EM 2021 - Fußball, das beste Bier der Welt

Finden alle Spiele statt? Fliegt der Weltmeister in der Vorrunde raus? Und welche Rolle spielt eigentlich Thomas Müller dabei? Wir wissen es nicht sicher. Der etwas andere Kommentar zur Fußball-Europameisterschaft.

Thomas Müller, 2014, am Flughafen in München, als Weltmeister / dpa
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Holger Schmieder arbeitet als Datenanalyst und Marketingmanager in Berlin.

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Es gibt viele Gründe, die heute startende Fußball-EM nicht zu verfolgen. Hier zehn:

1. Das 0:6 gegen Spanien am 17.11.2020. Zugegeben, eine deutsche Perspektive.

2. Virgil van Dijk, Sergio Ramos, Ansu Fati, Trent Alexander-Arnold und Zlatan Ibrahimovic sind nur fünf von vielen Exoten, die man gern gesehen hätte, oder?

3. Die sich in Küchenpsychologie ergießenden Reporterfragen an Spieler, die ihrerseits küchenpsychologiekonforme Antworten geben, ja geben müssen. Gelegentliche Augendreher, Tiefdurchatmer, Abwinker oder mertesackersche Ausbrüche (WM-Referenz) verraten uns, was wir von den Statements der Spieler halten dürfen. Mein Tipp: Pfeifen Sie drauf – stellen Sie nach Abpfiff ab.

4. Er sei nur stellvertretend genannt: Bruno Fernandes ist in dieser Saison in bislang mehr als 65 Spielen aufgelaufen. Er hat gut 5.200 Minuten Spielzeit in seinen Knochen. Was darf man von einem Spieler mit dieser Belastung erwarten, bei einer Endrunde, die aufgrund ihrer „Leistungsdichte“ als das härteste aller professionellen Fußball-Turniere gilt?

5. Die Dutzend Kameras für ein einziges Spiel, und doch hat man den Eindruck, dass Fußballspiele in einer nicht dem Spielgeschehen, sondern den Werbebanden huldigenden Vogelperspektive übertragen werden. Kann das sein: Je mehr Kameras, desto weniger Tiefe? Jedenfalls hilft es nicht, eine Torszene 23-mal in Nahaufnahme zu wiederholen. Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Dieses Turnier ist die 18. Fußball-EM und -WM, die ich verfolge, und ich frage mich: Warum verkaufen UEFA und Lizenznehmer nicht einfach Nicht-Werbung?

6. Diese EM wird sich im Dauer-Absagemodus befinden. Es wird positive Corona-Fälle geben. Wir werden PCR-Testergebnisse abwarten. Und doch wird weitergespielt werden. Wir werden uns bei Jubeltrauben unweigerlich fragen: Was passiert nun, wenn einer der Spieler positiv ist? Die Aussicht betrübt. Man schaut als Fußball-Fan auch deshalb fern, um andere Fans feiern und fluchen zu sehen. Stattdessen werden wir nun die Wahrnehmung von Massenaufläufen erst neu lernen, den Schatten Coronas sei Dank.

7. Dass man ständig lesen wird „UEFA EURO 2020“, wobei wir doch wissen, wie es richtig lauten müsste. Die offiziellen Begründungen, weshalb es beim Namen blieb, sind UEFA-Neusprech, ein Hohn, auf einem Niveau mit den Ticketpreisen. Kann man sich über seinen 61. Geburtstag nicht sogar etwas mehr freuen als über seinen 60.? Das Festhalten an Jubiläen – ein Anachronismus des Glückwunschkartenzeitalters.

8. Der Ausschluss der Spielorte Bilbao und Dublin.

9. Premier-League-artige Anstoßzeiten um 21 oder auch 22 Uhr, damit selbst Fußballzungenschnalzer wie die Begegnung Ukraine gegen Nordmazedonien (17. Juni), deren Zusammenhang mit dem Titelgewinn bei einer Fußball-EM nur auf dem Papier besteht, vermarktet werden – zumal dieser Etikettenschwindel zu Lasten der Gesundheit der Spieler geht. Ob Partien wie Schottland gegen Tschechien oder Finnland gegen Russland wohl bei der Deutschen Telekom auf die Magenta TV Neu-Abos einzahlen werden?

