Digitalisierung an Schulen - Wo keine Leser, da keine Bücher

Kolumne: Grauzone. Wie jedes Jahr auf der Frankfurter Buchmesse freut sich der klassische Buchhandel, dass es ihn noch gibt. In der Tat sind Online-Handel und E-Books weniger erfolgreich als befürchtet. Eine andere Gefahr wird dabei aber völlig aus dem Blick verloren

Durch den Digitalisierungswahn verlieren Schüler ihre Lesekompetenz und damit der Buchhandel seine zukünftigen Leser / picture alliance
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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es ist wieder einmal Buchmessen-Zeit. Und Buchmessen-Zeit ist seit einigen Jahren auch immer die Zeit des großen Mutmachens: Dass das mit der Digitalisierung doch nicht so schlimm kommen wird, dass der Bucheinzelhandel überlebt, dass das Kulturgut Buch aus als physischer Gegenstand eine Zukunft hat.

Und tatsächlich: Die ganz steilen Erwartungen – je nach Standpunkt als Utopie oder als Horrorszenario vorgetragen –, die noch vor fünf bis zehn Jahren die Diskussion beherrschten, haben sich deutlich relativiert. Die Menschen lesen immer noch Bücher aus Papier, es werden immer noch Verlage gegründet, und Buchläden gibt es auch noch.

85.000 Neuerscheinungen pro Jahr

Zudem kursieren durchaus tröstliche Zahlen: Über 200 neue Titel erscheinen in Deutschland – täglich. Das sind rund 85.000 Titel jedes Jahr. Nach wie vor ist der stationäre Buchhandel der wichtigste Vertriebsweg für Bücher. Knapp 50 Prozent aller Bücher werden in Deutschland in einer Buchhandlung gekauft. Auf den Internethandel fallen etwa 20 Prozent.

Der Online-Handel ging dabei vor allem zu Lasten der großen Buchhandelsketten und Warenhäuser. Zudem wurde die Mentalität der Leser von der IT-Branche falsch eingeschätzt: Ein mit Büchern aufgewachsener Mensch kauft nicht einfach nur Texte, sondern eben Bücher. Und die sind aus Papier. Auf das Lesegerät lädt man sich allenfalls Unterhaltungsliteratur aus dem Drehständer. Doch den anspruchsvollen Roman, das gehaltvolle Sachbuch wollen die meisten Leser dann doch physisch in Händen halten.

Texthäppchen in flockiger Happeningatmosphäre

Also alle Schwanengesänge auf die Lesekultur nur falscher Alarm der ewigen Kulturpessimisten? Mitnichten! Denn schaut man genauer hin, gibt es durchaus alarmierende Zeichen: Seit Jahren ist die Branche von Umsatzrückgängen geplagt. Viele Buchhändler können nur noch überleben, weil sie Postkarten, Kaffeetassen und Nippes aller Art verkaufen. Dennoch schließen weit mehr als 100 Geschäfte jedes Jahr.

Dem versucht man mit der Eventisierung des Literaturbetriebes entgegenzuarbeiten. Also blühen die Literaturfestivals, Lesenächte und was es sonst noch Schönes gibt. Dort wird dann das Kulturgut Buch beschworen, tatsächlich aber dem Zeitgeist geopfert. Statt allein und im stillen Dialog mit dem Autor ein Buch durchzulesen, konsumiert man lieber Texthäppchen in flockiger Happeningatmosphäre. Bezeichnenderweise führen diese Showveranstaltungen nicht zu höheren Verkaufszahlen. Der Buchverkauf bei Lesungen geht seit Jahren rapide zurück. 

Der Traum vom digitalen Klassenzimmer

Doch die eigentliche Gefahr droht dem Buch als Kulturgut von ganz anderer Seite: der systematisch betriebenen Digitalisierung in den Schulen. Seit Jahren versucht eine Koalition aus Bildungspolitikern und so genannten „Bildungsexperten“ – freudig unterstützt von Microsoft, dem Bundesverband der Informationswirtschaft und den Stiftungen von Telekom, Vodafone und Bertelsmann – am besten schon Kindergärten und Grundschulen mit Tabletts, Laptops und Internet zu beglücken.

Unablässig hämmert ein Heer einschlägiger Fachleute der deutschen Öffentlichkeit ein, nichts sei wichtiger als die möglichst schnelle Einführung des digitalen Klassenzimmers, von elektronischen Lernanimationen, Just-in-Time-Learning und Power-Point-Kompetenz. Schon werden Stimmen laut, Schulbücher vollständig zu digitalisieren und den Kindern in der Schule keine Handschrift mehr beizubringen, sondern gleich das Tippen auf Tastaturen.

Signifikant schlechtere Lernergebnisse

Das Problem: Bisher fehlt, trotz vieler Forschungsmilliarden aus entsprechenden Quellen, jeder Hinweis auf die segensreiche Wirkung digitaler Pädagogik. Lernpsychologisch sehr viel plausibler ist, dass der klassische Vis-à-vis-Unterricht an der Kreidetafel das didaktisch ungleich überlegene Konzept ist. Immerhin weisen zahlreiche Studien darauf hin, dass digitale Lernmethoden signifikant schlechtere Lernergebnisse erzielen. Nur Naivlinge glauben, dass mehr digitales Edutainment vertieftes Lernen begünstigt.

Doch der grassierende Digitalisierungsunsinn gefährdet nicht nur die Qualität der schulischen Ausbildung und die gesunde Entwicklung der Kinder, sondern bedroht auf diesem Weg auch unsere Kultur als Ganzes. Denn wo Schüler qua Hyperlink-Didaktik und Online-Learning jede Lesekompetenz, Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit für mehr als 4.000 Druckzeichen verlieren, ihnen aber Bildungssimulation geradezu antrainiert wird, werden bald keine Bücher mehr gekauft werden. Dann wird die Buchmesse in der heutigen Form ihr 100-jähriges Jubiläum – 2049 wäre es soweit – nicht mehr erleben.

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