Digitale Therapien - Die Seele war ein weites Land

Körperlich sind wir längst Cyborgs. Auch die Seele wird inzwischen immer öfter von Apparaten geheilt. Doch kann man das Unbewusste optimieren?

Erschienen in Ausgabe
Kommt in Zukunft seelische Hilfe nicht mehr von Psychologen, sondern von Laptops und iPads? / Barbara Dietl
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Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Nicht, dass wir die Seele jemals ganz besessen hätten. Mal gehörte sie der Kirche, mal Sigmund Freud, mal der Werbung. Und alle wussten alles über sie, dass sie ein Flügelwesen sei, ein Apparat, ein Handelsgut. Dann zog sie weiter und änderte ihre Gestalt. Sie ist schon ein recht unstetes Ding, diese Seele. Inzwischen gehört sie dem Internet.

Wie immer einer das findet, unheimlich oder innovativ, es ändert ja nichts daran, dass wir Maschinenwesen sind, Prothesengötter. Schon Descartes fragte sich, als er in seiner zweiten Meditation aus dem Fenster schaute und die Leute auf der Straße vorübergehen sah: „Was sehe ich denn aber außer Hüten und Kleidern, unter denen auch Automaten stecken könnten?“ Und die gleiche Frage kann sich stellen, wer sich dem Internet anvertraut: „Mit wem rede ich denn aber, einem Menschen oder einem Chatbot?“

Die Volkskrankheit Depression

Die Unterschiede sind nicht mehr so groß. Körperlich sind wir längst Cyborgs: Herzschrittmacher schützen uns vor dem Infarkt, Hirnschrittmacher vor Parkinson, Roboter assistieren im OP. Auch die Seele wird inzwischen immer öfter von Apparaten geheilt. Und die entsprechenden Studien zeigen: Online-Behandlung scheint, zumindest bei bestimmten psychischen Störungen, zu helfen. Ohne direkten Kontakt zum Therapeuten, manchmal nur zu einer App. „Mir gefällt das auch nicht“, sagt der Psychiater Professor Ulrich Hegerl, „ich bin auch ein Anhänger des direkten zwischenmenschlichen Kontakts. Aber in diesen Studien kommt das Menschliche als Wirkfaktor nicht raus. Das muss man zunächst akzeptieren.“

Hegerl ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig und Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Man trifft sich am Rande eines Kongresses in Berlin, Stimmengewirr, Broschüren, Buffet, und geht rüber ins nächste Café, wo es auch nicht leiser ist. Hegerls Stimme übertönt kaum die Kaffeemaschine. Er ist ein zurückhaltender Gesprächspartner, dem die Sache am Herzen liegt, nicht die Selbstdarstellung. Er möchte das öffentliche Bewusstsein für die Volkskrankheit Depression schärfen und darüber informieren, wie man sie behandeln kann, seiner Erfahrung und der Studienlage nach am besten mit einer Kombination aus Pharmako- und Verhaltenstherapie. Die Verhaltenstherapie ist eine Schule, in der es um das „Verlernen“ problematischen Verhaltens geht, nicht um Ursachenanalyse. Weil die verschiedenen Konzepte manualisiert sind, etwa durch vorgegebene Arbeitsbögen, lassen sie sich einfach auf die Internet­ebene übertragen.

Psychiater Ulrich Hegerl hat das Tool iFight mitentwickelt

„Der menschliche Faktor kann ja auch negativ sein“, erläutert Hegerl. „Wenn der Therapeut zum Beispiel eitel ist, kann das einen depressiven Patienten weiter nach unten drücken. Der letzte Rest an Selbstwert schrumpft dann ganz zusammen vor dem großartigen Therapeuten. Denken Sie mal an Freud, der sich ja auf Fotos gern in der Pose des Weltweisen abbilden ließ. Im Jahr 1898 haben sich vier seiner Patienten das Leben genommen, zwei unmittelbar nach Verlassen seiner Praxis. So viel zum menschlichen Faktor.“

Soll die Internettherapie nur der Kostensenkung dienen?

