Debatte um Thomas de Maiziere - Ohne Leitkultur keine Integration

Die Empörung über die Thesen von Innenminister Thomas de Maizière ist ebenso vorhersehbar wie unsinnig. Denn natürlich gibt es Rituale und Regeln, die traditionell gewachsen sind und nach denen wir uns richten. Wer mag sich schon in eine Kultur integrieren, die sich selbst verleugnet?

Thomas de Maizière mit Asylbewerbern: Integration bedeutet immer Integration in die gelebte Alltagskultur der Mehrheit / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Wer vergessen haben sollte, was ein Pawlowscher Reflex ist, dessen Erinnerung wurde am Sonntag auf die Sprünge geholfen. Da veröffentlichte Bundesinnenminister Thomas de Maizière in einem Gastbeitrag für die Bild am Sonntag zehn Thesen zur deutschen Leitkultur. Es dauerte nur wenige Stunden, und über den Minister und seine Thesen rollte eine Welle der Empörung.

Das war absehbar. Denn die Vorstellung, dass es in Deutschland eine Kultur geben könnte, die es zu schützen und zu bewahren gilt, ist in manchen Milieus immer noch eine Provokation. Zugleich fragt man sich unwillkürlich, wo eigentlich das Problem liegt. Denn natürlich gibt es nationale Mehrheitsalltagskulturen, die normierende Kraft haben und die man Leitkultur nennen kann. Es gibt sie in Frankreich, in Italien oder in Deutschland. Sie machen die Eigenarten eines Landes aus, seinen Charakter und seinen Charme. Das macht sie so wertvoll.

Einwände alt und langweilig

Die Einwände gegen das Konzept der Leitkultur sind naheliegend und ebenso alt wie langweilig. Denn natürlich ist die Leitkultur eines Landes nicht klar definierbar. Selbstredend sind kulturelle Eigenschaften soziale Konstruktionen, vieles ist schief, manches widersprüchlich.

Und ohne Frage ist es so, dass der Begriff „Leitkultur“ an seinen Rändern unscharf ist und ausfranst. Das kann gar nichts anders sein. Wer diese Selbstverständlichkeiten ernsthaft als Argument gegen die Idee einer Leitkultur anführt, macht jedes Gespräch über normative Fragen sinnlos. Der kann sich, streng genommen, nur noch sinnvoll über physikalische Tatsachen unterhalten.

Leitkultur ist nicht gleich Grundgesetz

Ebenso unsinnig ist die unter selbsternannten Freigeistern so beliebte Strategie, die deutsche Leitkultur mit dem Grundgesetz gleichzusetzen. Zwar ist das Grundgesetz ohne Zweifel das Produkt deutscher Geschichte und Kultur. Das bedeutet aber nicht, dass sich die normierende Funktion deutscher Alltagskultur in Deutschland im Grundgesetz erschöpfen würde. Der Staat, seine Verfassung und seine Gesetze sind bestenfalls Teil einer umfassenderen Normenkultur. Und gerade in einem liberalen Gemeinwesen sollte immer noch gelten: Erst kommt der Mensch und seine Lebensweise, dann der Staat.

Die Leitkultur ist jene Mehrheitsalltagskultur, die uns alle prägt und nach der wir uns alle irgendwie richten. Sie ist die Summe unserer alltäglichen Rituale, unserer Gewohnheiten und Regeln, unserer Mentalitäten und Traditionen. Die so genannte Hochkultur ist davon lediglich ein Teilaspekt.

Integration ist ein Generationenprojekt

Deshalb besteht Integration auch nicht im Rezitieren von Schiller-Balladen. Integration bedeutet immer Integration in diese gelebte Mehrheitsalltagskultur. Es ist daher eine Illusion anzunehmen, man könne Menschen innerhalb von ein paar Jahren und mittels einschlägiger Kurse in eine ihnen fremde Kultur integrieren. Integration, das zeigt auch die Geschichte der großen Einwanderungsländer, ist immer ein Generationenprojekt. Und sie wird umso besser gelingen, je selbstbewusster die jeweilige Aufnahmekultur ist.

Im Umkehrschluss bedeutet das: Wer die Existenz einer Leitkultur leugnet, verhindert das Gelingen von Integration. Denn Menschen können sich nur in ein kulturelles Angebot integrieren, das ihnen auch gemacht wird. Wer integriert sich schon in eine Kultur, die von sich behauptet, dass es sie gar nicht gibt? Möchte man in so einem Club Mitglied werden?

Doch genau hier liegt das eigentliche Problem: Im Namen von individueller Emanzipation und Selbstverwirklichung hat sich in den europäischen Wohlstandsgesellschaften, insbesondere bei den gut Ausgebildeten, den Flexiblen, Polyglotten und international Vernetzten, ein neuer Begriff von Kultur etabliert.

Moderne Hybridkultur bietet wenig Antworten

Kultur ist nun nicht mehr ein Raum aus Symbolen, Werten und Normen, in die man hineingeboren wird, sondern ein globales Konsumangebot, aus dem sich das nach Lebenssinn suchende Individuum frei bedienen kann. Man liebt französische Filme, italienisches Essen, skandinavisches Design, meditiert in indischer Yoga-Tradition, und am Samstagabend tanzt man Tango Argentino.

Diese globale Hybridkultur hat mit Kultur im traditionellen Sinne wenig zu tun. Sie ist ein Lifestyle. Die Vorstellung, dass es so etwas wie eine normierende Leitkultur geben könnte, ist aus ihrer Sicht ein Skandal. Denn sie widerspricht dem Ideal des traditionsbefreiten, sich selbst entwerfenden Individuums, das sich zu diesem Zweck aus dem Baukasten weltweiter folkloristischer Angebote bedient.

Dass das Konzept einer traditionellen Mehrheitsalltagskultur dieser herrschenden Ideologie nicht entspricht, bedeutet allerdings nicht, dass es sie in Deutschland nicht gibt. Natürlich gibt es sie. Und Thomas de Maizière hat zu Recht daran erinnert, dass Integration eine entscheidende Voraussetzung hat: eine Kultur, in die man sich integrieren kann. Das modische Angebot eines Patchwork-Lebensentwurfes wird das nicht leisten.

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