Erinnern mit der Digitalisierung - „ Was nicht umkopiert wird, geht verloren “

Alles wird gespeichert, aber nichts wird mehr erinnert. Die Friedenspreisträgerin Aleida Assmann über das Dilemma des Hinfortspeicherns im digitalen Zeitalter und die Frage nach der Zukunft der Erinnerungskultur.

Wie erinnern wir uns mit diesem enormen Datenchaos? / Stephan Sahm
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Aleida Assmann zählt zu den renommiertesten Kulturwissenschaftlerinnen Europas. International bekannt wurde sie für ihre Forschung zum kulturellen Gedächtnis, mit der sie zeigen konnte, dass die Art, wie eine Gesellschaft ihre Geschichte erinnert, in hohem Maße die Einrichtung des Sozialen beeinflusst. Die Mutter von fünf Kindern war von Anfang an eine aktive Beobachterin des digitalen Wandels.

Frau Assmann, als Wissenschaftlerin wechselten Sie einst von der Schreibmaschine zum Rechner. Wie war das? 

Aleida Assmann: Ich habe meine Doktorarbeit auf einer Schreibmaschine geschrieben, die Habilitation dann auf einem Mac. Sie können sich nicht vorstellen, was das für eine Befreiung war: Plötzlich sah alles so sauber aus und war zudem noch beliebig veränderbar! Schreiben ist eine Sache der Bewegung, und eine Schreibmaschine ist dabei ein ziemlicher Klotz am Bein. 

Haben Sie damals die neue Technologie sofort auch wissenschaftlich reflektiert?

Mein Mann, Jan Assmann, und ich begannen in den achtziger Jahren gerade, das „kulturelle Gedächtnis“ und damit zusammenhängend Medienwandel in Kulturen zu untersuchen: Was bedeutet es, wenn eine ausschließlich mündlich kommunizierende Gesellschaft plötzlich die Schrift einführt? Und was passiert, wenn nicht nur einige Spezialisten schreiben können, sondern wenn Schrift plötzlich in die Reichweite von allen kommt? 

… und in diese Forschung brach also wie bestellt eine neue Medienrevolution?

Genau, das Digitale als eine Schrift, die nicht mehr nur Sprache codiert, sondern auch Bilder und Töne aufzeichnen konnte. Diese Entwicklung brachte einen ganz neuen Begriff hervor: den der Information oder der Daten. 

War Ihnen die Reichweite dieser Revolution denn damals schon bewusst?

Sicher nicht. Aber es herrschten doch das Bewusstsein eines irreversiblen Wandels und ein großes Interesse daran, diese Entwicklung intellektuell zu begleiten.

In welcher akademischen Atmosphäre konnten Sie diese medialen Umwälzungen sofort als Impulse in Ihre Forschung aufnehmen? 

Mein akademisches Schlüsselerlebnis hieß Dubrovnik. Mitte der achtziger Jahre luden die Größen der Geisteswissenschaften dorthin ein, um die eigenen Fächer neu zu vermessen. Drei Generationen trafen sich dann jeweils: Doktoranden, aufstrebende Stars verschiedener Disziplinen, auch ein paar Gurus wie Niklas Luhmann oder Paul Watzlawick. An die 80 Leute, die eine Woche lang ein erregtes Dauergespräch führten, das von Platon bis zu den Grundlagen dessen führte, was wir heute Medienwissenschaft nennen. Diese Wochen hatten rauschhaften Charakter, so etwas gab es an keiner Universität. 

Das klingt paradiesisch.

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Für mich war es genau das: Diese Erfahrung fiel in meine zwölfjährige Familienzeit. Der Kontakt zur Uni war abgebrochen, sogar meinen Schlüssel hatte ich nach der Promotion abgeben müssen. Vor Ort in Dubrovnik habe ich mich als „wissenschaftliche Hausfrau“ vorgestellt. Die Kolloquien gaben mir mehr Antrieb, als die verpassten Jahre an der Uni es je hätten tun können.

In Ihrem Lebenswerk, der Erforschung der Erinnerungskultur, haben Sie aber nicht erst seit der Digitalisierung die Frage der Speichermedien im Blick. Früher waren es Stein, Papyrus, Tierhaut, auf denen Erinnerungen festgehalten wurden, die Gruppen als kollektives Gedächtnis dienten. Erlebt die Erinnerung im Zuge des Internets lediglich einen quantitativen Unterschied oder auch einen qualitativen Sprung? 

Beides. Sie hat einen quantitativen Schub erfahren, weil jetzt so viel mehr aufgezeichnet wird. Und es ist zugleich ein qualitativer Sprung, weil jetzt alle Formen der Aufzeichnung zusammenfließen: Sprache, Bild, Film und Musik. Alles, was wir mit dem digitalen Code anfassen, verwandelt sich automatisch in Daten. So können wir gar nicht anders, als permanent Daten zu produzieren. 

Welchen Unterschied bedeutet diese ununterbrochene Datenproduktion für uns und unser Erinnern?

