Cicero im August - Berühmter Irrtum

Penisneid, Über-Ich und Ödipuskomplex - Sigmund Freud ist Begründer vieler Theorien. 80 Jahre nach seinem Tod sind sie weitestgehend widerlegt. Im neuen „Cicero“ gehen wir der Frage nach, welchen Bestand Freuds Psychoanalyse heute noch hat

Wie aktuell sind Sigmund Freuds Thesen heute noch? / Illustration: Viola Schmieskors
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Jeder hat sein eigenes Bild von Sigmund Freud. Meines hing in meinem Jugendzimmer, es war schwarz-weiß. Auf ihm sah man wahlweise eine nackte Frau, die sich lasziv räkelte, oder den bebrillten Kopf eines bärtigen Mannes. „What’s on a man’s mind“ stand darüber. Gemeint war demnach das Gedankengut des Herrn mit Vollbart, das sich gewissermaßen auf seiner Stirn spiegelte. In Zeiten erwachender Sexualität fand ich dieses Bild ganz toll. Es veranschaulichte die damals maßgeblichen Gedankengänge meiner Mitschüler und mir ganz gut. Ein bisschen frivol war es, intellektuell aber auch, also eher zu vertreten als ein Pin-up aus dem Playboy.

Der Mann mit dem Vollbart und der Brille auf der Nase ist vor 80 Jahren, am 23. September 1939, in London gestorben. Er hat mit der Psychoanalyse eine Lehre entwickelt, deren Grundlagen heute wissenschaftlich widerlegt sind. Oder wie es unsere Titelautorin Sophie Dannenberg, selbsterfahren, formuliert: nach über 100 Jahren nicht mehr auf dem aktuellsten Stand. Die Trinität von Ich, Es und Über-Ich: neurologisch nicht nachweisbar. Die These vom Penisneid: in Zeiten diffuser werdender Geschlechtszuordnungen eher drollig. Der Ödipuskomplex: in modernen Patchwork-, Eineltern- oder Regenbogenfamilien ohne eindeutiges Objekt.

Lehre mit ideologischen Allmachtsanspruch

Die Psychoanalyse sei, schreibt Dannenberg, nur noch eine Kassenleistung unter vielen. Warum aber ist sie das dann überhaupt noch, wenn doch gerade die homöopathischen Kügelchen aus dem Sortiment der Kassen genommen werden? 

Dannenberg hat sich mit vielen Experten darüber unterhalten. Das Ergebnis ähnelt jenem bei Karl Marx. Auch wer wissenschaftlich und empirisch widerlegt ist, kann eine kulturelle Erkenntnisleistung erbracht haben. Fachleute wie der Charité-Professor Christian Otte erklären Freud einerseits für wertvoll, weil er die psychische Wirkung biografischer Faktoren erkannt habe. Zugleich für problematisch, weil seine Lehre mit einem ideologischen Allmachtsanspruch einhergeht und andere Aspekte einer psychischen Erkrankung zum Schaden der Patienten ausklammere. So wird das Bild Freuds bleiben wie jenes in meinem Jugendzimmer: doppel-gesichtig. Und schwarz-weiß. 

Lesen Sie die Titelgeschichte bei Cicero Plus.

Außerdem in dieser Ausgabe: Warum ist der Konservatismus in der Defensive? Andreas Rödder und Michael Kretschmer im Cicero-Foyergespräch. 

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