker. Wie im Western. Aber der Braune hat sich gewehrt. Mir ist in der Szene ein Rußpartikel aus der präparierten Patrone ins Auge gekommen, weil der Regisseur ein echtes Mündungsfeuer haben wollte. Ich hatte sofort einen stechenden Schmerz, habe aber, wie man das so macht als Schauspieler, zu Ende gespielt – bis: „Cut! Danke!“ Und dann sah ich mich im Spiegel, und das ganze Weiße des Auges war knallrot. Dann ging’s sofort ins Krankenhaus.

Das Interview führte Christoph Schwennicke im Jahr 2012.

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