All diese völlig unsinnlichen Daten können nicht mehr von Menschen, sondern nur noch von Maschinen gelesen werden. Außerdem wissen wir inzwischen, wie schnell die Träger dieser Daten veralten, weil die Maschinen, die sie lesen sollen, ständig erneuert werden. All das hat zu einer Selbstvertreibung des Menschen aus der Infosphäre geführt. Wir sind angewiesen auf beziehungsweise ausgeliefert an Vermittler, die uns helfen, mit dieser Welt, die wir selbst geschaffen haben, umzugehen. Das sind die Algorithmen. 

Kann man in dieser Situation überhaupt Kulturwissenschaftlerin sein, ohne täglich Twitter, Instagram und Co. zu nutzen?

Ich bekomme am Tag etwa 40 E-Mails, da ist es eine Überlebensreaktion, den medialen Horizont etwas einzuschränken.

Und dennoch spielt sich ein prägender Teil des Zeitgeschehens heute online ab. Man denke etwa an #Metoo, Black Lives Matter, den sogenannten Arabischen Frühling oder zuletzt die Präsidentschaftswahlen in den USA.

Tatsächlich müsste ich eine Art Ethnografie der Gegenwart in sämtlichen Medien betreiben, um das Zeitgeschehen angemessen im Blick zu behalten. Da eine Person allein das unmöglich schafft, verlasse ich mich auf zahlreiche Vermittler. Was ich hingegen tun kann, ist, das Internet als Verschlagwortung der Gegenwart zu durchforsten. Man kann heute einen Wikipedia-Artikel über gestern lesen. 

Die Menschheit hat im Laufe der Jahrtausende verschiedenste Techniken entwickelt, um sich zu einem generationenübergreifenden Gedächtnis zu verhelfen: Feiertage, Denkmäler, Bibliotheken, Museen. Nun speichern wir heute aber mehr als jemals zuvor. Kann all das digitale Material in Zukunft noch sinnvoll erinnert werden?

Das Internet hat das Speichern nicht erfunden. Bereits die Technologie der Schrift hat die Grenze dessen bei Weitem überschritten, was sich ein menschliches Gedächtnis noch aneignen kann. Das ist also kein neues, sondern ein altes Problem. Heute speichern wir aber so viel, dass wir es uns nicht mehr ohne Weiteres erinnernd aneignen können. Kulturelles Wissen hat sich derart vermehrt, dass kulturelles Erinnern nicht mehr hinterherkommt. 

Betreiben wir also in Wahrheit ein stetiges Hinfortspeichern?

Es gibt kein Erinnern ohne Vergessen und kein kulturelles Gedächtnis ohne Auswahl. Man kann diesen Zusammenhang anschaulich im Museum erkennen: Dort gibt es kuratierte Ausstellungen, die öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Unten im Keller lagern dagegen Artefakte, die womöglich nie gezeigt werden. Das kulturelle Gedächtnis dreht sich also um zwei Pole: Es gibt den Kanon als enge Auswahl der derzeit als bedeutend angesehenen Werke und Ereignisse. Und es gibt das sehr viel umfangreichere Archiv, in dem alle Dokumente schlummern, die in der Gegenwart nicht erinnert werden.

Diese in Archiven gespeicherten Dinge sind aber nicht für immer vergessen. Sie können jederzeit wiedererinnert werden. Etwa wenn eine Gesellschaft beginnt, sich für unrühmliche Episoden ihrer Vergangenheit zu interessieren.

Die Bedeutung des Archivs kann gar nicht überschätzt werden. Aus diesem passiven Fundus kann immer wieder eine neue Erfahrung aktiviert oder eine andere Weltsicht ans Licht gehoben werden. Das Erste, was in einem autoritären Staat passiert, ist der Verschluss der Archive. Denn sie sind es, die den Erfahrungs-, Wissens- und Denkraum einer Gesellschaft über die Gegenwart hinaus in die Vergangenheit und Zukunft erweitern.

Kamen aus diesem passiven Fundus auch die Impulse zur Wandlung des Kanons? Dass inzwischen mehr Frauenstimmen und Zeugnisse von Menschen außerhalb der westlichen Welt in ihn aufgenommen werden?

Ganz genau: Der Kulturkampf um den Kanon, der um das Jahr 2000 einsetzte, war nicht der Abschied vom westlichen Kanon, aber von seiner Dominanz. Die Alleinherrschaft der weißen Männer ist gebrochen, die Teilhabe an Kultur ist weiblicher und globaler, die Stimmen und Perspektiven sind vielfältiger geworden. 

Ist diese Entwicklung heute nicht gerade auch von Debatten im Netz beeinflusst, wo ausgefochten wird, was endlich kanonisch werden sollte?

Definitiv sind die Subkulturen hier entscheidend. Vieles von dem, was im Kanon gelandet ist, war einst Sub- oder Gegenkultur. Bereits der Impuls, die sogenannte Vulgärsprache gegen das Latein der Kirche auszuspielen, war in Europa das Ergebnis eines Bottom-up-Prozesses. Derzeit gibt es eine große Community rund um Computerspiele. In Bälde steht uns bevor, dass sich der bürgerliche Kulturbegriff mit diesem Phänomen anfreundet und Computerspiele in den Kanon aufnimmt. 