Hegerl hat ein Anti-Depressions-Tool mitentwickelt, iFight, das von Ärzten oder psychologischen Psychotherapeuten begleitet werden muss. Vorher bekommen sie eine Online-Schulung, die mit einem Multiple-Choice-Test abgeschlossen wird. Auf der Login-Seite strahlen attraktive, photogeshopte Leute aller Altersstufen und Hautfarben in die Kamera, alle in hellgrauer Kleidung. So also definiert das Internet das Ideal des reparierten Menschen. Aber dafür kann Hegerl nichts, das waren die Netz-Designer.

iFight wirkt, nachweislich, bei leichteren Depressionen und hilft zum Beispiel bei der Tagesstrukturierung und der Beeinflussung negativer Gedankenkreise. Als Ersatz für psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung ist das Programm nicht gedacht. Das „Selbstmanagementprogramm“ soll etwa der Überbrückung von Wartezeiten auf einen Therapieplatz dienen. „Der Begriff Selbstmanagement ist irgendwie unschön“, räumt Hegerl ein. „Er hat etwas Technokratisches, so als ob das Leben oder gar die depressive Erkrankung ein Managementproblem wäre. Das wird weder der Schwere depressiver Erkrankungen noch dem Geheimnisvollen unserer Existenz gerecht.“

Kritiker der Internettherapie befürchten, dass sie am Ende nur der Kostensenkung dient und die Qualität der ärztlichen Versorgung darunter leiden wird. Aber noch sind die Apparate und ihre Programme Derivate des Menschlichen, und die Menschen hinter den Apparaten bemühen sich offenbar redlich, den Patienten zu helfen. Professor ­Anette Kersting zum Beispiel, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Leipzig. Sie hat blaue Lachfaltenaugen, trägt einen Pagenschnitt und ein elegantes Kostüm. „Es gibt unterschiedliche Formen der Internettherapie mit mehr oder mit weniger Therapeutenkontakt“, erklärt sie in ihrem Büro, einem durchstrukturierten Raum.

An der Uni Leipzig weist die psychosomatische Ambulanz seelischem Dunkel einen Notausgang

Hier findet sich nichts Unaufgeräumtes. Die Reiseposter an der Wand aus China, Birma und Tansania geben Hinweis auf eine Person, die weite Perspektiven schätzt. „Bei uns ist der Kontakt schon sehr intensiv, der Therapeut meldet sich zum Beispiel, wenn er sieht, dass der Patient nicht weitermacht, und bei Hinweisen auf suizidale Gedanken rufen wir sofort an. Ich sehe das überhaupt nicht locker.“

Die persönliche Begegnung wird kaum angefragt

Kerstings erstes Projekt an der Uni Münster widmete sich Frauen, die während der Schwangerschaft ihr Kind verloren, ein Ereignis, das tiefe Spuren hinterlassen kann. Die Frauen hatten Jobs oder kleine Kinder, jedenfalls keine Zeit, in die Uniklinik zu kommen. Also ging Kersting mit ihrem Team online und entwarf ein Programm: Eingangsfragebogen, Übungen, persönliche schriftliche Antworten vom Therapeuten, das alles in mehreren, aufeinander bezogenen Schritten. Und das half, erzählt ­Anette Kersting. „Ich möchte aber auch sehr deutlich sagen, dass die Internettherapie nicht für alle Patienten geeignet ist“, betont sie, „und ich möchte vor einem Hype warnen.“

Inzwischen hat sie drei weitere Projekte abgeschlossen. Der Kontakt zum Therapeuten läuft schriftlich über eine gesicherte Plattform, „ähnlich wie beim Online-Banking“. Die persönliche Begegnung wird kaum je angefragt. Um eine Bindung zum Therapeuten aufzubauen, brauchen die Patienten nicht mal ein Foto.

Derzeit läuft Kerstings Studie „Internettherapie für Hinterbliebene von Menschen mit hämatologischer Krebs­erkrankung“. Die therapeutische Arbeit übernehmen die jungen Diplom-Psychologinnen Julia Große und Rahel Hoffmann. Sie arbeiten „im wissenschaftlichen Dachstuhl der Klinik“, in einer kleinen Kammer. „Die Internettherapie ist ein zukunfts­trächtiges Instrument“, sagt Große. Und Hoffmann fügt hinzu: „Wir haben auch mehr Zeit, unsere Antworten zu reflektieren als in einer Face-to-Face-Therapie.“
 

Auch Annette Kersting forscht und therapiert an der Leipziger Klinik. Zu ihren Patienten hält sie via Internet Kontakt

Die zwei demonstrieren das Beranet, eine sicherheitsgeprüfte Plattform für Online-Beratungsprogramme. Die Therapie beginnt mit einem Fragebogen, „den werten wir dann über das Statistikprogramm SPSS aus“. Es folgen die Module „Selbstkonfrontation“, „Kognitive Umstrukturierung“ und „Social Sharing“. Über dem Schreibfeld für die Patienten reihen sich die Emoticons, „aber die werden eher nicht genutzt“.

