Digitalisierung in Schulen - Das lügende Klassenzimmer

Noch ist der Digitalpakt nicht in trockenen Tüchern, doch schon wünschen sich angeblich 91 Prozent der Lehrer digitale Technologien als Unterrichtsmaterial. Ist in den Klassenzimmern plötzlich die digitale Euphorie ausgebrochen? Der Bildungsforscher Heiner Barz hat eine ganz andere Erklärung

Mathe auf dem Tablet? Noch hinken die Schulen der Digitalisierung meilenweit hinterher / picture alliance
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Prof. Dr. Heiner Barz ist Bildungsforscher und war zuletzt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf tätig. Seit 2023 ist er im Ruhestand. 

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Die närrischen Tage sind zwar eigentlich vorbei. Das hindert die ehemalige Duden-Redaktion, die jetzt unter dem neudeutschen Firmennamen LearnAttack firmiert, aber nicht daran, zu behaupten, dass vier von fünf Befragten einer aktuellen Umfrage das digitale Lernen begrüßen würden. Eine deutliche Mehrheit der Schüler, Lehrer und Eltern von Schulkindern in Deutschland würde in der Digitalisierung große Chancen für ein nachhaltiges und erfolgreiches Lernen sehen, so die Studie. Sogar 87 Prozent der Lehrer in Deutschland würden sich davon Chancen erhoffen. Und 91 Prozent der Lehrer wünschten sich eine Aufbereitung der Lehrmaterialien mit aktuellen, digitalen Technologien mit interaktiven Übungen und audiovisuellen Inhalten.

Wer die deutschen Schulen auch nur oberflächlich kennt, dem müssen angesichts derartig schwindelerregender Zustimmungswerte zur Digitalisierung Zweifel kommen. Kann das sein? Sind die kulturpessimistischen deutschen Lehrerinnen und Lehrer, die bisher in Sachen Internetnutzung und Smartphonegebrauch eine bestenfalls uninteressierte, oft aber dezidiert ablehnende Haltung an den Tag legten, auf einmal einer Gehirnwäsche unterzogen worden? Ist in deutschen Lehrerzimmern von heute auf morgen die Digital-Euphorie ausgebrochen?

Stimmungsmache 

Nein, die Antwort ist einfacher: Das beauftragte Institut mit dem schönen Namen YouGov bezieht sich ausschließlich auf Online-Befragungen einer Online-Community, für die eine gewisse Digitalisierungsaffinität sozusagen die Eintrittskarte darstellt. Man könnte das vielleicht vergleichen mit einer Umfrage unter Metzgerei-Kunden zum Thema Veganismus – um dann zu verkünden, dass eine große Mehrheit vegane Ernährung strikt ablehnt.

Das Perfide an derartigen Umfrage-Daten, die für bestimmte politische oder geschäftliche Zwecke instrumentalisiert werden, ist, dass der durchschnittliche Leser dieser Schlagzeilen solche Daten für repräsentativ hält. Und LearnAttack erhofft sich natürlich durch eine digitalisierungsfreundliche öffentliche Stimmung, dass seine Produkte sich an Endverbraucher – oder noch besser – an Schulministerien gut verkaufen lassen.

Digitalisierungsmüde Bildungsbeamte

Dass gerade YouGov mit seinen Umfrage-Prognosen schon öfter nachweislich ziemlich danebenlag, weiß kaum einer. Dabei hatte das ursprünglich aus Großbritannien stammende Institut YouGov bei der Abstimmung der Schotten zeitweise über einen Verbleib im Vereinigten Königreich eine deutliche Mehrheit PRO Abspaltung vorausgesagt. Gekommen ist es bekanntlich anders. Und bei der Brexit-Abstimmung hatte YouGov sogar noch nach Schließung der Wahllokale eine Mehrheit FÜR den Verbleib von Großbritannien in der EU ermittelt.

Während es allerdings bei diesen britischen Schicksalswahlen tatsächlich knapp zuging und wenige Prozentpunkte den Ausschlag gaben, darf man bei der aktuell behaupteten Digitalisierungs-Vorfreude in deutschen Lehrerzimmern und Elternhäusern von einer geradezu grob fahrlässigen Verkennung der Realitäten ausgehen. Denn außer ein paar Junglehrern oder ein paar technik-affinen älteren Kollegen, die sich im YouGov-Panel finden, dürfte die übergroße Mehrheit der deutschen Bildungsbeamten in Moodle (eine bekannte Lernplattform) und MOOCs (Massive Open Online Courses), in OER (Open Educational Resources) und Open Access-Tools vor allem eine Bedrohung und kein Zukunftsversprechen sehen.

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