Empathie-Debatte - "Mitleid ist mit Egoismus durchsetzt"

Von keinem Geringeren als Oscar Wilde stammt eine Erkenntnis von 1891, wonach Mitleid das Übel der Welt sogar schlimmer machen kann. Sein Essay wirkt erstaunlich aktuell, als habe er ihn zur heutigen Empathie-Debatte geschrieben

Demonstranten bei einer Trauerkundgebung für eine zwangsgeräumte Rentnerin im Jahr 2016 / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Karl Kraus, sonst nicht für überschwängliches Lob bekannt, nannte Oscar Wildes Essay über den „Sozialismus und die Seele des Menschen“ von 1891 „das Tiefste, Adeligste und Schönste“ und „das wahre Evangelium modernen Denkens“. In der Tat hält der Text, im Kern ein Plädoyer für einen libertären Sozialismus, einige Erkenntnisse bereit, die sich lesen, als seien sie im Lichte des politischen Debatte im Hier und Heute aufgeschrieben.

Jüngst hatte Alexander Kissler an dieser Stelle über Empathie in der Politik geschrieben. Bei Wilde heißt Empathie noch Mitleid und Mitgefühl. Die Passagen verstören möglicherweise, gerade im jenem Geisteslager, dem sich Wilde zugehörig fühlte. Aber ohne verstörende Disruption gibt es keinen Erkenntnisgewinn: 

Die Gefühle des Menschen bäumen sich schneller auf als sein Verstand, und (...) Mitgefühl und Liebe zu Leidenden ist bequemer als Liebe zum Denken. Daher machen sie sich mit bewundernswertem, obschon falschgerichtetem Eifer sehr ernsthaft und sehr gefühlvoll an die Arbeit, die Übel, die sie sehen, zu kurieren. Aber ihre Mittel heilen diese Krankheit nicht: sie verlängern sie nur. Ihre Heilmittel sind geradezu ein Stück der Krankheit.

Sie suchen etwa das Problem der Armut dadurch zu lösen, daß sie den Armen am Leben halten; oder – das Bestreben einer sehr vorgeschrittenen Richtung – dadurch, daß sie für seine Unterhaltung sorgen.

Aber das ist keine Lösung: das Übel wird schlimmer dadurch. Das eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesellschaft auf einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht. Und die altruistischen Tugenden haben tatsächlich die Erreichung dieses Ziels verhindert. Gerade wie die schlimmsten Sklavenhalter die waren, die ihre Sklaven gut behandelten und so verhinderten, daß die Gräßlichkeit der Einrichtung sich denen aufdrängte, die unter ihr litten, und von denen gewahrt wurde, die Zuschauer waren, so sind in den Zuständen unserer Gegenwart die Menschen die verderblichsten, die am meisten Gutes tun wollen; und wir haben es schließlich erlebt, daß Männer, die das Problem wirklich studiert haben und das Leben kennen – gebildete Männer, die im Londoner Eastend leben – auftreten und die Gemeinschaft anflehen, ihre altruistischen Gefühle und ihr Mitleid, ihre Wohltätigkeit und dergleichen einschränken zu wollen. Das tun sie mit der Begründung, daß solches Wohltun herabwürdigt und entsittlicht. Sie haben völlig recht. Mitleid schafft eine große Zahl Sünden.

(...)

Wenn der Mensch den Individualismus verwirklicht hat, wird er auch das Mitgefühl verwirklichen und es frei und ungehemmt walten lassen. Bis jetzt hat der Mensch das Mitgefühl überhaupt kaum geübt. Er hat bloss Mitgefühl mit Leiden, und das ist nicht die höchste Form des Mitgefühls. Jedes Mitgefühl ist schön, aber Mitleid ist die niedrigste Form. Es ist mit Egoismus durchsetzt. Es kann leicht krankhaft werden. Es liegt in ihm ein gewisses Element der Angst um unsere eigene Sicherheit. Wir fürchten, wir selbst könnten so werden, wie der Aussätzige oder der Blinde, und es kümmerte sich dann niemand um uns. Es ist auch seltsam beschränkt. Man sollte mit der Ganzheit des Lebens mitfühlen, nicht bloss mit den Wunden und Krankheiten des Lebens, sondern mit der Freude und Schönheit und Kraft und Gesundheit und Freiheit des Lebens. Je umfassender das Mitgefühl ist, um so schwerer ist es natürlich. Es erfordert mehr Uneigennützigkeit. Jeder kann die Leiden eines Freundes mitfühlen, aber es erfordert eine sehr vornehme Natur – es erfordert eben die Natur eines wahren Individualisten – den Erfolg eines Freundes mitzufühlen. In dem Gedränge der Konkurrenz und dem Ellbogenkampf unserer Zeit ist solches Mitgefühl natürlich selten und wird auch sehr erstickt durch das unmoralische Ideal der Gleichförmigkeit des Typus und der Fügsamkeit unter die Regel, das überall so sehr vorherrscht und vielleicht am schädlichsten in England ist.

Mitleid wird es natürlich immer geben. Es ist einer der ersten Instinkte des Menschen. Die Tiere, die individuell sind, das heisst die höheren Tiere, haben es wie wir. Aber man muss sich vergegenwärtigen, dass – während die Mitfreude die Summe der Freude, die es in der Welt gibt, erhöht – das Mitleid die Menge des Leidens nicht wirklich vermindert.

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