Wie Corona unser Verhalten prägt - Lebenslanges Lernen und Händewaschen

Seit Corona nimmt der Fürsorgeanspruch des Staates weiter zu: Händewaschen hier, Abstand halten da. Stefan aus dem Siepen erkundet diesmal das ganze Ausmaß einer teils rührenden öffentlichen Fürsorge.

Alte Kulturtechnik neu erlernt: Händewaschen/ dpa
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Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

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Neulich, während des „harten Lockdowns“, auf dem Flughafen in Paris. Es herrscht geisterhafte Leere, so gut wie alle Flüge sind gestrichen, die Geschäfte mit Gittern verbarrikadiert, „duty-free“ verschwunden, nur einige versprengte Gestalten, die Unentwegten des Fliegens, gehen hier und da durch die Hallen. Plötzlich ertönt eine Stimme über Lautsprecher, die surreale Stille durchbrechend: „Bitte lassen Sie Ihre Gepäckstücke nicht unbeaufsichtigt!“, auf Französisch, Englisch und Chinesisch.

Ich schließe im Gehen die Augen, ein Gefühl der Geborgenheit durchrieselt mich: Es gibt Dinge, auf die man sich verlassen kann! Die mahnenden Hinweise, die unser Leben wie ein Grundgeräusch begleiten, rituell und beschwörend, sie enden nie. Selbst wenn es nur einen einzigen Menschen gäbe, der sie hören könnte, oder nicht einmal einen einzigen: Die Fürsorge ginge weiter. Schon Seneca wusste: Satis est unus, satis est nullus.

In einem Berliner Bus hörte ich die Lautsprecherdurchsage: „Bitte halten Sie sich während der Fahrt fest.“ Sofort suchte ich, nicht ohne Schuldbewusstsein, nach einem Haltegriff. Es war, als hätte eine übergeordnete Instanz mich beobachtet und sei – ruhig, aber bestimmt – gegen mein nachlässiges Verhalten eingeschritten. Seit Ausbruch der Corona-Krise werden wir auf allen öffentlichen Toiletten schriftlich aufgefordert, uns die Hände zu waschen.

„1) Hände unter fließendes Wasser halten. 2) Rundum einseifen …“ Ein Fall von lifelong learning. Die Obrigkeit hat bemerkt, dass die Kulturtechnik des Waschens nicht genügend bekannt ist, und schreitet zur Nachhilfe. Beobachtet sie uns auch auf der Toilette?

Unantastbarer Fürsorgebestand

Auf einem Altglascontainer las ich: „Der Einwurf ist nur zwischen 7 und 20 Uhr gestattet! Sie werden gebeten, die oben genannten Zeiten einzuhalten.“ Der zweite Satz mag redundant erscheinen, beruht jedoch auf der Einsicht, dass Wiederholungen noch nie geschadet haben. So war es ja schon im Kindergarten! Der Nachklapp folgt zugleich der bewährten Maxime: „Es reicht nicht aus, dass es ein Gesetz gibt; man muss auch darauf hinweisen, dass es gilt.“ 

In München sah ich beim Flanieren einen Automaten, aus dem sich Hundebesitzer ein Plastiksäckchen ziehen können; die Aufschrift: „Umwelt sauber und fein – Hundekot hier rein!“ Das rührte mich: Die höhere Instanz kann auch Verse schmieden, sie bedient sich, um uns diskret zu leiten, der Poesie! In Wien gibt es Automaten für „Gassisäckchen“, und sie werben mit dem Spruch: „Nimm ein Sackerl für mein Gackerl.“ Hier gefällt nicht nur die Reimform, sondern auch das subtile Rollenspiel. Der Hund spricht sein Herrchen an, oder vielmehr: Die Obrigkeit tut es, indem sie in den Vierbeiner hineinschlüpft. Und der Vierbeiner ist reinlicher veranlagt als der Mensch, denn er bittet diesen um ein Sackerl. Gut getroffen!

Auch wenn Corona verschwinden sollte, werden die Ermahnungen zum Händewaschen bleiben. Die Verantwortung für ihre Abschaffung könnte niemand tragen; ist die Aufforderung einmal in der Welt, gehört sie zum unantastbaren Fürsorgebestand. Man stelle sich vor, die Bahn käme eines Tages auf den abstrusen Gedanken, ihren Spruch „Bitte achten Sie beim Aussteigen auf den Abstand zwischen Zug und Bahnsteigkante“ abzuschaffen: Sofort würden Dutzende von Passagieren in den verhängnisvollen Spalt stürzen. Und selbst wenn nur ein einziger hineinstürzte – oder nicht einmal ein einziger!
 

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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