Teju Cole - Der Weltvermesser

Der Schriftsteller Teju Cole wird zu den bedeutendsten Stimmen seiner Generation gezählt. Mit seinen Essays will er nicht unterhalten, sondern bezeugen, was immer schon da war. Ein Porträt

Erschienen in Ausgabe
Teju Cole ist nicht nur ein begabter Schriftsteller, sondern auch ein ausgezeichneter Fotograf / picture alliance
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Autoreninfo

Thomas David schreibt seit Mitte der neunziger Jahre für Zeitungen und Magazine. Er ist Autor zahlreicher Radiofeatures

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Die schwerelosen Ellipsen des Kammermusiksaals, den der Architekt Frank Gehry der Berliner Barenboim-Said-Akademie zum Geschenk gemacht hat. Das Publikum, das sich an diesem Spätnachmittag in dem in kanadisches Zedernholz eingefassten Oval allmählich einen Platz sucht, während Teju Cole am Rande des Parketts steht und in ein Gespräch mit dem Dekan der 2012 von Daniel Barenboim begründeten Musikhochschule vertieft ist: Cole ist auf der Durchreise.

Er will in einem Vortrag an den 2003 verstorbenen amerikanisch-palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward W. Said erinnern. Vor zwei Tagen hat er in New York über seine Arbeit als Schriftsteller und Fotograf gesprochen, nächsten Samstag nimmt er an einer Podiumsdiskussion an der Yale University teil, dann muss er weiter nach Bogotá, Toronto und Boston. Anfang Juni erscheint in Deutschland „Blinder Fleck“, der aus Fotos und Texten bestehende Essay, in dem Cole seine seit dem internationalen Erfolg des Romans „Open City“ (2011) unternommene Vermessung der Welt reflektiert. Es ist für den 1975 in den USA geborenen, in Nigeria aufgewachsenen Autor immer auch eine Vermessung des Geistes und seiner Wahrnehmungsgrenzen. „Lange bevor ich auf die Verweise stieß“, so Siri Hustvedt in ihrem Vorwort zu „Blinder Fleck“, „verstand ich, dass Teju Coles Projekt ein phänomenologisches ist. Es ist die Erforschung des Verhältnisses zwischen dem körperlichen Bewusstsein und der sichtbaren Welt.“

Die Angst vor kommenden Katastrophen

Cole sitzt im Parkett und lehnt sich der Musik entgegen, als wolle er den Atem der Musiker spüren, die Schönbergs „Ode to Napoleon“ aufführen. Er scheint mitzuschwingen und ähnlich wie der von Mahler ergriffene Protagonist aus „Open City“ sowohl „mit dem Geist als auch mit dem Körper“ zuzuhören. Er legt sich seinen Schal um, tritt ans Pult und spricht mit souveränem Understatement über seine Bewunderung für Edward Saids intellektuelle Brillanz. Für Saids unnachgiebige, von tiefer Liebe zum westlichen Kanon erfüllte Kolonialismuskritik, das Ringen um die privaten und politischen Begegnungen zwischen Ost und West, die rückhaltlos aufgeschlossene Neugier auf das Leben der anderen, die auch ­Coles Werk auszeichnet und die Said zu einem unsterblichen Toten macht.

Im Kontrapunkt der Rede Coles elegische Beschreibung der „reinen Musik“ von Beethovens spätem Streichquartett Nr. 15. Cole trägt heute und hier ein dunkelblaues Sakko, eine schwarze Hose. Auf dem Stuhl liegt sein schwarzer Hut. In der anschließenden Podiumsdiskussion verkündet er die Teilen des Publikums noch unbekannte Nachricht über den „Terroranschlag in Münster“, die Amokfahrt vom 7. April, bei der zwei Menschen ums Leben gekommen sind.

„Die Angst vor kommenden Katastrophen hat sich in meinem Fall ein wenig früh bemerkbar gemacht“, sagt Teju Cole. Am Tag danach sitzt er in einer Lounge im Hotel am Bebelplatz und erzählt von seiner Kindheit in Lagos, von der Ahnung drohenden Unheils, die ihn im Alter von zehn Jahren ergriff; von seiner Gewissheit, dass der Friede ein anomaler, vorübergehender Zustand der Geschichte ist. „Aber natürlich“, sagt er, „hat jedes altkluge Kind derartige existenziellen Ahnungen.“ Auf dem Tisch ein Exemplar seines 2007 zuerst in Nigeria veröffentlichten Debütro­mans „Jeder Tag gehört dem Dieb“, dessen Protagonist das Lagos seiner Kindheit durchstreift. Exemplare von „Open City“ und dem Essayband „Vertraute Dinge, fremde Dinge“ (2016), in denen Cole seine Begegnung mit der erhabenen, furchteinflößenden Welt fortschreibt.

„Es gibt keinen Zustand der großartigen Isolation“

„Als ich mit dem Schreiben anfing, war mir ziemlich schnell klar, dass ich kein Entertainer sein würde“, sagt er. „Dass ich lediglich bezeugen musste, was schon immer da gewesen ist.“ In den Bildern und Texten von „Blinder Fleck“ spürt er den Schwingungen nach, die die auf seinen Reisen besuchten Orte miteinander verbinden. Den Erinnerungen an die Lebenden und die Toten; der verbindenden Kraft universeller menschlicher Erfahrung, die ihn auch an diesen wenigen Tagen in Berlin erfüllt. Der alle kulturellen und politischen Grenzen überwindenden Kraft der Kunst, die er in seinem Vortrag an der Barenboim-Said-Akademie heraufbeschworen hat.

Teju Cole sagt: „Eine Sache, die ich auf meinen Reisen gelernt habe, ist, dass es keinen Zustand der großartigen Isolation gibt.“ Er lehnt sich vor und greift nach der Tasse. „Wir brauchen Menschen. Wir alle brauchen wirklich andere Menschen.“ Er trinkt seinen Cappuccino und stellt die Tasse zurück auf den Tisch. Demnächst muss er weiter. Er sagt: „Wir alle ziehen unsere Grenzen, aber wir müssen sicherstellen, dass andere Menschen und deren Erfahrungen ihren Platz darin haben.“

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.






 

 

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