Demokratie - Staatsform der Skandale

Der Schweizer Theatermacher Milo Rau wollte den Reichstag stürmen, um „Demokratie für alle und alles“ durchzusetzen. Parlamentsverächter wie er stellen die bürgerliche Ordnung infrage. Doch es zeigt sich auch, dass sie funktioniert – aller Angriffe zum Trotz

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Milo Rau gibt Anweisungen zum „Sturm auf den Reichstag“ – und scheitert schon nach wenigen Metern / picture alliance
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Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Am 7. November 2017 wurde das Reichstagsgebäude zu Berlin gestürmt – exakt 100 Jahre nach dem legendären Sturm auf den Winterpalast in Sankt Petersburg. Anführer der Attacke auf den Sitz des Deutschen Bundestags war der Schweizer Performance-Aktivist Milo Rau, der mit seiner Putsch-Inszenierung die bürgerliche Demokratie vom Platz fegen wollte, genau wie einst die Bolschewiken die erste und bisher letzte bürgerliche Regierung Russlands unter Alexander Kerenski. 

Milo Raus Berliner Revolution erinnert in Deutschland allerdings fatal an eine andere Vernichtung der parlamentarischen Demokratie: den Reichstagsbrand vom Februar 1933, der den Nazis Anlass war, die Bürgerrechte der Weimarer Republik außer Kraft zu setzen – ein Schritt hin zur Allmacht Hitlers. 

Milo Raus Täter befeuerten ihre Theatertat mit dem Ruf: „Wir machen hier kein Theater.“ Wie stets in linken Protestprojekten steckt auch in diesem ein Widersinn: Es fordert „Demokratie für alle und alles“, wofür laut Auskunft des Liliput-Lenins Rau natürlich nur ein Weltparlament infrage kommen kann, denn: „Unsere Demokratie ist ja nur möglich durch Ausbeutung.“

Darum: Weg mit der Demokratie! Her mit der Demokratie! 

Dem Kapitalismus an die Gurgel gehen

Linke Paradiesvisionen versteigen sich nun mal am liebsten lustvoll ins große Ganze, Endgültige – ohne Rücksicht aufs spießig menschliche Maß. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Gottlob endete die Erstürmung des Reichstags an der polizeilichen Absperrung, die eigentlich den Touristen gilt, wobei es im Falle von Raus Revoluzzern wohl auch ein Verbot getan hätte, den Rasen zu betreten. 

Ja, da hat sich ein Eidgenosse hübsche Parallelen für seine Parlamentsverachtung ausgedacht, vorausgesetzt, er hat überhaupt gedacht. 

Ist es aber nicht dennoch höchste Zeit, dem Kapitalismus, der nach Rau mit seiner Ausbeutung die Demokratie erst möglich und damit unmöglich macht, an die Gurgel zu gehen? Steht nicht das Paradies der globalen Steueroptimierer dem Paradies der globalen Arbeiterklasse auf provozierende Weise im Wege? 

Krude linke Logik

Die Paradise Papers, durch investigative Journalisten unter Führung des früheren Spiegel-Chefredakteurs Georg Mascolo zutage gefördert, werfen ein grelles Licht in „die Schattenwelt des großen Geldes“, wie die Süddeutsche Zeitung den globalen Skandal beschreibt. Sind sie nicht die aktuelle Rechtfertigung für revolutionäre Randale gegen Ratskammern wie den Reichstag? 

Steuerstrategien, die den Staatskassen der Welt Hunderte Milliarden entziehen, sind ja nicht allein Ausdruck der Gier von Gaunern und der Unehrlichkeit von Unternehmern. Sie sind Kernbestand kapitalistischer Philosophie, wie sie die äußere ökonomische Rechte predigt, wenn man gemeinste Geldmacherei überhaupt mit dem Begriff Philosophie adeln darf. 

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung beispielsweise wird Wirtschafts- und Finanzchef Rainer Hank nicht müde, der Steuer-Amoral die Weihe höherer Moral zu verleihen, indem er erklärt: „Solidarität ist unmoralisch.“ Zur Begründung liefert er zwei rhetorische Fragen: „Warum sollte der Schwache sich anstrengen, wenn der Erfolg ihm die billige Hilfe durch den Starken entziehen würde?“ Und: „Warum sollte der Starke sich anstrengen, wenn der Erfolg ihn zu höheren Transferabgaben an die Schwachen verpflichten würde?“ 

Da Steuern solidarische Transferabgaben sind, folgt daraus: Ab mit dem Geld ins Steuerparadies! 

Die Demokratie funktioniert weiter

Hiermit wäre denn der Beweis in Tat und Theorie erbracht, dass der Kapitalismus die bürgerliche Ordnung von Demokratie und Rechtsstaat unterwandert, aushebelt und letztendlich zur Schimäre macht. Weshalb daraus wiederum zwingend zu folgern ist, dass die Parlamente dieser Gesellschaft gestürmt und durch eine „General Assembly“ ersetzt werden müssen, wie sie dem Schweizer Demokratieverächter Milo Rau vorschwebt. 

Ist die westliche Wertewelt erst einmal entmachtet, vertritt dann dieser Sowjet die Entrechteten der Erde, von den kongolesischen Coltanschürfern über die Arbeitsmigranten bis zu den Klimaflüchtlingen. Alles andere wäre Verrat am Volk.

Die Albernheiten der Raus und Hanks entfalten paradoxerweise eine segensreiche Wirkung: Ausgerechnet sie führen das Funktionieren einer Demokratie vor, der mit keiner noch so raffinierten Manipulation beizukommen ist – weder mit verstecktem Geld noch mit verstocktem Geist.

Die Demokratie ist nämlich die Staatsform der Skandale. Die Veröffentlichung der Paradise Papers ist deren aktuellste Manifestation, und als solche Ausdruck demokratischer Streitbarkeit: in den Medien, in der Politik und in der Bürgerschaft. 

Das Reich des Richtigen ist eine Illusion

Was linke Empörte politisch beseitigen möchten, was rechte Empörte ideologisch entmachten wollen, es lebt einfach munter weiter – von Skandal zu Skandal: die offene Gesellschaft mit ihrem vermaledeiten Kapitalismus, dessen solidarische Eingrenzung und Zähmung nur gelingen kann durch den Skandal. 

Der Kapitalismus gehört zur offenen Gesellschaft, ist Teil ihrer Freiheit und deshalb unteilbar. Genau wie die Gleichheit. Gleichheit aber braucht nun mal Brüderlichkeit, in der westlichen Zivilisation gemeinhin unter dem Begriff Solidarität bekannt, welch Letztere sich realisiert im Sozialstaat, der auf solidarischer Umverteilung über Steuern gründet. 

Linksaußen und rechtsaußen träumt man es sich anders. Auch das ist erlaubt in diesem System, das doch abgeschafft gehört oder zumindest in den Griff der Geldelite genommen, auf dass endlich das Reich des Richtigen anbrechen könne, in dem es endlich keine Skandale mehr gäbe. 

Der einzige Skandal in einem solchen System wäre dann das System selbst.

Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop kaufen können.

 

 

 

 

 

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