Bob Dylan zum 80. Geburtstag - „Der größte Dichter Amerikas“

Wolf Biermann, Dylan-Übersetzer, forderte schon 2003 den Literaturnobelpreis für Bob Dylan. Es sollte noch ein wenig dauern. Eine Hommage an den Jahrhundertkünstler, der heute 80 Jahre alt wird.

Bob Dylan, undatiert. Foto: dpa / Sony Music
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Autoreninfo

Gerold Hofmann arbeitet als Autor und Regisseur. Er führte Regie bei "Knockin on Dylan's Door", einem Dokumentarfilm über Bob Dylan.

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Bob Dylan hat viele US-Präsidenten kommen und gehen sehen. Einer hat ihm die Presidential Medal of Freedom um den Hals gehängt (das war Barack Obama), ein anderer hat sich seiner Worte bedient, um mit ihnen die Vereinigten Staaten zu beschreiben. Genauer gesagt befand sich Jimmy Carter noch im Wahlkampf, als er 1976 erklärte: „We have an America that in Bob Dylan´s phrase is `busy being born, not busy dying´“. Das Zitat ist durchaus pikant. Denn aus dem gleichen Song „It´s All Right, Ma (I´m Only Bleeding)“ stammt der vielleicht noch häufiger zitierte Vers, der den mächtigsten Mann der Welt auf ein sehr menschliches Format zusammenstutzt: „Even the president of the United States sometimes must have to stand naked“. Wer den Song je in einem Dylan-Konzert gehört hat, weiß, dass Tausende immer wieder spontan applaudierten, wenn die Reimkaskaden des Sängers auf diese Zeile zustürzten, egal, ob sie dabei an Bush, an Clinton oder Donald Trump dachten. In Deutschland, in Europa haben wir keinen Rockmusiker und schon gar keinen zeitgenössischen Dichter, der mit seiner Lyrik so viele Menschen bewegt.

Robert Allen Zimmerman wird am 24. Mai 1941 in Duluth, Minnesota, als Sohn einer aus Osteuropa stammenden jüdischen Familie geboren. Als er 1961 in New York die kleinen Bühnen im Künstlerviertel Greenwich Village betritt, nennt er sich Bob Dylan und der Präsident der Vereinigten Staaten heißt John F. Kennedy. Was die beiden miteinander verbindet – dazu später mehr. 

Die Bilderwelt der Bibel

Dylan braucht keine fünf Jahre, um sich an die Spitze der damals entstehenden Rockmusik zu katapultieren. Wie schafft er das? Er saugt Kraft aus einer Vielzahl unterschiedlicher Traditionen: aus der amerikanischen Folkmusik mit ihren englisch-irischen Wurzeln, aus dem Blues der Industriestädte des Nordens und der Baumwollfelder des Südens. Kaum hat er der Anti-Vietnamkriegs- und der Bürgerrechtsbewegung der frühen Sechziger ihre Hymnen geschrieben („Blowin´ in the Wind“, „The Times They Are A-Changin´“), dreht er ihnen den Rücken zu, stöpselt seine Gitarre an einen Verstärker und verbindet Folk, Blues und Rock&Roll mit dem Pop-Gestus der Beatles. Nur dass er, anders als Lennon-McCartney, keine „Sie-liebt-dich“-Verse schreibt, sondern Anleihen bei den französischen Surrealisten und den amerikanischen Beatniks nimmt. Allen Ginsberg ist sein Freund und Bruder im Geist. Dazu – und das ist vielleicht am Überraschendsten – zitiert er die Bilderwelt der Bibel. Das tat auch Bertolt Brecht, von dessen „Seeräuber-Jenny“ sich Bob Dylan, nebenbei, auch inspirieren lässt.

