Gedenken an Christoph Schlingensief - Keiner brannte wie er

Vor zehn Jahren starb der Regisseur, Dramaturg und Künstler Christoph Schlingensief. Er war ein Berserker, der von zwei Seiten brannte. Umso größer ist die Lücke, die er hinterlassen hat.

Christoph Schlingensief in einer Szene des Kinofilms "Knistern der Zeit" / dpa / Philipp Tornau
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Autoreninfo

Marga Boehle ist Journalistin und Filmkritikerin. Boehle war Mitglied im Auswahlkomitee der Berlinale. Sie lebt in München.

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Als Enfant terrible bezeichnet werden so einige, nicht alle haben die Auszeichnung verdient. Christoph Schlingensief trug sie wie einen Ehrentitel. Der außergewöhnliche Künstler-Rebell, der am 21. August 2010 viel zu früh mit nur 49 Jahren starb, wäre in diesem Jahr 60 geworden. Sein Traum hat ihn überlebt: das Operndorf in Burkina Faso.

Es feierte Anfang des Jahres Zehnjähriges und ist seit seiner Grundsteinlegung, bei der Schlingensief noch anwesend war, mit Hilfe seiner Witwe Aino Laberenz und einer Stiftung weiter gewachsen. Ein Opernhaus nicht wie in Bayreuth, wo Schlingensief einmal den Parsifal” inszenierte, sondern ein Ort der Begegnung und des Austausches.

Schlingensief selbst sah es als Experimentierdorf, etwa 30 Kilometer von der Hauptstadt Ouagadougou entfernt, eine Schule mit künstlerischem Schwerpunkt für ca. 300 Kinder, Krankenstation und Entbindungsklinik inklusive. Gastkünstler und Regisseure aus dem Ausland veranstalten dort inzwischen Workshops, im Austausch mit ihren afrikanischen Kollegen. Es gibt ein eigenes Ton- und Filmstudio und seit 2019 eine mobile Bühne, die von den SchülerInnen und Besuchern genutzt werden kann. Außerdem startete ein Alphabetisierungsprogramm für die Eltern und Bewohner der umliegenden Dörfer, auch ein Landwirtschaftsprogramm wurde initiiert.

Das Dorf ist ein Trost

Das Projekt war Schlingensief extrem wichtig. Bereits schwer erkrankt, trieb er es mit schwindender Kraft voran. Es ist sein Vermächtnis, ein Trost für alle, die ihn schmerzlich vermissen. Dass bis heute und besonders zu den anstehenden Gedenktagen so viele die Lücke beklagen, die er hinterlassen hat, ist fast schon ein Phänomen. Plötzlich wollen ihn viele schon immer gut gefunden haben. Zu Lebzeiten war das nicht immer so. Da fühlte sich der Aktionskünstler oft missverstanden – und war es wohl auch. Aber das riskierte er, provozierte mit Aktionen wie Tötet Helmut Kohl” auf der documenta X , bei der er mit Handschellen abgeführt wurde. Er suchte den Eklat, scheute den Nicht-Skandal, gefiel sich als Bürgerschreck. Immer rebellierte er dabei auch gegen den Kleinbürger in sich selbst.

Angetrieben hat ihn seine Herkunft, die Auseinandersetzung mit und sein Verhältnis zu Deutschland und seinem Elternhaus. Auch seine tief katholische Erziehung war eine Triebfeder. Er war das Einzelkind, das die väterliche Apotheke nicht übernehmen wollte, und der stattdessen Experimentalfilme drehte. Aber die Eltern, besonders der Vater, den er sehr liebte, unterstützten ihn. Als es mit der Aufnahme in die Filmhochschule München nicht klappte, wurde er Aufnahmeleiter bei der Lindenstraße. Helge Schneider, Werner Nekes, Udo Kier, Alfred Edel und viele andere Künstler waren seine Freunde. 

Ein Mann mit vielen Gesichtern

Viele Etiketten passen auf den Ausnahme-Kreativen: Bühnenrevoluzzer, Filmfanatiker und Heimatfilmer”, Opernregisseur, TV-Talkmaster, anarchistischer Aktionskünstler. Schlingensief war Professor für Freie Kunst an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig und Bestsellerautor. Er führte das Tagebuch seiner Krebserkrankung (So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein”), machte darin seine Krankheit, die Schmerzen öffentlich. Kurz vor seinem Tod erhielt er die Einladung, den Deutschen Pavillon der 54. Biennale in Venedig zu gestalten. Seine Pläne konnte er nicht mehr umsetzen. Stattdessen wurde, initiiert von Aino Laberenz, eine Ausstellung seiner aktuellen Arbeiten gezeigt. Der Pavillon wurde mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. 

1998 gründete Schlingensief die Partei Chance 2000 – Scheitern als Chance”. Zu dem Wahlkampfzirkus gehörte auch die Baden im Wolfgangsee”-Aktion, für die er sechs Millionen Arbeitslose in den See einlud, mit dem Ziel, den Wasserspiegel so weit ansteigen zu lassen, dass Kohls Ferienvilla am Ufer in St. Gilgen überflutet wurde. Allerdings nahmen weniger als 100 Personen teil. Das hinderte den Kreativ-Berserker nicht, mit wahnsinniger Energie seine Projekte voranzutreiben. Inklusion war bei ihm kein Schlagwort, er machte es einfach, besetzte Behinderte in seinen Produktionen, hatte sie zu Freunden. 

Ein Dokumentarfilm zum Todestag

Seine subversiven Filme und Aktionen sind nicht nur Anschläge auf den guten Geschmack. Er verstand sich immer als politischer Künstler, schrieb Zeitgeschichte. Keiner brannte wie er.
Davon erzählt der Film der Christian-Petzold-Cutterin Bettina Böhler, die auch zwei von Schlingensiefs wichtigsten Filmen geschnitten hat (Terror 2000” und Die 120 Tage von Bottrop”, seine Pasolini-Hommage). Für In das Schweigen hineinschreien” hat sie umfangreiches Archivmaterial aus vier Jahrzehnten zusammengestellt, als Erzähler fungiert Schlingensief selbst. Rechtzeitig zum 10. Todestag kam der Dokumentarfilm jetzt in die Kinos. 

Eine Antwort bekommen wir allerdings nicht: Wie wäre der Meister der Konfrontation, Kreation und Kommunikation wohl mit den Veränderungen in den sozialen Medien umgegangen - und wie wären die mit ihm umgesprungen? Wie hätte er, der keine Denk- und Sprechverbote akzeptierte, auf Cancel Culture reagiert, wie auf Hasstiraden im Netz oder das wahnwitzige Gebot, sich allzeit konform und politisch korrekt zu geben? Er hätte das Netz wohl, kreativ, Neues umarmend und für sich einspannend, wie er war, aktiv genutzt. Und mit einem Flashmob hätte vielleicht auch die Aktion Wolfgangsee” geklappt ... 

Eine genial-grandiose Vorstellung. So beflügelt Schlingensief immer noch unsere Fantasie – und ja, er fehlt wirklich im manchmal allzu glattgebügelten Kulturzirkus. Aber einen wie ihn kann es nur einmal geben.

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