deutsch-französische Freundschaft - Fremde Freunde

100 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs: Die deutschfranzösische Partnerschaft ist ein doppelbödiges Wunder

Erschienen in Ausgabe
Die Kathedrale von Reims war Zeuge, als Konrad Adenauer und Charles de Gaulle im Juli 1962 die Aussöhnung begannen / picture alliance
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Autoreninfo

Thibaut de Champris, geboren 1962 in Paris, leitete von 2012 bis 2017 das Institut Français in Mainz

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Von 1918 zu 2018: Wunder geschehen. Zwei Länder, die sich im erstgenannten Jahr als „Erbfeinde“ betrachten, werden im zweitgenannten als weltweites Vorbild für eine beständige „Freundschaft“ gesehen. Ist aber dieser zeitliche Vergleich überhaupt möglich? Nein. Beide Länder sind heute nicht mehr die gleichen. Das gilt ganz besonders für Deutschland, aber im Grunde auch für Frankreich. Schon in den zwanziger Jahren gab es beiderseits der Grenze Menschen wie Aristide Briand und Gustav Stresemann, die eine deutsch-französische Annäherung suchten, und doch klappte das damals nicht. Warum?

Seit Richelieu, der ab 1635 in Deutschland massiv eingreift, den Prager Frieden unter den deutschen Konfliktparteien zur Makulatur und damit den Krieg zum Dreißigjährigen macht, seit den Eroberungszügen des Louis XIV. und des Napoleon und seit Preußen sich den Anschein der deutschen Reichskontinuität geben wollte, indem es das vom „Sonnenkönig“ annektierte Elsass und Lothringen „zurückeroberte“, kurz gesagt: So lange territoriale Ansprüche im Raum standen und auch umgesetzt wurden, konnte man von deutsch-französischer Freundschaft nur träumen.

Eine Unnachgiebigkeit, die auf Unverständnis und Wut stößt

1918 ist auf deutscher Seite die Verwirrung nicht zu Ende. Das bismarcksche und wilhelminische Reich, das den Deutschen den Anschein von Einigkeit und Identität gegeben, sie in Wirklichkeit von ihrer Geschichte, ihren Traditionslinien, ihrem Wesen zutiefst entfremdet hatte, geht zugrunde. Aber dieses Kaiserreich auf tönernen Füßen wirkt nach. Die Weimarer Republik, so freiheitlich und demokratisch ihre Ziele auch sind, steht geistig unter preußischer Dominanz, in der Verwaltung, den Eliten und der Reichswehr, aber auch flächenmäßig und demografisch. Außenminister Stresemann sucht den Ausgleich im Westen, betreibt aber im Osten eine scharf antipolnische, revisionistische Politik im friederizianischen Ungeist. Der notwendige Bruch mit Preußen kommt erst 1947.

Auf französischer Seite stand man auch nach dem Sieg im Kielwasser früherer Gebietsansprüche, zuletzt 1840, als Regierungschef Thiers erneut das linksrheinische Deutschland für Frankreich forderte, obwohl der Wiener Kongress das Land geschont hatte. 1919 setzt Paris bei den Alliierten die Besetzung des Rheinlands durch und führte sie nach dem Abzug der Engländer und Amerikaner 1920 in aller Härte weiter, zehn Jahre lang. 1923 bis 1925 kommt die Besetzung des Ruhrgebiets hinzu. Eine Unnachgiebigkeit, die bei den anderen Allierten auf Unverständnis und Wut stößt. Zu Recht, denn Paris fördert so unbewusst die nationalistische Propaganda in den besetzten Gebieten und darüber hinaus. 1933 kommt Hitler an die Macht, 1940 besetzt er das Elsass, 1941 gliedert er es seinem Reich ein.

Rückkehr zum vorpreussischen Mehrheitskatholizsmus

Die große Wende kommt 1945. Die 1940 unterlegenen Franzosen gelangen durch Druck von de Gaulle zum Status eines Alliierten, aber in der zweiten Reihe. Die Amerikaner haben das Sagen und Frankreichs Projekte einer totalen Zerschlagung Deutschlands keine Chance. Paris hat erneut eine Besatzungszone, aber unter akribischer US-Beobachtung. In Paris beginnt man nach den wenigen Jahren, in denen das Land mit sich selbst und ersten kolonialen Unruhen beschäftigt ist, umzudenken. Die Persönlichkeit, die dieses Umdenken verkörpert, ist Robert Schuman. Ein 1886 als deutscher Staatsbürger geborener Lothringer, der erst Deutsch sprach, bevor er Französisch lernte, wird Regierungschef und vor allem Außenminister in Paris ab 1948.

