Deutsche Geschichte - Die Nazibeschimpfung

Als Nazi beschimpft zu werden, gilt als sicheres Erpressungsmittel. Doch damit wird kritisches Denken auf gefährliche Weise eingedämmt. Die betonte Vielfalt der Linken wird zur Vielfalt der Gleichdenkenden. Von Sabine Bergk

Die betonte Vielfalt der Linken wird zur Vielfalt der Gleichdenkenden / picture alliance
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Autoreninfo

Sabine Bergk ist Schriftstellerin. Sie studierte Lettres Modernes in Orléans, Theater- und Wirtschaftswissenschaften in Berlin sowie am Lee Strasberg Institute in New York. Ihr Prosadebüt „Gilsbrod“ erschien 2012 im Dittrich Verlag, 2014 „Ichi oder der Traum vom Roman“.

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„Nazi“. Mit diesem Stempel möchte niemand leichtfertig gebrandmarkt werden. Dennoch wird viel zu schnell geurteilt, nicht nur in Politikerkreisen. Auch unter Freunden geschehen solche Beschimpfungen, teilweise aus völlig irrationalen Anlässen. Das Private und das Politische sind in dieser Frage stark miteinander verknüpft. Es ist zum Haare raufen, wie oft man wegen Nichtigkeiten als Nazi beschimpft wird. Sei es, dass man jemanden kritisiert hat – „Nazi“ tönt es zurück. Hat man eine andere Ansicht, denkt etwas schärfer oder wagt es, die Zahlentabellen des Bamf zu lesen – ist man gleich ein Nazi. 

Die Erbschaft der 68er

Durch die Nazibeschimpfung wird kritisches Denken auf gefährliche Weise eingedämmt. Die betonte Vielfalt der Linken wird zur Vielfalt der Gleichdenkenden. Dagegen wettert der rechte Populismus, ebenfalls einer breiigen Meinung. Schattierungen, Kanten, Krümmungen und Kurven des Denkens werden durch die Nazibeschimpfung begradigt. Aus Angst vor der Nazibeschimpfung wagt man schließlich gar nicht mehr, zu denken. Damit ist sie ein Teil der modernen Angstkultur. Sie ist wie eine Tretmine – erwischt sie einen, ist ein Teil von einem weg. Die Nazibeschimpfung ist eine direkte Form der Gewaltausübung, eine Allzweckwaffe, die immer trifft. Aus welchem Grund sie auch immer benutzt wird (und sei der Grund noch so absurd), sie haut einen um. Es braucht eine Weile, bis man so etwas abschütteln kann, die Dinge sortiert und versteht, dass jemand, der einen anderen leichtfertig als Nazi beschimpft, über keine differenzierte Sprache verfügt.

Unter 68ern war die Nazibeschimpfung gang und gäbe. Sie ist eine Erbschaft der 68er – mit dem Unterschied, dass man 1968 versucht hat, Altnazis aus den Ämtern zu verscheuchen. Es wurden Nazis als Nazis beschimpft und die Beschimpfung traf zu. Aus dem konkret Zutreffenden wurde schließlich ein Dauerbrenner. Die Nazibeschimpfung wirkt wie ein Erhitzungsmittel in allen Angelegenheiten.

Ein Zeichen gegen die Naziecke

In einer permanent kochenden Atmosphäre geht uns jedoch jegliche Komplexität und Gedankenschärfe verloren. Rationale Abkühlung ist nicht in Aussicht, gegenseitiges Zuhören scheint auch nicht en vogue zu sein. Die alles eindämmende Kanzlerin wählt sich ihre Räume der Selbstzustimmung geschickt aus. Dass sich nun Horst Seehofer in die Naziecke gerückt fühlte und nicht zum Integrationsgipfel erschien, kann unterschiedlich interpretiert werden. Natürlich bedient er damit die Interessen seiner Partei. Dennoch hat er konkret ein Zeichen gegen das Rücken in die Naziecke gesetzt. Sein Vorhaben ist es ja gerade, der AfD das Wasser abzugraben. Ob der Zweck alle Mittel heiligt, ist wieder eine andere Frage.

Wir brauchen ein differenzierteres Gesprächsklima, im politischen, wie auch im privaten Bereich. Stattdessen wird die Nazibeschimpfung immer wieder leichtfertig aufgekocht – selbst auf internationaler Ebene. Passt einem Land die deutsche Politik nicht, werden wir als Nazis gebrandmarkt. Wenn wir das ändern wollen, sollten wir in allen Bereichen, in den Medien, in der Politik und auch privat vorsichtiger miteinander umgehen. Fast alle unsere Vorfahren waren Nazis. Dennoch verhalten wir uns, als wäre unsere Familienweste rein, als wären immer die anderen Nazis gewesen. Mit der Nazibeschimpfung schimpft man sich selbst das belastete Herz frei. 

Deutschland, ein Wintermärchen

Es ist immer wieder interessant, im Rahmen privater Zusammenkünfte über Großväter zu sprechen. Fragt man in die Runde, ist es erstaunlich, wie harmlos alle im Nachhinein waren. Ich frage mich manchmal, wo die denn alle hergekommen sind – in der DDR soll es keine Nazis gegeben haben (und die Opportunisten?) und in bundesdeutschen Familien waren eigentlich auch alle lieb. Dieses Vertuschungsklima wird mit dem flammenden Schwert der Nazibeschimpfung nur verstärkt. Die Nazibeschimpfung ist nicht selten an eine Naziverleugnung geknüpft. Günter Grass war ein Paradebeispiel dieser seltsamen Verknotung. 

Ein denkwürdiges Kleinereignis will mir nicht aus dem Sinn. Als ich im Rahmen einer Veranstaltung der Nietzsche-Gesellschaft auf dem Ettersberg saß und der Schriftsteller Henning Ritter im Prachtsaal des Schlosses seine scharfsinnigen Spitzen gegen Nietzsche lancierte, ging ein Seufzen durch das Publikum. Ich dachte, es ginge der Nietzsche-Gesellschaft um Nietzsche, doch mit einem Mal saß ich mitten in einer Therapiestunde. Niemand wollte über Nietzsche sprechen. Ritters Spitzen fielen hinter den Tisch. Ein Klagen erhob sich im Raum. „Wir wurden schon als Kinder nach Buchenwald gezwungen“, hieß es. Diese Last wollte man nun loswerden. Sie ist aber nicht loszuwerden, weder durch zwanghafte Beschimpfungen – noch durch Verleugnungen. Der zwanghafte Umgang mit der deutschen Geschichte hat wieder einmal nur Zwanghaftes hervorgebracht. Eine zwanghafte Linke beschimpft zwanghaft zwanghafte Populisten. Deutschland, ein Wintermärchen.

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