Zunahme suizidaler Gedanken bei Jugendlichen - „Wir sind in einer katastrophalen Situation“

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat einen Sturm der Entrüstung losgetreten, als er jüngst behauptete, der Coronakurs sei nicht ursächlich für mehr psychische Störungen. Studien der Universität Krems belegen seit Beginn der Krise das Gegenteil. Im Interview erklärt Studienleiter Christoph Pieh, wie katastrophal sich die Maßnahmenpolitik auf die psychische Gesundheit von Kindern auswirkt.

In der Einsamkeit kommen dunkle Gedanken / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Christoph Pieh ist Universitätsprofessor für Psychosomatische Medizin und Gesundheitsforschung an der österreichischen Donau-Universität Krems. In den zurückliegenden zwei Jahren hat er zahlreiche Studien zu den Auswirkungen von Covid-19 auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen wie Erwachsenen durchgeführt. Eine im Dezember 2021 veröffentlichte Studie konnte zeigen, dass 62 Prozent der Mädchen und 38 Prozent der Jungen eine mittelgradige depressive Symptomatik aufwiesen. 18 Prozent litten unter wiederkehrenden suizidalen Gedanken.

Herr Pieh, seit Beginn der Corona-Krise haben Sie und Ihre Kollegen an der Donau-Universität Krems immer wieder Studien zur psychischen Gesundheit der Bevölkerung durchgeführt. Eine Ihrer letzten Studien hat sich dabei mit suizidalen Gedanken von Kindern und Jugendlichen auseinandergesetzt. Was ist das Ergebnis?

Was wir aktuell sehen, ist tatsächlich eine Verschärfung der Intensität und der Regelmäßigkeit solcher Gedanken. 14 Prozent der Jungen und 20 Prozent der Mädchen im Alter zwischen 14 und 20 haben davon berichtet, dass sie Tag für Tag wiederkehrende suizidale Gedanken haben. Das ist eine alarmierende Botschaft.

Eine gerade veröffentlichte Studie der Universität Essen, durchgeführt vom dortigen Kinderarzt Christian Dohna-Schwake, will sogar herausgefunden haben, dass sich allein zwischen März und Mai 2021 die Zahl der Suizidversuche – also nicht nur der Gedanken – bei Jugendlichen verdreifacht haben soll.

Das korreliert mit unseren Studienergebnissen, aber auch mit Angaben der Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH Wien, die zumindest von doppelt so vielen Aufnahmen wegen Suizidversuchs wie vor der Pandemie berichten. Diese Entwicklung ist besorgniserregend; gar nicht mal, weil diese Gedanken vorkommen – das ist nicht so ungewöhnlich bei Jugendlichen –, sondern weil sie regelmäßig wiederkehren.
    
Wie „normal“ sind denn solche Selbstmordgedanken in der Regel bei Kindern und Jugendlichen?

Das kommt durchaus häufiger vor, als man denkt. Rund ein Drittel der Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr, so sagen es die Zahlen, hat irgendwann Suizidgedanken. Das sind in der Regel punktuelle Dinge. Normalerweise werden diese Gedanken nur sehr selten in die Tat umgesetzt. Sie chargieren zwischen Unzufriedenheit, Lebensmüdigkeit und unbeantworteten Sinnfragen. Normalerweise sind sie auch nicht so destruktiv wie später bei Erwachsenen. Das Erschreckende an der aktuellen Situation ist aber, dass diese Gedanken eben tagtäglich wiederkehren.

Haben sich diese Suizidgedanken im Laufe der Corona-Maßnahmen verändert?

Unsere erste Untersuchung zu diesem Thema stammt vom Beginn des letzten Jahres. Wenn wir die mit den aktuellen Daten vergleichen, dann sehen wir zwar durchaus eine statistische Veränderung; diese aber ist vermutlich nicht klinisch relevant. Damals lag das Mittel bei 16 Prozent der Jugendlichen, heute bei 18 Prozent. Es zeigt sich also keine wesentliche Verschlechterung; doch das allein ist kein Grund zur Freude. Wir waren damals in einer katastrophalen Situation, und wir sind es heute immer noch.

Suizid und suizidale Gedanken zeigen immer nur die Spitze des Eisberges. Was aber liegt darunter?