Schuman ist überzeugter Christ, der zahlreiche kirchliche Verbindungen zu Deutschland unterhält – er war 1913 Präsident des Katholikentags in Metz. 1100 Jahre nach Karl dem Großen beginnen ein Lothringer und ein Rheinländer, Konrad Adenauer, die beiden großen Erbmassen des Urkaisers zueinanderzubringen. Auch durch die Rückkehr Deutschlands zum vorpreussischen Mehrheitskatholizismus und durch eine für Frankreich ungewöhnliche Stärke der Christlichen Demokraten in der IV. Republik ist plötzlich das Unmögliche möglich geworden. Die karolingisch-katholische Konstellation Adenauer-Schuman ist das geschichtliche Fenster, das beiden Ländern eröffnet wurde, um den ständigen Konflikt zu beenden. Die Annäherung blieb aber zäh, zaghaft und immer wieder konfliktreich, wie die Auseinandersetzungen um das Saarland zeigten.

Umwälzungen in beiden Ländern

Im Grunde ist de Gaulle schon 1950 mit der Idee einer deutsch-französischen Versöhnung einverstanden, sodass es nach 1958 und seiner Rückkehr an die Macht, die anfänglich Adenauer sehr beunruhigt, doch zur Bestätigung der deutsch-französischen Annäherung durch den Élysée-Vertrag kommt. Dass es aber der frühere Chef der Résistance ist, der 1963 einen Pakt mit dem deutschen Bundeskanzler schloss, macht den Vertrag so immens bedeutend.

Was Schuman und Adenauer in langwieriger Kleinarbeit eingefädelt hatten, konnte de Gaulle feierlich verpacken – mit einem Gottesdienst im Reimser Dom am 8. Juli 1962. Für mich, der kurz zuvor, am Tag der algerischen Unabhängigkeit, geboren wurde, war dieser Tag mein erster Namenstag. Das habe ich aber viel später bemerkt, als ich schon jahrelang Deutschlandforscher und -freund geworden war und 2013, beim 50. Jahrestag des Vertrags, eine Postkarte mit den beiden Großen vor ihren Betstühlen in Reims bekam.

Mit dem Gebilde von 1918 hat das heutige Deutschland nichts mehr zu tun. Es hat ab 1949 zu seinen großen Traditionslinien zurückgefunden, die es auf einzigartige Weise stark und stabil machen: eine föderale Nation, die auf einem komplexen Spiel von Gewalten und unterschiedlichen Machtzentren ruht, wie im römisch-deutschen Reich, wenn auch besser strukturiert. Eine Nation nicht als erzwungene Einheit, sondern als integrierte Vielfalt mit Gottesbezug.

Auch Frankreich hat sich geändert. Zwischen 1918 und heute haben mindestens zwei Erdbeben das Land erschüttert: das Debakel von 1940, die deutsche Besatzung, und die Befreiung 1944 dank massivem amerikanisch-britischen Einsatz. Das Land gibt sich unveränderlich, unteilbar, widerständig und blickt selektiv auf die eigene Geschichte, aber es hat seine militärische Unabhängigkeit eingebüßt und sein Kolonialreich verloren. Atombombe und ständiger Sitz im Uno-Sicherheitsrat wirken wie Relikte aus Kompromissen der Nachkriegszeit.

Die neue Nähe zwischen Bonn und Paris

Immer noch blicken die Franzosen nach Washington und London, suchen nach Lösungen in einer angelsächsischen Welt, deren Kapitalismus sie herzlich beschimpfen, schicken ihre Kinder nach England, klammern sich an mehr oder weniger reale Freundschaften jenseits des Kanals, über dem Ozean. Und dennoch: Die Beziehung zu Deutschland scheint auf der politischen und institutionellen Ebene unzerstörbar, als ob sie von den religiösen Grundlagen vom 8. Juli 1962 und aus der Zeit Adenauers und Schu­mans, für den ein Seligsprechungsprozess eröffnet wurde, ewig zehren sollte.