Keine Frage, alle Teams, die teilnehmen, haben sich auf sportlichem Weg qualifiziert. Ebenso außer Frage steht, dass die EM für die UEFA das wichtigste Turnier auf Nationalmannschaftsebene darstellt; nur beginnt die eigentliche EM erst im Achtelfinale, gut zwei Wochen nach Turnierbeginn. Die Lösung: Man steige als Zuschauer erst am 26.06. ein – und hat, wenngleich weniger Spiele, mehr (von der) EM.

10. Sagen Ihnen xG, npxG, xA, TklW, Succ%, PrgDist, PPDA, OPPDA, ODC oder xPTS etwas? Falls nicht, keine Sorge: Sie haben ein paar überspannte Fußball-Statistiken verpasst. Ist es nicht skurril, dass man versucht, ein Fußballspiel (vorab) auszurechnen, aber von Fußballspielen das genaue Gegenteil erwartet, nämlich überrascht zu werden und mal 90 Minuten lang nicht wissen, was genau als nächstes passiert?

Fußball-Statistiken deskriptiver Art – eine interessante Sache, Fußballerquartette sind nichts anderes. Wer jedoch meint, mit immer technischeren Zahlenkonglomeraten eine Vorhersehbarkeit herstellen zu können, spielt nicht zuletzt Wett- und Fantasy-League-Anbietern sowie computergenerierten Pausenfüllern während EM-Übertragungen in die Hände. Haben Sie mal probiert, eine sogenannte „Rudelbildung” zwischen Fußballspielern statistisch darzustellen? Findet diese Spielunterbrechung statt, kann sie ein Spiel kippen. Damit ist wenig zur Bedeutung von Rudelbildungen und viel zum Wert vermeintlich hochauflösender Statistiken gesagt.

Werden Sie Euphorie

Und doch: Fußball bleibt das beste Bier der Welt. Diese Fußball-EM leitet über in eine Saison, in der sich nicht mehr 35er-Inzidienzwerten, sondern endlich 1:1-Situationen gewidmet werden darf. Ohne diese Mitte 2020 entstandenen, befremdenden Zweifel, ob sich die beiden Spieler beim Zweikampf nicht zu nahe gekommen sind, denn diese Frage ist das Gegenteil von Fußball. Holen wir uns über diesen wundervollen Sport ein weiteres Stück wundervolles Leben zurück.

Diese Fußball-EM wird zwar kein rauschendes Fest, nein, nicht nach diesem traurigen Fußballjahr. Sie wird ihre beklemmenden Momente haben, und vielleicht wird – hier wieder die Landesperspektive – die DFB-Elf in ein fürs Weiterkommen unbedeutendes Spiel 3 gegen Ungarn gehen, was zwischen München und Hamburg zu tagelangen, leider unüberhörbaren Abgesangsorgien führen wird.

Kümmern Sie sich nicht um die schlechte Laune anderer. Machen Sie es wie das offizielle Spielgerät „Uniforia”: Werden Sie Euphorie. Und lassen Sie mich dazu drei Gruppe-F-Scheinwerfer aufstellen. Und zwar für Cristiano Ronaldo, Thomas Müller und Kylian Mbappé. Jeder einzelne dieser Spieler bietet genug Gründe, sich zwischen 15. Juni und 23. Juni zumindest drei Vorrundenspiele anzuschauen.

Ausbau eigener Rekorde

Cristiano Ronaldos Vita steht für sich. Mir fehlen die Worte, seine sportliche Lebensleistung auszuschmücken. Was mich seit meinen ersten Fußballspielen in den Bann gezogen hat, waren Spieler, von denen man vorab wusste, dass sie mit jedem nächsten Spiel ihre eigenen Rekorde brechen. CR7 gehört dieser Spezies an.

Hier einige Duftmarken: Er wird voraussichtlich nicht nur erster Spieler, der bei einer EM fünfmal spielt, er wäre bei einem weiteren Tor – logisch! – auch erster Spieler, der fünf EMs in Folge getroffen hat. Er hätte mit einem weiteren Treffer – vielleicht gegen Frankreich? – außerdem Michel Platini überholt und würde dann mit jedem weiteren Torerfolg seinen eigenen Rekord ausbauen. Übrigens auch in den EM-Qualifikationsspielen hat wer am häufigsten getroffen? Genau.

