Warum Schüler immer mehr Fehler machen - Auf dem Weg in die Schlechtschreibkatastrophe?

Die Rechtschreibung der Schüler hat erheblich gelitten. Ein Linguist warnt, Deutschland steuere auf eine Katastrophe zu. Dabei gibt der Rechtschreib-Papst Entwarnung. Und die Stadt Hamburg zeigt, wie man die fatalen Folgen der Methode „Lesen durch Schreiben" wieder ausbügeln kann.

Schreiben, aber richtig: Linguisten sorgen sich um steigende Fehlerquoten / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Schon seit Jahrzehnten beklagen Unternehmen die Rechenkünste und Rechtschreibleistungen ihrer Lehrlinge. Und das offenbar nicht ohne Grund. In einer wissenschaftlichen Studie des „Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen“ (IQB) ist zum Beispiel zu lesen, dass rund ein Viertel der deutschen Grundschüler in Sachen Rechtschreibung nicht einmal den „Mindeststandard“ erreicht. Negativer Spitzenreiter ist dabei die Hansestadt Bremen mit einem Anteil von mehr als 40 Prozent.

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Schüler mit schlechten Rechtschreibleistungen landen aber dank der viel gepriesenen Bildungsexpansion irgendwann auch als Studenten an den Universitäten und werden möglicherweise sogar die Lehrer der Zukunft. Wenn also etwas dran ist am schleichenden Verfall der Rechtschreibkompetenzen von Schülern, müsste sich dieser Effekt letztlich wellenartig über die Generationen und Institutionen hinweg ausbreiten. Und zwar im Sinne einer Abwärtsspirale mit verheerenden, sich verstärkenden Effekten: Irgendwann würden dann die Legastheniker von heute die von morgen ausbilden.

Auf dem Weg in die Rechtschreibkatastrophe 

Dass genau dies letztlich der Fall ist, behauptet Dr. Fabian Bross. Deutschland steuere auf eine „Rechtschreibkatastrophe zu“, ist er überzeugt. Bross arbeitet am Institut für Linguistik der Universität Stuttgart und bildet dort seit Jahren selbst Deutschlehrer aus. Die Schlechtschreibleistungen seiner Studenten erschienen ihm derart eklatant, dass er die Probe aufs Exempel machte: Er ließ sie einen Text voller Fehler korrigieren.

Das Ergebnis: Während sich rund 92 Prozent der Befragten eine gute bis sehr gute Rechtschreibkenntnis attestierten, wussten 40 Prozent nicht, wie man „Corona-Pandemie“ korrekt schreibt. An der richtigen Schreibweise anderer Komposita scheiterten bis zu 70 Prozent. Daran, dass im Superlativ „am besten“ Großschreibung nichts zu suchen hat, immerhin die Hälfte.

Nicht mal Anführungszeichen werden beherrscht

Einen Unterschied zwischen den Rechtschreibleistungen der wissenschaftlichen und Lehramtsstudenten kann Bross übrigens nicht erkennen, bei den künftigen Lehrern sei die Situation wegen der Folgewirkungen für die Gesellschaft aber „besonders dramatisch“. Sein verheerendes Urteil würde von seinen Kollegen übrigens ausdrücklich geteilt.

Er hätte in den letzten Wochen ausschließlich zustimmende Reaktionen erhalten. Die Abwärtsspirale ließe sich nach seiner Ansicht nur aufhalten, wenn die Universitäten mehr Stellen erhielten, um ausbügeln zu können, wofür eigentlich das Schulsystem zuständig gewesen wäre. „Nicht einmal Anführungszeichen werden noch fehlerfrei beherrscht“, lässt Bross seinem Frust freien Lauf.

Allerdings sind die Thesen von Bross und anderen in der Wissenschaft alles andere als unumstritten. Das beginnt schon damit, dass sich Bross’ Auswertung auf bloß 73 Antworten stützt und insofern keine Repräsentativität im wissenschaftlichen Sinne beanspruchen kann. Das weiß natürlich auch Bross selbst, dennoch seien die von ihm erhobenen Ergebnisse seiner „Meinung nach insgesamt aussagekräftig“.

Die Fehlerquote stieg um 50 Prozent 

Zu jenen, die seit Jahren unbeirrt gegen solche Kassandra-Rufe anschreiben, gehört der ehemalige Grundschuldidaktiker Hans Brügelmann. Erst kürzlich relativierte er engagiert die Ergebnisse einer Erhebung an einem süddeutschen Gymnasium. Verglichen wurden hinsichtlich der Rechtschreibleistungen 67 Abituraufsätze aus den Jahren 1984 und 1985 sowie 2018 und 2019. Das Ergebnis überrascht nicht: Die Fehlerquote hat um mehr als 50 Prozent zugenommen.

Für Brügelmann ist das dennoch kein Grund zur Besorgnis. Die Prüfungsaufgaben müssten sich doch letztlich an den „schriftsprachlichen Anforderungen außerhalb der Schule“ orientieren. Und da außerhalb der Schule, so muss man seine Worte wohl verstehen, ohnehin nicht mehr viele korrekt schreiben und sprechen können, sei Fehlerfreiheit in der Orthografie dann auch „sicher nicht der Maßstab“ für die Bewertung von Prüfungsaufgaben in der Schule. Denn die soll ja auf das wirkliche Leben vorbereiten.

„Pitza“ statt „Pizza“

Die Gründe für den Verfall der Rechtschreibleistungen dürften vielfältig sein: Reduzierung von Deutsch-Stunden zugunsten anderer Fächer, logisch inkohärente Rechtschreibreformen, schleichender Verfall schulischer Leistungsanforderungen oder didaktische Experimente. Die Methode „Lesen durch Schreiben“ von Jürgen Reichen gehört dazu.