Auch weil Computerspiele bereits relevant für die Erinnerungsarbeit einer Gesellschaft werden?

Es gibt mittlerweile Computerspiele, um Geschichte zu vermitteln. In Through the Darkest Times erlebt man den Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive einer antifaschistischen Widerstandsgruppe. Man kämpft also gemeinsam auf der „richtigen Seite“. Gleichzeitig lernt man aber, wie heterogen diese Gruppe in Wahrheit ist und wie wichtig es ist, Gemeinsamkeiten zu finden und politische Gräben zu überwinden, wenn es um die Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte geht.

Auch durch das Sterben der letzten Holocaust-Zeitzeuginnen und -zeugen erlebt unsere Erinnerungsarbeit hier einen Umbruch.

Technisch betrachtet ist die Situation vergleichbar mit dem 4. Jahrhundert. Damals mussten alle Schriften aufgrund begrenzter Haltbarkeit des Trägermaterials von Papyrus auf Pergament, also Tierhaut, übertragen werden. Was nicht umkopiert wird, geht verloren.

Nun gibt es in Museen interaktive Hologramme von Holocaust-Überlebenden. Digitale Kopien ihrer selbst. Wie sehen Sie solche Bemühungen? 

Der wichtigste Schritt im kulturellen Gedächtnis ist, Dinge aus einer Technik in die nächste hinüber­zuretten. Etwa VHS-Bänder in digitale Medien. Das Ziel ist, ein interaktives Holocaust-Zeugnis auch für zukünftige Generationen zu erhalten, das einen Ersatz für den lebendigen Austausch zwischen Holocaust-Überlebenden in Schulklassen ermöglichen soll. 

Haben Sie das schon einmal erleben können?

Ich habe Anita Lasker-Wallfisch im Technikmuseum in Berlin erleben dürfen. Sie ist 1925 geboren. Es bedeutete eine ungeheure Anstrengung für sie, für die Aufzeichnung in London vor zwei Jahren über 1.000 Fragen vor einer grünen Wand zu beantworten. Mein persönlicher Testlauf dann im Technikmuseum hat gezeigt, dass sie selbst sehr ungewöhnliche Fragen, die ich mir für ihre technische Reproduktion ausgedacht habe, lebendig und sogar sehr ausführlich beantwortet hat. Für mich hat sie das Experiment bestanden. Was dort geleistet wurde, ist großartig, und es wird eine Wirkung haben. Leider ist es aber nur eine geringe Anzahl an Zeitzeugen, die in dieser Weise in eine dauerhafte Zeitzeugenschaft übergehen. 

Werden wir zur Erinnerung von sozialen Bewegungen und gesellschaftlichen Errungenschaften künftig aufwendige archäologische Ausgrabungen im Internet unternehmen müssen?

Ganz gewiss. Der Digitalphilosoph Luciano Floridi hat einmal gesagt: „Die Hälfte aller Daten, die aktuell gespeichert sind, ist Müll. Wir wissen nur nicht, welche Hälfte.“ Hier hat niemand mehr den Überblick. Kann sich das Internet selbst archivieren? Das bleibt für mich eine offene Frage. 

Braucht es neue Techniken, um diese ungeheuren anwachsenden Datenmengen für die kulturelle Erinnerung nutzbar zu erhalten? 

Wir haben die Algorithmen, um die wachsenden Datenmassen zu durchforsten. Leider gibt es bei technischen Innovationen aber oft eine Tendenz, das Neue gegen das Bestehende auszuspielen. Wir sollten uns dagegen auf eine Interaktion zwischen online und offline einstellen. An dieser Verknüpfung müssen wir noch arbeiten, um der Vertreibung des Menschen aus der Infosphäre etwas entgegenzusetzen. Die relevanten Fragen an die Daten können eben nur von Menschen erdacht werden, die können wir nicht an die Algorithmen outsourcen. 

Während diese Lösung noch nicht existiert, sammeln sich aber immer schneller immer größere Datenmengen von erinnerungswürdigen Geschehnissen an. Etwa die Handyvideos der Feuer im Flüchtlingslager Moria. Anders als etwa die Tötung George Floyds werden diese ungeordnet hochgeladenen Daten womöglich in einigen Jahren nicht mehr erinnert werden, obwohl sie eine zentrale Wegmarke im europäischen Umgang mit Migration und Menschenrechten dokumentieren. 

Darum bedarf es schon heute der Menschen, die genau diese Fragen stellen! Damit Ereignisse, die nicht im Fenster globaler Aufmerksamkeit erscheinen, wahrgenommen, bewertet, geteilt und wenn möglich mit einem Namen und einer Geschichte verbunden werden. Dann haben sie nämlich eine größere Chance, in ein Gedächtnis der Zukunft einzugehen. Eigentlich ist jeder ein potenzieller Zeitzeuge und Gatekeeper. Heute können wir mitentscheiden, was Menschen morgen noch erreicht.

Die Fragen stellte Selmar Schülein.

Dieser Text stammt aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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