Das alles fließt zusammen in ein Neues und findet sich auf den bahnbrechenden Alben der Jahre 1965/66. Vorgetragen wird das Amalgam aus Rock und Lyrik von einer Stimme, die nie schön sein will, die alt klingt, als sie jung ist, mal aggressiv, mal zärtlich und immer so, als käme sie von dir und mir. Der Titel „Like a Rolling Stone“ mag stellvertretend stehen für diesen bis dato ungehörten Sound. (Die Musikzeitschrift Rolling Stone kürte das Stück 2005 zum „besten Song aller Zeiten“.) Dann, 1966, während seiner ersten Welttournee, schießt sich Dylan selbst aus der Umlaufbahn und verschwindet.

Eine Elvis-artige Show

Als er Mitte der Siebziger zurück auf den großen Bühnen ist, scheint Dylan sogar wieder Interesse an Politik zu haben. In einem rockmusikalisch vertonten Langgedicht erzählt er die Geschichte des zu Unrecht wegen Mordes verurteilten schwarzen Boxers Rubin „Hurricane“ Carter. Er unterstützt die Bewegung, die zur Revision des Verfahrens und Freilassung des Boxers führt. „Black Lives Matter“ gehört seit den Sechzigern zur Geschichte der USA, es hieß damals nur anders, und Bob Dylan ist mit seinen ersten Auftritten in New York Teil dieser Geschichte. Als Martin Luther King am 28. August 1963 in Washington seine „I-have-a-dream“-Rede hält, trägt Dylan die Ballade von Medgar Evers vor, einem schwarzen Bürgerrechtsaktivisten, der einen Monat zuvor in Jackson, Mississippi, ermordet wurde: „Only a Pawn in Their Game“. 1971 widmet er dem Black Panther-Aktivisten George Jackson, der bei einem Fluchtversuch aus dem Gefängnis erschossen wird, einen Song. Doch Dylan versteht sich nie als der „politische“ Künstler, den viele in ihm sehen wollen. Ende der Siebziger tritt er in einem Glitzerkostüm auf die Bühne und hat einen „Hu-hu-ah-ha“-säuselnden Background-Chor im Rücken. Er ist nie da, wo andere ihn haben wollen. 

1978 tourt Bob Dylan ausgerechnet mit dieser Elvis-artigen Show zum ersten Mal durch Deutschland. Im linken studentischen Milieu von Westberlin kommt das überhaupt nicht gut an. Nach dem Konzert erscheint im Berliner Tip eine Todesanzeige, die mit allen Anzeichen tiefen Gekränktseins das Ableben des Sängers vermeldet. Das ist reichlich borniert und kann einen Künstler nicht treffen, der schon Ende 1963 in großer Dichterpose seinen eigenen Grabspruch entworfen hatte: „Eleven Outlined Epitaphs“. Das Gedicht erscheint auf der Rückseite der LP „The Times They Are-A Changin`“ und einem beigelegten Blatt, weil das Albumcover nicht ausreicht für den gewaltigen Strom von Worten. Es sei seine Sache nicht, herumzusitzen und lange nachzudenken, verkündet hier ein lyrisches Ich, es müsse immer schnell reagieren „with weapons of words / wrapped in tunes“ – mit Waffen aus Worten, in Melodien verpackt. Das klingt wie ein künstlerisches Programm und ist auch eines.

Der Fan Wolf Biermann

Die „Eleven Outlined Epitaphs“ wurden mehrfach ins Deutsche übertragen, unter anderem von Wolf Biermann, der sich in den Anmerkungen zu seiner Übersetzung im Jahr 2003 als bedingungsloser Dylan-Fan outet. Wie der Amerikaner gräbt Biermann gerne in der Traditionsgeschichte seiner Kunst. Dort stößt er auf einen mittelalterlichen Minnesänger, Hans Folz, und borgt sich von ihm die Definition für einen Meistersinger: Ein solcher finde einen unerhört neuen Ton, an dem man ihn sogleich erkennt, und Biermann attestiert Bob Dylan, dass er schon als junger Songwriter einen autarken, unverwechselbaren Ton gefunden hat. „Dylan ist genial als Dichter“, schreibt der deutsche Liedermacher, „und ich halte ihn auch als Musikanten für einen größeren Erfinder als alle Beatles und Rolling Stones zusammen.“ Der Korb hängt hoch. Und wie um noch einen draufzusetzen, fordert Biermann damals unverblümt die Verleihung des Literaturnobelpreises an den seiner Meinung nach „größten Dichter Amerikas“. Eine solche Empfehlung sprechen im Lauf der Jahre noch viele andere aus (2009 schließt sich die Zeitschrift Literaturen an), und 2016 ist auch die schwedische Akademie der Meinung, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Literaturnobelpreises ein Rockmusiker die Auszeichnung bekommen sollte.