Seit Jahrzehnten gilt sie besonders engagierten Reformpädagogen als optimale Methode, um Grundschülern das Lesen und Schreiben beizubringen. Die Schüler werden dabei dazu angehalten, nicht auf Rechtschreibung zu achten, sondern die Worte so zu schreiben, wie sie sie sprechen. Die Korrektur von Fehlern durch den Lehrer gilt sogar als demotivierende Beschämung.

Damit das nicht zu orthografischen Katastrophen führt, muss der Schüler allerdings wohl doch eher einem gebildeten Elternhaus mit kontrollierter Aussprache entstammen. Überall dort und immer dann, wenn Silben oder Buchstaben im Alltagsdeutsch weggenuschelt werden, müssen die aufgeschriebenen Wörter und Sätze der Kleinen mit der Rechtschreibung auf Kriegsfuß stehen. Aber selbst, wenn das nicht der Fall ist, kann man mit dieser Methode „Pitza“ statt „Pizza“ oder „fant“ statt „fand“ kaum vermeiden.

Die Methode „Lesen durch Schreiben" und ihre Folgen

Dass die Rechtschreibung unter der gut gemeinten Methode leidet, belegt denn auch eine jüngere Studie der Universität Bonn. In NRW wurden insgesamt 3.084 Grundschüler in die Untersuchung einbezogen. Die Ergebnisse sind eindeutig: Der klassische, seit vielen Jahrzehnten in deutschen Grundschulen praktizierte Fibelansatz war allen anderen untersuchten Methoden überlegen, darunter „Lesen durch Schreiben“. Übrigens „mit überwiegend großem Effekt“.

Besonders benachteiligt dürften mit „Lesen durch Schreiben“ vor allem Kinder aus bildungsfernen Schichten oder mit Migrationshintergrund sein. Sie haben es nicht nur schwerer als andere, die Schriftsprache zu erwerben, sondern ihnen gelingt es häufig auch nicht mehr, das einmal falsch Erlernte im Laufe der Jahre wieder beliebig zu korrigieren. Das jedenfalls legen neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse nahe.

Besonders betroffen ist die Unterschicht

Dafür spricht auch eine Langzeituntersuchung von Wolfgang Steinig. Er hat die Rechtschreibleistung von Grundschülern in den Jahren 1972, 2002 und 2012 untersucht. Mit zwei bemerkenswerten Befunden: Während im Jahr 1972 durchschnittlich 7 Fehler auf 100 Wörter kamen, waren es in 2012 bereits 17. Noch viel brisanter ist das Ergebnis, dass dieser Fehleranstieg vor allem auf Kinder aus der Unterschicht und unteren Mittelschicht zurückzuführen ist. Die Oberschicht konnte sich aber ohnehin schon immer selbst helfen. Einige Bundesländer haben inzwischen Konsequenzen gezogen und entweder die Methode „Lesen durch Schreiben“ verboten oder zumindest dazu geraten, auf ihre Anwendung zu verzichten.

Es ist nicht schwer vorherzusagen, dass die Schulschließungen während der Corona-Pandemie die betrüblichen Befunde verschärfen werden. Endgültige Gewissheit darüber gibt es allerdings erst im Herbst 2022. Dann wird das IQB einen deutschlandweiten Vergleich der Schulleistungen der Grundschüler für das Jahr 2021 vorlegen.

Pädagogische Rolle rückwärts 

Dass man die Rechtschreibleistungen der Schüler wirksam verbessern kann, zeigt dabei der Fall Hamburgs. Traditionell zählt die Hansestadt zu jenen Ländern mit den schlechtesten Schülerleistungen. Deshalb hat Bildungssenator Ties Rabe (SPD) vor Jahren eine „Rechtschreiboffensive“ gestartet. Und das offenbar mit Erfolg. So weist eine aktuelle Erhebung für das Jahr 2021 einen Rückgang der Zahl der Grundschüler mit schwachen Rechtschreibleistungen um 16 Prozent auf.

Sieht man sich die Maßnahmen an, die Hamburg in der Vergangenheit ergriffen hat, mutet das allerdings wie eine pädagogische Rolle rückwärts an: verbindliche Lehrpläne, Vorgaben für den Mindestumfang des Rechtschreibunterrichts, regelmäßige Lernstandserhebungen, mehr Klassenarbeiten zum Thema Rechtschreibung, eine Korrekturpflicht von Rechtschreibfehlern mindestens ab der 3. Klasse. Das alles riecht zwar eher nach Konzepten aus den 1950er Jahren, ist aber offenbar erfolgreicher als so manche pädagogische Mode.

Finden Sie den Fehler? 

Ob indes die Kontrolle über die schriftsprachlichen Kompetenzen überhaupt noch wiederherzustellen ist, darf bezweifelt werden. Irgendwann hätten dann nicht nur erhebliche Anteile der Lehrerschaft Probleme in Ausdruck, Grammatik oder Rechtschreibung, sondern sogar Hochschullehrer.

Vielleicht ist es daher so etwas wie ein Omen, dass ausgerechnet Dr. Fabian Bross in seiner Auswertung der Rechtschreibleistungen seiner Studenten bereits im ersten Satz ein Fehler unterläuft: „Mein subjektiver Eindruck beim Lesen von Hausarbeiten, Hausaufgaben und E-Mails von Studierenden ist, dass ein großer Teil massive Probleme im Bereich Rechtschreibung, Zeichensetzung, Typographie und Ausdruck hat – meine grobe Schätzung bisher war, dass etwa 40 Prozent der Studierenden sehr große Probleme hat.“

Und, finden Sie ihn, den Fehler?

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