Kein Spieler weist mehr Spiele auf, in denen er mindestens ein Tor erzielt. Gelingt ihm ein Elfmeter, führt er auch hier. Kein Spieler hat mehr EM-Einsätze hingelegt und niemand mehr Minuten gespielt. Er könnte als erster Spieler sein drittes EM-Finale erreichen. Gewinnt er eine weitere Partie, hat kein Fußballer mehr EM-Partien gewonnen. Diese im positiven Sinne Unmenschlichkeit mag der eigentliche Grund sein, weshalb weiterhin so viele Zuschauer mit ihm fremdeln. Falls Sie ihn nicht mögen – es dürfte ihm egal sein, und das ist gut so.

Trainierte Leichtigkeit

Zum unvergleichlichen Thomas Müller, den erfolgreichsten Fußballer, den Bayern bisher hervorgebracht hat, einen interessanten Fakt: Er hat noch nie ein Tor bei einer Fußball-EM geschossen. Eine Vorlage glückte ihm. Wissen Sie, wann und gegen wen? Am 21. Juni 2016 gegen Nordirland. Die Vorlage führte zum einzigen Tor im Spiel. Dabei hörte man 2012 von ihm: „Natürlich wehre ich mich nicht dagegen, als Offensivspieler auch Tore zu erzielen.”

Sodann spare ich mir einen Kommentar zur Reunion mit Herrn Bundestrainer Joachim Löw. Denn schon 2018 stellte Müller fest: „Ich habe noch keine Trainingsübung gesehen, die Leichtigkeit trainiert.” Auch sämtliche Versuche, seinen Spielstil zu beschreiben, werden dessen Genialität nicht gerecht, wenngleich der Ausdruck „Raumdeuter” bahnbrechend war.

Seine Schelmereien? 2013: „Du kannst nur wirklich humorvoll sein, wenn du mit dir selbst klarkommst.” Sein unermüdliches Gekreische auf dem Spielfeld? Gesang in meinen Ohren. Seine Schlitzohrigkeit bei Standardsituationen? Ein Quell der Vorfreude. Sein Ärger über Fehlpässe? Man leidet kurz mit ihm; und man steht auch wieder auf mit ihm. Ob ihn wohl sein Statement vom Juni 2012 noch immer antreibt? Damals ließ er verlauten: „Die drei größten Titel, die ein Fußballer gewinnen kann, sind Champions League, Europameisterschaft und Weltmeisterschaft.” Keinen Spieler würde ich lieber sehen im EM-Finale am 11. Juli. Leider spielt er dafür im falschen Team.

Visionäre Schnörkellosigkeit

Seine technische Brillianz, seine umwerfenden Sprints, sein kühler Kopf, sein alle und alles gewinnendes Lachen, seine zumeist richtigen Entscheidungen in Sekundenbruchteilen vor dem Tor, seine fast schon Beckenbauersche Selbstsicherheit, seine abenteuerliche Frühreife, seine Dribblings, seine Augen für die Mitspieler, seine Gabe zur Herstellung von Überzahlsituationen, seine Zinedine-Zidane-Kreativität, seine visionäre Schnörkellosigkeit, sein Anmut, seine Chancenverwertung, sein ihn beflügelnder Trophäenschrank, seinen Bock auf Wettbewerb und Titel, sein rechter Fuß, auch sein linker Fuß, sein Nichtgejammer, seine Unberechenbarkeit, seine Unbefangenheit, seine Unumstrittenheit selbst in Frankreich, sein Tor im WM-Finale 2018: das heißeste Eisen des Weltfußballs: Kiki ist der Spieler, den Sie in ihrem Team haben möchten.

Kylian Mbappé wird mit seinem Tempo, seiner Explosivität, seiner nicht zu toppenden Klasse im 1:1 und seinen nicht vorhersehbaren Laufwegen seine Gegenspieler vor fast unlösbare Aufgaben stellen. Mbappé spielt seinen eigenen Sport, ein bisschen so wie der 1958er-Pelé. Und selbst für den Fall, dass die lange Saison beim 22-Jährigen zum ein oder anderen Lauf weniger führen sollte, wird er Gegenspieler an sich binden und damit die Räume für Antoine Griezmann, Olivier Giroud oder Karim Benzema schaffen – einer der fähigeren Trainer des Turniers, Didier Deschamps, weiß mit der entsprechenden Belastungssteuerung bestens umzugehen.

Übrigens Bier ist nicht nötig, um Fußball zu ertragen. Umgekehrt trifft es zu. Vielleicht. Ich wünsche Ihnen so oder so viel Spaß bei dieser Fußball-EM.

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