Cicero-Foyergespräch mit Andreas Voßkuhle - „Wir können die AfD nicht aus dem politischen Diskurs verbannen“

Im Gespräch mit Cicero beurteilte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, den Einzug der AfD in den Bundestag, die rechtliche Lage in Polen und die Forderung nach einer Obergrenze für Asylbewerber

Andreas Voßkuhle (Mitte) im Gespräch mit Alexander Marguier und Christoph Schwennicke / Bernd Hentschel
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Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, hat einen besonnenen Umgang mit der Alternative für Deutschland (AfD) angemahnt. „Wir können nicht einfach diejenigen, die eine Partei gewählt haben, die einer Mehrheit von uns vielleicht nicht gefällt, aus dem politischen Diskurs verbannen“, sagte er beim Cicero-Foyergespräch am Mittwochabend in Karlsruhe. Es wäre vollkommen falsch, dem Populismus so zu begegnen, weil der Populismus genau das tue: „Andersdenkende aus dem politischen Prozess zu verbannen.“ Voßkuhle nannte das Wahlergebnis eine „Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik“. Nicht nur die Parteien, sondern die Gesellschaft als Ganzes würde gut daran tun, das Wahlergebnis ernst zu nehmen. „Es gibt einen Teil in der Bevölkerung, der sich aus unterschiedlichen Gründen nicht vertreten fühlt.“

Künftig werde es sehr darauf ankommen, zwischen normaler politischer Debatte und antidemokratischem Populismus zu unterscheiden, so Voßkuhle weiter. „Populisten nehmen für sich in Anspruch, zu wissen, was das Volk will. Und behaupten, dass diejenigen, die sich gegen diese Anmaßung von Wissen stellen, Volksverräter sind.“ Ein solcher Anspruch sei in vielerlei Hinsicht mit dem hiesigen Demokratie-Modell nicht vereinbar. Man könne beispielsweise nicht von einem homogenen Volk ausgehen, weil das überhaupt nicht existiere. Solche Äußerungen stellten die pluralistische Gesellschaft im Grundsatz in Frage. Dagegen müsse man dann auch etwas tun, sagte Voßkuhle. „Das Problem ist, wenn ich den anderen nicht mehr als politischen Gegner, sondern als Feind, als Vaterlandsverräter begreife.“

Plädoyer für Einwanderungsgesetz

Kritisch kommentierte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts die Tatsache, dass der neu gewählte Bundestag so viele Mitglieder hat, wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. „Ich hätte mich persönlich gefreut, wenn die Große Koalition in der Lage gewesen wäre, ein neues Wahlrecht zu etablieren. Vielleicht sogar mit einer Änderung des Grundgesetzes“, sagte Voßkuhle. Man sei sich nicht einig geworden, weil sich alle Parteien fragen würden, was das für sie bedeute. Voßkuhle sprach sich für die Einführung des Grabenwahlsystems aus. In diesem Wahlsystem würden 50 Prozent der Abgeordneten nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt und 50 Prozent über die Direktmandate in den Wahlkreisen. „Das Grabenwahlsystem wäre eine sehr saubere Lösung. Aber sie hat einen Nachteil: Die kleinen Parteien hätten damit Probleme“, so der Gerichtspräsident.

Von einer neuen Regierung erwartet Voßkuhle zudem ein „modernes Einwanderungsgesetz“. Da bei den Zugewanderten auch viele dabei seien, die keinen Flüchtlingsstatus nach dem Völkerrecht hätten, könne man auch über Obergrenzen nachdenken. „Jedes Land, das ein Einwanderungsrecht hat, hat eine Obergrenze", sagte er und schränkte ein: „Eine Obergrenze für Asylbewerber ist nicht vereinbar mit Völkerrecht.“ Zwar gäbe es einen "Vorbehalt des Möglichen", aber Deutschland habe aktuell nicht das Problem, dass es diese Aufgabe nicht schultern könne.

„Polen stellt Rechtsstruktur der EU in Frage“

Kritisch äußerte sich der Präsident des Bundesverfassungsgerichts zur Lage in Polen. Es sei erschreckend, so Voßkuhle, wie ein prosperierendes Land, das zudem die meiste Unterstützung durch EU-Gelder erhalte und ein weltweit geschätztes Verfassungsgericht hatte, „innerhalb weniger Jahre und Monate seiner demokratische Kultur und sein Justizsystem zerstört“. Im Hinblick auf das Urteil des EuGH zur Flüchtlingsaufnahme verwies Voßkuhle außerdem darauf, dass neben eines Rechtsstaatsverfahrens und Vertragsverletzungsverfahrens derzeit auch geprüft werde, ob Finanz-Zuwendungen künftig an Bedingungen gebunden werden könnten.

„Selbstverständlich können wir nicht in einer Gemeinschaft leben, in der sich jeder frei entscheiden kann, ob er einem Urteil eines dafür zuständigen Gerichts folgen will oder nicht“, sagte Voßkuhle. Damit würde man die Grundlagen der Europäischen Union komplett verlassen. In Polen gäbe es nicht nur ein partielles Rechtsversagen, dadurch verändere sich auch die Rechtsstruktur der EU. „Das macht das so dramatisch und deshalb sind wir am Bundesverfassungsgericht auch so beunruhigt“, sagte Voßkuhle. 

In Bezug auf die Entwicklungen in Polen, Ungarn und auch der Türkei sagte er, es sei populär geworden, dass man das Demokratie-Prinzip auf eine schlichte Mehrheitsregel zurückführe. Es sei aber nicht so, dass Demokratie nur heiße, dass die Mehrheit entscheiden könne. „Wenn das so wäre, dann ist Demokratie der Anfang eines totalitären Systems.“ Demokratie werde stattdessen angetrieben von der Idee, dass die Minderheit zur Mehrheit werden kann. Dies werde unter anderem durch Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Gewaltenteilung immer wieder neu gewährleistet.

Das komplette Cicero-Foyergespräch können Sie heute um 14.45 Uhr und am Freitag um 12:45 Uhr bei Phoenix nachschauen oder jetzt schon auf unserer Facebook-Seite

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