Darunter können zahlreiche depressive Symptome, in aller Regel schwere Depressionen, aber auch andere psychische Erkrankungen wie Persönlichkeitsstörungen, bipolare Störungen oder Schizophrenien, liegen. Das Erschreckende ist, dass es auch hier keine Veränderung gibt – auch jetzt nicht, wo das Distance-Learning weitestgehend vorbei ist. Vor einem Jahr haben wir ja alle geglaubt, das liege an der fehlenden Tagesstruktur und an der Enge daheim, wo man sich im Lockdown viel häufiger mit den Eltern streiten musste. Wir haben geglaubt, mit dem Ende der harten Lockdown-Maßnahmen würde das besser …

Aber?

Christoph Pieh / c Rafaela Pröll

Es wurde nicht besser. De facto haben wir die gleiche Situation wie damals: 50 Prozent der Jugendlichen haben depressive Symptome, eine ähnlich hohe Anzahl leidet unter Angstsymptomen, 25 Prozent leiden unter Schlaflosigkeit. Und ich glaube auch nicht, dass wir jetzt endlich über dem Berg sind. Wenn die Maßnahmen-Situation so bleibt, dann werden auch die psychischen Probleme nicht weniger. Und diesmal kommt sogar noch etwas erschwerend hinzu, das wir beim letzten Mal nicht so im Fokus hatten: der deutlich ansteigende und stetige Alkoholkonsum. Bei 16 Prozent aller Jungen wie Mädchen kommt es mittlerweile zu Alkoholmissbrauch; und damit meine ich nicht, dass Jugendliche Alkohol trinken, weil sie am Wochenende fortgehen und sich betrinken. Ich rede von Alkoholkonsum, der längst psychische oder körperliche Konsequenzen hat. Das ist eine Katastrophe.

Worin sehen Sie die Ursachen für diese Entwicklung? Liegt es jenseits von Strukturverlust auch an einer Zukunft, die aufgrund von Corona nur noch mit dystopischen Bildern besetzt ist?

Die Frage nach den Ursachen ist die Gretchenfrage. Wissenschaftlich betrachtet begibt man sich da auf dünnes Eis. Ursachen sind immer individuell. Der eine ist daheim und hat Gewalterfahrungen, der zweite macht keine Sinnerfahrung, ein dritter flieht in eine Multimediawelt. Man darf da nicht verallgemeinern. Was man aber sagen kann, ist, dass es ein hohes Maß an Ungewissheit gibt. Wie geht es mit der Pandemie weiter? Kann ich heute in die Schule gehen? Die Jugendlichen werden tagein, tagaus mit unzähligen Fragen konfrontiert. Dabei sind sie doch eigentlich Menschen in der Blüte ihres Lebens. Normalerweise geht es in dieser Altersphase um das Austesten von Grenzen, um das Kennenlernen neuer Leute, um ein Ausprobieren des eigenen Selbst. All das aber ist jetzt weggebrochen. Es gibt immer weniger Ressourcen, aber immer mehr Belastungen. 

Ist Angst eventuell auch ein pandemisches Gefühl? Manifestiert sich da bei den zumeist ja vulnerableren Jugendlichen etwas, was eigentlich ein gesamtgesellschaftliches Problem ist?

Es gibt sicherlich in allen Altersgruppen einen deutlichen Anstieg von Angst. In Österreich etwa liegt die Zahl der Angsterkrankungen fünfmal höher als noch vor der Pandemie. Unsicherheit erzeugt eben Ängste. Und gerade Jugendliche bewegen sich auf unsicherem Terrain. Sie fragen sich, ob sie die Schule schaffen, ob es überhaupt Sinn macht zu studieren, ob die Wirtschaft zusammenbricht. Vieles, was symptomatisch wird, beginnt mit Schwarzmalerei. 

In vor-pandemischen Zeiten haben Kinder und Jugendliche ihre Eltern im besten Fall als eine Art externe Ressource wahrnehmen können. Nun aber erleben auch die Eltern Angst. Verändert das nicht auch die Kinder?

Das ist sicherlich ein Faktor. Etwas anderes aber kommt noch hinzu: Normalerweise sind Jugendliche in einer Phase, in der sie sich von den Eltern abtrennen, um das eigene Leben zu beginnen. Aktuell aber geschieht das Gegenteil; es gibt ein hohes Maß an Abhängigkeit. 

Welche Erfahrungen machen Jugendliche, wenn Sie mit ihren suizidalen Gedanken oder mit anderen psychisch belastenden Erfahrungen nach außen gehen?