Die Forschung zum Thema ist teuer

Allmählich stellt sich die Frage, wer eigentlich wen programmiert. Die Forscher den Computer? Der Computer die Patienten? Die Patienten die Therapeuten? Ein wenig wirkt die Szene unter dem Dach wie die Entzauberung von Oz: Zwei Rechner und ein Clipboard, und der Schrank mit Birkenfurnier gibt, seitlich abgesägt, den Blick auf das nackte Pressholz frei.

Die Forschung zum Thema ist teuer. Kerstings Projekte sind drittmittelgefördert, von anwendungsinteressierten Partnern. Die Technik übernehmen externe Firmen. Die Selbsthilfe-App für traumatisierte syrische Flüchtlinge in Deutschland, die Kersting in ihrer nächsten Studie evaluieren will, wird in Berlin von der Firma Frühlingsproduktionen entwickelt, die sich auf „innovative E-Mental-Health-Programme“ spezialisiert hat. Die Homepage begrüßt den User mit einem Blick aufs Meer und dem Slogan: „Jeder hat das Recht, glücklich zu sein.“

Die Gründerin Alice von Welck schält sich erst mal aus ihren Regenklamotten. Sie vermittelt zwischen Wissenschaft und Technik. „Ich möchte die Psychologie in die Allgemeinbevölkerung bringen“, sagt sie, „das ist was Spannendes, was nicht nur Angst machen muss.“ Die Diplom-Psychologin ist während ihrer Ausbildung zur Psychoanalytikerin, die jetzt erst mal auf Eis liegt, auf den E-Mental-Health-Sektor gestoßen. Nach ihrer Überzeugung können tiefer gehende seelische Veränderungen nur im Rahmen einer tragfähigen persönlichen Beziehung stattfinden. Darum entwickelt sie keine Online-Psychotherapien, sondern digitale Coaches, die alle Möglichkeiten der neuen Medien nutzen, „um die persönliche Weiterentwicklung zu fördern“. Zum Beispiel interaktive Übungen, Filme und Audiofiles.

Die User müssen mit diesen Möglichkeiten umgehen, „extrem gut und schnell filtern“ können. Wer im Internet nicht umgehend auf relevante Informationen stößt, verlasse die Seite gleich wieder. Von Welck beurteilt dieses Phänomen nicht, wie viele Kritiker der neuen Medien, nur als Ausdruck einer verkürzten Aufmerksamkeitsspanne, sondern auch als neue Form der Kompetenz: „Wer sich nicht abgrenzen kann, ist in Anbetracht der Informationsfluten verloren. Wir können uns im Netz nicht so verhalten, als würden wir wie damals vorm Kamin 2000 Seiten Tolstoi lesen. So ist unsere Welt nicht mehr.“ Sie sagt das ohne Bedauern.

Die politische Dimension?

Für die Technik hat sie Gábor Kovács beauftragt, Geschäftsführer der H6 Kommunikationsagentur, die unter anderem „digitale Produktentwicklung“ anbietet. Außerdem ist Kovács Professor an der Design Akademie Berlin, einer privaten und staatlich anerkannten Hochschule. Dort trifft man sich auch, in Berlin-Kreuzberg am Moritzplatz, zwischen glatt geschliffenen Betonwänden und großformatigen Papieren, denn bevor die App programmiert wird, wird sie gezeichnet. Von weitem sieht das aus wie ein Comic. „Beim Paper Prototyping werden Cognitive Walkthroughs der einzelnen Nutzergruppen visualisiert und evaluiert“, erklärt Kovács. Er trägt ein mathematisches Hemd, graubraun mit abstraktem Muster. „Wir fotografieren dabei zum Beispiel einzelne Szenen und verlinken diese. Man kann damit schon frühzeitig wichtige Core Loops oder Fehler identifizieren. Ziel dieses Prozesses ist ein stromlinienförmiges Erlebnis.“

Während Kovács geduldig erklärt, was „inhaltliche Dekontextualisierung“ und „UX Mapping“ bedeuten, spricht von Welck einfühlsam von den Flüchtlingen. Sie erinnert sich an einen Vater, dessen Kind vor seinen Augen verbrannt ist, und sie weiß, dass viele Flüchtlinge in den Heimen miteinander nur selten über ihre Erlebnisse sprechen, aus Scham, Angst oder weil sie denken, es bringe nichts.

