Cancel Culture - So mobben Sie jede Meinung weg!

Seit eine Kabarettistin von einem Literaturfestival ausgeladen wurde, diskutiert die Medienwelt exzessiv über den Begriff „Cancel Culture“. Doch wie funktioniert diese Art der Zensur? Hier eine kleine Anleitung.

Nur, wo „queer“, „black“ oder „trans“ draufsteht, ist auch „queer“, „black“ oder „trans“ drin /dpa
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Autoreninfo

Judith Sevinç Basad ist Journalistin und lebt in Berlin. Sie studierte Philosophie und Germanistik und volontierte im Feuilleton der NZZ. Als freie Autorin schrieb sie u.a. für FAZ, NZZ und Welt. Sie bloggt mit dem Autoren-Kollektiv „Salonkolumnisten“. 

So erreichen Sie Judith Sevinç Basad:

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1. Voraussetzung: Eignen Sie sich ein Lagerdenken an

Um die „Cancel Culture“ richtig zu betreiben, müssen Sie zuerst Ihren Blick auf die Welt verengen. Fanden Sie bisher Meinungen von Konservativen UND Grünen oder Linken gut, gilt es diesen differenzierten Blick auf die politische Parteienlandschaft jetzt abzulegen. Das ist ganz einfach: Teilen Sie die Welt in zwei Lager ein, in „gut“ und „böse“, und ersetzen Sie diese Begriffe durch „progressiv“ und „rechts“: Progressiv sind alle politischen Bewegungen, die sich links der Mitte befinden wie etwa Feminismus, Klimaschutz und Antirassismus. „Rechts“ sind alle Meinungen und Personen, die diese Bewegungen nicht bedingungslos abfeiern.

Beachten Sie: Es gibt keine Grauzonen. Sie können etwa die Antirassismus-Bewegung nicht kritisieren und sich gleichzeitig gegen Rassismus aussprechen – das ist zu komplex für das Cancel-Culture-Gemüt. Das Gleiche gilt für den politischen Input, den Sie ab jetzt konsumieren: Konservative und liberale Zeitungen wie FAZ und Welt gilt es aus Prinzip abzulehnen. Philosophen wie Karl Popper oder Jordan Peterson sind ab jetzt ihre Feinde. Lesen Sie stattdessen Judith Butler und eignen Sie sich verschwurbelte Theorien wie die von der „Intersektionalität“ oder „Critical Race Studies“ an.

2. Erstellen Sie ein diffuses Feindbild

Beachten Sie: Die feinen Nuancen und Differenzierungen, mit der Sie ihre eigene Bewegung wahrnehmen, gelten für Ihren politischen Gegner nicht. Das ist praktisch. Denn so können Sie alles in einen Topf werfen: Rechtsextreme, Konservative, Liberale, die politische Mitte – beschimpfen Sie einfach alle als Faschisten, potenzielle Rechtsextremisten oder als Gefahr für unsere Demokratie. Wichtig: Achten Sie nicht mehr auf Inhalte und Argumente, belegen Sie Ihre Vorwürfe nicht mit Beispielen. Das verwirrt nur oder kann Sie angreifbar machen. Haten Sie einfach drauflos! 

Tipp: Schaffen Sie sich einen Twitter-Account an, um sich einzufühlen.

3. Schauen Sie auf ihre Mitmenschen herab

Wenn Sie Teil der Cancel Culture werden wollen, müssen Sie auch das Verhältnis zu Ihren Mitmenschen verändern. Vergessen Sie nicht, dass Sie Teil einer kulturellen Elite sind, die verstanden hat, was in der Gesellschaft schiefläuft. Deswegen tragen Sie auch die große Verantwortung, Ihre Mitmenschen vor gefährlichen Inhalten zu schützen.

Und die Gefahr lauert überall: Die Technik, so erzählte neulich der Männerforscher Klaus Theweleit, sei etwa dafür verantwortlich, dass Männer zu Vergewaltigern werden. Klimawandel, Verschwörungstheorien und rechter Terrorismus – auch daran sind unterbewusste, „patriarchale Strukturen“ schuld, die Sie ganz klar erkennen, die sichaber dem etwas minderbemittelten Pöbel einfach nicht erschließen.

Es ist also Ihre Pflicht, alles zu zensieren, was Ihre Mitmenschen auf dumme Gedanken bringen könnte: das männlichen Genus etwa, weil damit zu viel Männlichkeit generiert wird, das Wort „Gutmensch“, weil es die Propaganda der AfD befeuern könnte oder nicht-linke Kabarettisten, weil sie gegen den Feminismus oder die Umweltschutzbewegung austeilen. Vorteil: So können Sie die Grenze des Sagbaren systematisch nach links verschieben.

4. Werden Sie immer sensibler

Auch wenn Sie sich als feministische Power-Frau bezeichnen, vergessen Sie nicht, sich regelmäßig als Opfer auszugeben. Auch den dicken Pelz oder die Toughness, die Sie sich eventuell im Laufe ihrer Karriere angeeignet haben, sollten Sie jetzt schnell ablegen – denn nur so können Sie die Kunst des Cancelns richtig erlernen. 