Ich bin immer wieder überrascht, wie hoch noch immer die Stigmatisierung der Gesellschaft gegenüber psychischen Krankheiten ist. Oft wird es als Zeichen von Schwäche interpretiert. Ich glaube, es wäre unglaublich wichtig, dieses Thema endlich in die Schulen zu bringen. Wir müssen darüber reden. Wir müssen Aufklärungsstunden geben; das würde den psychischen Erkrankungen das Unbekannte nehmen. Wir haben zum Beispiel gerade eine Online-Kampagne gestartet, mit der wir über psychische Erkrankungen aufklären und wo wir Hinweise geben, was man als Betroffener machen kann: Es gibt zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen Bewegung und psychischen Erkrankungen. Bewegung hilft nicht nur prophylaktisch, sie kann auch die Symptome mildern. Andersherum ist es wiederum mit der Smartphone-Nutzung.

Welche Erfahrungen machen Sie derzeit vonseiten der Politik?

Es fehlt noch immer der Masterplan, um das Problem der psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen in den Griff zu bekommen. Wir können das ja nicht alles über Psychotherapie lösen. Wenn derzeit 50 Prozent der Jugendlichen psychische Symptome haben, wie sollen wir das in den Griff bekommen? Hier in Österreich gibt es eine Millionen Jugendliche, aber es gibt nur 8000 Psychotherapeuten, und unter denen sind nur gut 1300 auf Kinder und Jugendliche spezialisiert. Ich denke, in Deutschland ist das Verhältnis kaum anders. Und versprochene Gelder sind bis heute nicht ausgeschüttet worden. Das ist eine Katastrophe, besonders wenn ich an die Chronifizierung denke. Ich lasse doch auch niemanden mit einem Bluthochdruck oder mit einem Diabetes mellitus über ein halbes Jahr lang einfach unbehandelt. Die Schäden wachsen dann ins Unermessliche.

Mit der Chronifizierung sprechen Sie noch einen anderen Punkt an: die Langezeitfolgen der Krankheitsbilder. Gemeinhin haben wir ja das Bild, dass es jetzt da draußen Maßnahmen gibt, die zu Depressionen führen, und sind die Maßnahmen dann eines Tages weg, dann sind auch die Depressionen weg. Aber stimmt das denn so?

Es gibt dazu kaum Daten, da wir ja keine Vergleichswerte haben. Natürlich werden sich die Zahlen reduzieren, wenn die Pandemie eines Tages wieder vorbei ist. Aber es wird auch Menschen geben, die danach noch depressiv sein werden. Wir reden jetzt alle immer über Post-Covid. Aber was ist mit den Depressionen, die chronisch werden können? Wenn jemand eine Depression hat, dann hat er auch ein vielfach erhöhtes Risiko, ein weiteres Mal in seinem Leben an einer Depression zu erkranken. Zudem wissen wir, dass gut 20 Prozent aller Depressionen chronisch verlaufen bzw. mindestens zwei Jahre andauern. Ich kann nicht sagen, ob man diese Zahlen auf die aktuelle Situation umlegen kann; was ich aber sagen kann, ist dies: Ich habe wenig Hoffnung, dass wir nach der Pandemie einfach auf Vor-Pandemielevel weitermachen können.

Was können Eltern in der aktuellen Situation tun, wenn sie bemerken, dass sich ihr Kind verändert oder gar unter suizidalen Gedanken leidet?

In der Regel werden Suizidversuche und auch erfolgreiche Suizide zuvor angekündigt. Es ist eher nicht so, dass Betroffene nichts sagen. Das Thema wird aktiv angesprochen. Man sollte das auf jeden Fall ernst nehmen. Und man sollte auf Veränderungen achten: Wenn sich eher extravertierte Menschen plötzlich zurückziehen, wenn sie nicht mehr reden oder ihr Zimmer nicht mehr verlassen, dann können das Alarmsignale sein. Man sollte das Thema dann auch durchaus aktiv ansprechen, und man sollte nicht enttäuscht sein, wenn die Betroffenen lieber mit jemand anderem darüber reden möchten. Wichtig ist, dass man das Thema aus dem Dunstkreis des Nebulösen herausholt. 

Eine erste Anlaufstelle bei Depressionen, Ängsten oder suizidalen Gedanken ist die Seite www.istokay.at. Hier gibt es auch Informationen und Kontakte für Leser aus Deutschland.

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