An der Design Akademie Berlin entwickeln die Psychologin Alice von Welck und der Kommunikationsdesigner Gabor Kovacs eine App für seelisch beschädigte Flüchtlinge

Ob die zwei ihre Arbeit also auch als eine politische verstünden? Beiden liegt der Begriff nicht so recht, von Welck sieht ihre Arbeit psychologisch, Kovács informationsarchitektonisch. Von Welck und Kovács sind vor allem moderne Dompteure. Sie dressieren das Internet, bis es nach ihren Regeln spielt und springt und sich schnurrend anschmiegt, und sie tun das mit einer Souveränität, die jeden Kulturpessimisten wie einen Waldschrat dastehen lässt.

Nicht alles ist programmierbar

Einer, der diesem Trend zur Seelenprogrammierung nichts abgewinnen mag, ist der Psychoanalytiker Hans-Joachim Metzger. Seine Praxis liegt in Hannover – und im Internet. Metzger praktiziert mit mehr als der Hälfte seiner Patienten online über Skype oder VoIP, „die Nachfrage ist groß“. Einige Patienten hat er noch nie gesehen, der fernste lebt in Neuseeland. Auch das Interview findet über Skype statt, ohne Bild, so wie mit Metzgers Analysanden. „In der Verhaltenstherapie“, sagt er, „wird immer eine Selbstbeobachtungsschleife aufgemacht und geht es um die Orientierung an Sollwerten, und so was ist natürlich wunderbar programmierbar. Was da optimiert werden soll, das Selbst, ist aus Sicht der Psychoanalyse eine Illusion. In der Psychoanalyse geht es nicht um das Selbst, sondern um das Unbewusste, und das lässt sich nicht optimieren.“

Hans-Joachim Metzger hat Philosophie und Psychologie studiert und war lange Manager in der IT-Branche. Als es losging mit dem Internet, war er begeistert. Inzwischen ist er erschrocken: „Wir haben alle gedacht, die gesellschaftliche Synthesis wird durch Kommunikation gestärkt, stattdessen erleben wir, dass das Niedrigste zuoberst gekehrt wird und dass nicht jede Masse eine Schwarm­intelligenz erzeugt, wohl aber vielfach Dummheit.“ Warum er trotzdem keine Scheu vor dem Netz entwickelt hat? „Ich bin da ganz undogmatisch. Ich denke, dass man auch als Analytiker die Möglichkeiten der Technik maximal nutzen sollte.“
 

In Dresden laden Plastiklaster zur traditionellen Einzeltherapie

Das, was in jeder klassisch durchgeführten Psychoanalyse auf der Couch passiert – dass der Patient Erfahrungen, Gefühle und Gedanken aus seiner Vergangenheit auf den Analytiker überträgt und so verarbeiten kann –, spiele sich auch über Skype ab, erklärt Metzger. Das technische Arrangement lasse sogar das Essenzielle noch deutlicher hervortreten: „Das Unverzichtbare in der Psychoanalyse sind das Sprechen und das Hören, alles andere ist im Grunde entbehrlich. Die Übertragung wird sehr wesentlich von der Stimme als etwas Körperlichem getragen. Das Wegblenden des Bildes dient dazu, das Imaginäre im Zaum zu halten. Und das Sprechen und Hören ist oftmals sogar ungleich intimer und intensiver als in einer Praxissituation.“

Dass die Arbeit des Psychoanalytikers jemals von einer Maschine übernommen werden könnte, hält der Lacan- und Derrida-Übersetzer, der die Entwicklungen bei Spracherkennungssoftware aufmerksam verfolgt, nicht für möglich. „Ich glaube nicht, dass ein Algorithmus Träume befragen kann. Deutung setzt voraus, dass Analytiker und Analysand eine symbolische, kulturelle Ordnung teilen. Und Deutungen haben oft auch unbewusste Komponenten. Außerdem funktioniert das Unbewusste bei jedem Patienten anders.“ Das Gespräch mit Metzger ist anregend, es dreht sich um Ikonen wie Martin Heidegger und Friedrich Kittler, um Bandbreiten und Mikrofone, und es endet mit dem kurzen Blubbergeräusch von Skype.

Das Eindringen der Technik in die Seele

Die Verschränkung von Technik und Seele ist nichts Neues. Schon Sokrates sagte, als er seine Gedächtnistheorie entwickelte: „Nimm also zum Zweck unserer Untersuchung an, in unserer Seele befinde sich eine wächserne Tafel.“ Die Wachstafel war damals der letzte Schrei, so wie bei uns vor ein paar Jahren das iPad, und wenn man Sokrates wörtlich liest, nicht metaphorisch, hat er den ersten Cyborg erfunden. Seither wird der Seele immer wieder eine Ähnlichkeit mit Geräten diagnostiziert. John von Neumann zum Beispiel, der den ersten rein elektronischen Universalrechner Eniac mitentwickelt hatte, übertrug in den sechziger Jahren die Funktionen des Computers minutiös auf das menschliche Gehirn und berechnete dessen Speicherkapazität: immerhin 2,8 mal 1020 Bit.