Vor allem für Frauen gilt: Werden Sie empfindlicher, sensibler, misstrauischer. Lassen Sie Kleinigkeiten wie einen nicht gegenderten Text oder ein Kompliment von einem Mann richtig nah an sich heran. Fangen Sie an, sich von Wörtern verletzt zu fühlen – versuchen Sie die patriarchale Gewalt der letzten Jahrhunderte zu spüren, wenn Ihnen ein Mann die Tür aufhält oder in einem Gedicht ein männlicher Blick inszeniert wird.

Auch, wenn Sie de facto nicht machtlos sind, reden Sie sich ein, dass Sie es sind. Steigern Sie sich richtig rein. Denn: Je sensibler Sie gegenüber der Alltagswelt auftreten, desto mehr Dinge können Sie auch verbieten, indem Sie auf ihre verletzten Gefühle verweisen. Denn: Wer will schon als jemand dastehen, der mutwillig Menschen verletzt?

5. Denken Sie wieder in Hautfarben

Höchstwahrscheinlich war es Ihnen bisher egal, welche Sexualität, welche Hautfarbe oder welches Geschlecht die Menschen in Ihrem Umfeld haben. Auch von dieser Unvoreingenommenheit sollten Sie sich befreien. Egal, welcher Charakter gerade vor Ihnen steht, zwingen Sie sich, Ihr Gegenüber als gesellschaftliches Opfer zu sehen, solange es zu einer diskriminierten Gruppe gehört, also schwarz, schwul, lesbisch oder trans ist. Konkret bedeutet das: Unterwerfen Sie sich, widersprechen Sie nicht oder schämen Sie sich demonstrativ für Ihre weiße Hautfarbe.

Und was für Sie gilt, sollte auch für den Rest der Gesellschaft gelten. Falls Sie also in einer Zeitungsredaktion, an einer Uni oder in der Politik arbeiten: Werten Sie Artikel ab, die von weißen Männern geschrieben wurden, laden Sie Gäste für Podien nur aufgrund der Hautfarbe oder des Geschlechts ein, ignorieren Sie die Wortmeldungen Ihrer weißen, männlichen Studenten oder fordern Sie Quoten, nach denen Frauen, Migranten und Queers bevorteilt werden. Oder anders gesprochen: Canceln Sie alles weg, was weiß und männlich ist. 

6. Lügen Sie einfach!

Falls Sie beim Canceln doch mal auf Kritik stoßen sollten, verdrehen Sie einfach die Fakten oder blenden Sie die Realität aus. Wichtig: Falls Gewalt im Spiel ist, schweigen Sie diese komplett tot. 

Nehmen wir etwa die Affäre um die Kabarettistin Lisa Eckart, die von einem Literaturfestival ausgeladen wurde, das vom Hamburger „Nochtspeicher“ organisiert wurde. Behaupten Sie einfach, dass sich die Kabarettistin selbst ausgeladen hat. Selbst, wenn die Veranstalter erzählen, wie zuvor uniformierte Aktivisten versuchten, eine Lesung zu sprengen, im Anschluss eine Gasflasche im Raucherraum sabotierten, das Ventil herausrissen und das Gas aufdrehten – blenden Sie diese Info einfach aus. Wenn Sie ganz dreist sind, verlinken Sie die entsprechende Pressemitteilung in Ihrer Kolumne, in der Sie behaupten, dass das Wort „Cancel Culture“ nur eine Erfindung eines rechtskonservativen Mobs sei.

Vielleicht kennen Sie dieses Verhalten von Kleinkindern, die glauben, sie würden selbst verschwinden, wenn Sie sich die Augen zuhalten. Motto: „Ich seh mich nicht, du siehst mich nicht!“. Verhalten Sie sich einfach wie dieses Kind, wenn es um Fakten geht, die Ihnen nicht in den Kram passen.

7. Stellen Sie sich dumm

Obwohl Sie selbst gerne ironische Witze über die Enteignung von Axel-Springer oder den Tod einzelner Journalisten raushauen, sollten Sie die Fähigkeit zur Ironie schlagartig verlieren, wenn es um die Comedy von Menschen geht, die Sie nicht leiden können. Bemühen Sie sich, die Witze von Dieter Nuhr und Lisa Eckhart absichtlich falsch zu verstehen, auch wenn die Kabarettisten  ganz offensichtlich Rassisten verhöhnen oder sich über die AfD lustig machen.

Wenn Menschen beklagen, dass sie Angst haben, ihre Meinung zu sagen, weil sie nicht als „rechts“ diffamiert oder von einem wütenden Mob angegangen werden wollen, sollten Sie sofort auf Durchzug stellen. Lenken Sie einfach ab, indem Sie ohne jeden Zusammenhang auf die viel schlimmere Gewalt von Rechtsextremisten verweisen oder wahlweise folgende Sätze antworten: „Mimimimi, stell dich nicht so an, Du Opfer“ oder „Niemand hindert dich daran, deine rechten Parolen rauszuhauen, Du Nazi“ oder, ein Klassiker: „Das ist doch ein Argument der AfD, du Fascho“.

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