Claas Relotius im Interview - Bad Boy Relotius

Vor gut drei Jahren erschütterte die „Causa Relotius“ die deutsche Presselandschaft. Dem „Spiegel“-Journalisten Claas Relotius war es gelungen, jahrelang gefälschte Reportagen zu veröffentlichen. Nun spricht er im Schweizer Magazin „Reportagen“ erstmals öffentlich über seinen Fall.

Claas Relotius im Jahr 2021 / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Tom Kummer hatte wirklich Humor. Als der einstige Tempo- und SZ-Magazin-Reporter gut 13 Jahre nach dem Skandal um gefälschte Interviews und zusammenphantasierte Zeitschriftentexte eine Comeback-Story im Schweizer Magazin Reportagen veröffentlichte, gab er dieser den Titel „Borderline“. Es war ein ironisches Augenzwinkern. Zwar geht es in dem Text vordergründig tatsächlich um eine Grenzlinie – Kummers Reportage beschäftigt sich mit dem Grenzverkehr zwischen Mexiko und den USA –, Veteranen von Nineties und Pop-Kultur wussten damals indes gleich, welch Grenze der im Jahr 2000 gestürzte Journalist mit seinem Text eigentlich im Sinn hatte.

Borderline, das war ein Hinweis auf die unscharfe Demarkationslinie zwischen Fiktion und Realität. Generationen von Reportern hatten sich nach und nach an sie herangepirscht. Am bekanntesten sind bis heute die US-Amerikaner James Agee und Hunter S. Thompson. Letzterer hatte ihr einst den Beinamen „Gonzo“ gegeben – eine Reportage-Gattung, bei der weniger die Objektivität, als vielmehr das subjektive Erleben des Autors im Vordergrund steht. Kummer hatte das Rad weitergedreht. Seine Texte sind reine Phantasiegebilde, die er im Stile eines konventionellen Presseinterviews im längst weich gewordenen Untergrund einer vermeintlichen Wirklichkeit verankern wollte.

Nach dem Absturz

Claas Relotius hat keinen Humor. Dabei hat auch er jetzt einen Text im Schweizer Magazin Reportagen veröffentlicht. Und auch sein Text trägt das Wort Grenze gleich oben in der Headline: „Ich hatte nicht mehr das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten“. Es ist die Abschrift eines Interviews, das Margrit Sprecher und Daniel Puntas Bernet mit Claas Relotius geführt haben und in dem der einstige Star-Reporter des Nachrichtenmagazins Der Spiegel dezidiert beschreibt, wie es zu seinem vielbeachteten Auf- und Abstieg kommen konnte. 

Zur Erinnerung: Claas Relotius, das war der Mann, der im Auftrag der renommiertesten deutschsprachigen Zeitungen und Magazine Reportagen geschrieben, der ein Jahr lang festangestellt für den Spiegel gearbeitet und dem man die großen Journalistenpreise nur so hinterhergeschmissen hat, solange, bis der Himmelstürmer vor drei Jahren ganz plötzlich vom Drahtseil fiel. Einem Kollegen, dem deutsch-spanischen Journalisten Juan Moreno,  war damals aufgefallen, dass es zahlreiche Unstimmigkeiten in Relotius‘ Texten gibt. Moreno war der Sache nachgegangen, und so wurde am Ende aus der „Edelfeder Relotius“ die „Causa Relotius“ – ein Fälscherskandal, der nicht nur das Spiegel-Redaktionshaus an der Hamburger Ericusspitze erschüttern sollte.

Wahn und Wirklichkeit

Man sollte also einiges erwarten dürfen von diesem ersten Interview, das Relotius nach seinem Rauswurf beim Spiegel und nach einer langen Psychotherapie gegeben hat. Und in der Tat: Einige Passagen des Interviews sind wirklich interessant: „Das hemmungslose Schreiben hatte für mich eine ganz egoistische Funktion“, gesteht Relotius da etwa. „Es hat mir geholfen, Zustände, in denen ich den Bezug zur Realität verloren habe, zu bewältigen, zu kontrollieren und von mir fernzuhalten.“ Auch spricht er davon, dass er bereits seit seinem frühen Erwachsenendasein an dissoziativen und psychosenahen Zuständen leide. Diese Auflösungen von Wahn und Wirklichkeit, bei der er zeitweise sogar Stimmen gehört haben will, habe er auf seine Texte übertragen: „Ich habe in der unverrückbaren Überzeugung geschrieben, es würde bei der Erzählform Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht oder nicht. […] Ich habe es mir damit leicht gemacht und das offensichtlich Falsche für das Richtige halten wollen“, sagt Relotius, für den es beim Schreiben immer auch um die Wiedergewinnung von Klarheit und Grenzen gegangen sei.

An anderen Stellen wiederum liest sich das Interview eher wie die Büßerrede eines mittlerweile trockenen Alkoholikers: „Ich bin erschrocken über mich selbst, noch immer, und es tut mir aufrichtig leid.“ Oder: „Es gibt Leute, die an eine sogenannte Lügenpresse glauben oder daran, dass Journalisten arrogante Menschen seien. Mein Verhalten hat diese Verschwörungstheorien scheinbar bestätigt. Ich kann das nicht wiedergutmachen.“

Wer bei diesem ersten „Relotius“ nach dem journalistischen Super-Gau also eine philosophische Einlassung zu den großen Fragen von Konstruktion und Simulation, von Physik und Metaphysik erwartet, der wird enttäuscht. Relotius ist eben nicht Kummer. Wer indes wirklich wissen möchte, wie die tiefen Abgründe einer dissoziativen Störung aussehen und wie einem der fest geglaubte Boden der Wirklichkeit regelrecht unter den Füßen weggezogen werden kann, dem sei dieses Interview unbedingt empfohlen.

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