Ist es aber nicht so, dass die französische Kultur vor den beiden Weltkriegen mehr Gespür für das hatte, was in Deutschland in der Philosophie, in der Literatur, in der Kunst und darüber hinaus passierte? Dass aus einer komplexen und reichen kulturellen Beziehung eine staatstragende und flache geworden ist? Die neue Nähe zwischen Bonn und Paris ging mit dem Versuch einher, die Beziehung auf breiter Basis zu festigen. Sie ging nicht mehr von der Kultur oder den Eliten aus, sondern vom Staat. Die Politik wollte alle mit ins Boot nehmen, die Jugend besonders, damit der Konflikt nie wieder entfacht werden könne. Man gründete das Deutsch-Französische Jugendwerk, führte die Sprache des Nachbarn als erste Fremdsprache an den Schulen ein, vervielfachte die Gemeindepartnerschaften.

Frankreich verfehlt den Blick aufs Ganze

Für die Franzosen wurde Deutschland von der Kulturnation zum institutionellen Freund, selbst auf die Gefahr hin, dass man so jegliches ernsthafte, individuelle Interesse im Keim erstickte. Austauschprogramme gibt es in Hülle und Fülle, aber entsteht dadurch ein ausgeprägtes Interesse für das Nachbarland? Doppelstudiengänge und deutsch-französische Ehen entstanden in nie dagewesener Zahl, aber kennt man das Land des anderen deswegen besser? Die institutionelle Prägung der deutsch-französischen Beziehung ist auch deren Last. Sie fördert die Oberflächlichkeit, wie sie sich im Berlinmythos widerspiegelt: Man fliegt hin, weil es „in“ ist, guckt sich Prenzlauer Berg und Reichstag an und ist danach weder Berlinkenner noch hat man Deutschland gesehen. Um das Land wird ein Bogen gemacht.

Gab es früher eine richtigere Wahrnehmung des Nachbarn? Die Wagnerianer, die in Paris in größerer Zahl anzutreffen waren als in Berlin, haben kein besseres Deutschlandbild vermittelt als jene Literaten, die in die Kollaboration mit dem Besatzer verwickelt waren. Montaigne und Madame de Staël mögen Wichtiges über Deutschland berichtet haben, ihr Bild blieb bruchstückhaft. Da haben die Deutschen günstigere Voraussetzungen: Weil sie in einem polyzentrischen Land leben und von ihm geformt sind, können sie die anderen Länder besser wahrnehmen. Sie haben die Fähigkeit, ein fremdes Land in all seinen Facetten zu betrachten, während die Franzosen dazu neigen, aus einer einzigen Facette Deutschland zu verallgemeinern. So verfehlen sie den Blick aufs Ganze. Sie haben Kant und Heidegger, Goethe und Jünger rezipiert, aber deren spezifischen Kontexte kaum begriffen. Man wendet sich einem Stück der deutschen Wirklichkeit zu, vermeidet aber die für dessen Verständnis so wichtigen Zusammenhänge und Kontrapunkte: zu fremd, zu umständlich.

Der Verlust des Lotharingischen

So trifft heute auf institutionelle Nähe zwischen beiden Ländern eine bleibende kulturelle Distanz. Die Voraussetzungen und Hintergründe, die Deutschland in allen möglichen Bereichen besonders interessant machen, werden nicht begriffen, weil sie nicht ergriffen werden. Die Begriffe Föderalismus, Subsidiarität, Polyzentralität, Wettbewerb werden weiterhin von den meisten – selbst von Experten – weder verstanden noch erklärt. Vielleicht will man sie in Frankreich auch nicht verstehen, weil man sich für das bessere Modell hält.

Wie schwer wirkt doch der Verlust des Lotharingischen! Die Vermittlerrolle der Elsässer und Lothringer gibt es nicht mehr. Beide Regionen wurden nach 1918 – und nach 1945 abermals – einer brachialen geschichtlichen, sprachlichen und kulturellen Entzugskur unterzogen und mit der jüngeren territorialen Reform einer konturlosen „Grand Est“-Großregion einverleibt. Dieser Verlust ist viel gravierender, als man denkt. Das Lotharingische war jahrhundertelang Pufferzone, Laufbrücke und Erfahrungsraum zwischen zwei Welten, die auch heute zwei Welten bleiben. Fehlen die Brückenbauer, die einen gesamthistorischen und ganzheitlichen Blick haben und nicht nur einen fachspezifischen, verarmt die deutsch-französische Beziehung unweigerlich, hundert Jahre, nachdem die Waffen endlich schwiegen.

Dies ist ein Text aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.














 

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