Was eher keiner wissen will: Tut uns das gut, das Eindringen der Technik in die Seele? Fragt man Veit Roessner, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Dresden, gibt auch er eine differenzierte Einschätzung ab. Die Internettherapie hält er nicht für grundsätzlich falsch. Seine Klinik bietet Online-Sprechstunden an, „weil die Hemmschwelle, überhaupt Kontakt zur Psychiatrie aufzunehmen, immer noch groß ist“. Bei weiter Entfernung wird auch der virtuelle Hausbesuch genutzt, „da sitzen die Eltern dann schick angezogen da und haben extra aufgeräumt“. Er lacht. Die positiven Forschungsergebnisse zur Internettherapie bewertet er vorsichtig: „Am Ende heißt es, der Computer hat es gemacht, obwohl ganz viele Menschen dahinterstecken.“
 

Veit Roessner ist Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Dresden und bietet ebenfalls Online-Sprechstunden an

Roessner ist ein Schnelldenker, ein Schlacks mit lebhaftem Geist und einem freundlichen Blick auf die Menschen. Er führt durch die Stationen der Dresdner Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, und fast glaubt man nicht, dass er der Direktor ist. Er wirkt so gar nicht hierarchisch. Auf der Akutstation ist es still, ein paar Jugendliche machen Küchendienst. Auf der Station für Essstörungen sitzen schöne Mädchen neben dem Meerschweinchenkäfig und unterhalten sich leise. Auf allen Stationen herrscht Smartphone-Verbot.

Die alte Utopie von Heilbarkeit

Viele Kinder zeigen Suchtsymptome, ähnlich wie beim Rauchen, und Roessner erzählt, dass denen, die oft nur den ganzen Tag auf dem Bett liegen und daddeln, das Körpergefühl abhandenkomme. „Das klassische Büdchenbauen draußen, wo man auch Schmerzreize kriegt und sensorischen Input, findet immer weniger statt.“ Auch die Selbstwirksamkeit nehme ab, die Konsumentenhaltung zu. In der Familientagesklinik, wo Eltern und Kinder gemeinsam behandelt werden, komme es immer häufiger vor, dass auch die Eltern mehr mit ihrem Smartphone beschäftigt seien als mit der Therapie. „Und wenn wir denen dann sagen, geben Sie doch mal selbst Ihr Handy ab, versuchen Sie doch mal, eine Stunde lang nicht draufzugucken, dann brechen manche die Therapie ab.“

Ist das Internet also, in Anlehnung an das Bonmot von Karl Kraus über die Psychoanalyse, jene Geisteskrankheit, für deren Therapie es sich hält? „Ich würde es nicht auf eine bestimmte Diagnose fokussieren“, sagt Roessner, „aber bei einer bestimmten Veranlagung ist das Internet schon ein Umweltfaktor, der den Ausbruch einer seelischen Krankheit begünstigt.“ Nach dem Rundgang über die Stationen, zurück auf dem verschachtelten Dresdner Klinikgelände, holt Roessner sein Fahrrad. Es lehnt am Bauzaun, nicht abgeschlossen. Veit Roessner bewegt sich, trotz allem, gelassen durch die Welt.

Und nun? Vielleicht verbirgt sich in all den E-Mental-Health-Programmen immerhin eine Hoffnung – das Internet möge fehlerlos sein und ohne menschliche Gemeinheiten. Als Sylvia Plath das Menschenherz beschrieb, war es noch „ein pochender Puls, ein bebend Ding – / ein schimmernd zartes Instrument aus Glas, / das einmal weint und einmal singt“. Vielleicht ist es inzwischen zäher geworden, unser Herz. Vielleicht tragen wir gerade an unseren wundesten Stellen abstrakte Prothesen, in HTML, CSS und Java programmiert.

Die Utopie von Heilbarkeit ist so alt wie der versehrte Mensch, und es tut wohl gut, uns diese Utopie zu erhalten.

Fotos: Barbara Dietl

Dies ist ein Text aus der Februarausgabe des Cicero. Erhältlich am Kiosk und in unserem Onlineshop.









 

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