In seiner Laudatio verweist Horace Engdahl weniger auf die Verbindung von Lyrik und Rockmusik als auf die Qualität von Dylans Dichtung an sich: „Seine Reimkunst ist eine alchemistische Substanz, die Zusammenhänge auflöst, um neue zu erschaffen, vom menschlichen Gehirn kaum zu erfassen.“ Tatsächlich ist für den Hörer oft schwer zu verstehen, was der Künstler mit seinen wilden Assoziationen sagen will. Die Verse folgen Traumstrukturen. „Wie in Trance“ habe er die Songs geschrieben, sagte Dylan 2020 der New York Times in einem Interview zu seinem neuesten Album „Rough And Rowdy Ways“. Und wie ein Traum Erinnerungsfetzen aus den Tiefen des Gehirns zerrt und scheinbar willkürlich zusammenfügt, so assoziiert sich Dylan in seinen Songs durch die Kulturgeschichte. Oft genug entstehen Alpträume daraus. 

Kollege Peter Handke

Wer so viel zitiert wie Dylan, muss ertragen, dass er selber ständig zitiert wird. Auch in der deutschsprachigen Literatur gehört es fast schon zum guten Ton, hie und da ein Dylan-Zitat einzuflechten. Ein Beispiel für viele: Sibylle Lewitscharoff gibt dem Protagonisten ihres Romans „Consummatus“, den sie Ralph Zimmermann (siehe Dylan’s Geburtsname) nennt, zwei große musikalische Lieben: Bach und Bob Dylan. Dieser Herr Zimmermann entwickelt eine mentale Technik, sich gegen eine feindliche Außenwelt zu wehren, indem er „musikalische Gedächtniszeilen“ memoriert. Dann zitiert sich der Held recht exzessiv durch den Dylan-Katalog. Man versteht die Geschichte dadurch zwar nicht besser, aber wir wissen immerhin, dass auch Sibylle Lewitscharoff zum großen Kreis der Dylan-Fans gehört.

Peter Handke übrigens, bald nach Bob Dylan nobelpreisgekrönt, hat schon sehr früh den literarischen Geistesverwandten erkannt. Was schrieb er als Motto über seinen 1972 erschienenen Roman „Wunschloses Unglück“?  Genau: „He not busy being born is busy dying“ – das war vier Jahre bevor Jimmy Carter unter Verwendung des gleichen Zitats zum Präsidenten der USA gewählt werden wollte. Und John F. Kennedy?

Das Attentat von Dallas 1963

Kennedy wurde am 22. November 1963 in Dallas, Texas, ermordet. Auf seinem letzten Album erzählt Dylan von diesem amerikanischen Trauma. Es scheint, als ob der Künstler fast sechzig Jahre warten musste, bis er seine Geschichte von John F. Kennedy erzählen konnte. Kaum vorstellbar, dass er im November 1963 nicht auch erschüttert war wie ein Großteil der amerikanischen Nation und ein guter Teil vom Rest der Welt. Doch der Sänger, der seine Gefühle nach dem Tod des Bürgerrechtlers Medgar Evers sofort in einen Song verdichtete, fand damals keine Verse für den Mord an Kennedy – zumindest keine, die er veröffentlichen wollte. Sein Lied kam erst im vergangenen Jahr, doch dafür umso schwergewichtiger. 

„Murder Most Foul“ (Shakespeares „Hamlet“ lässt grüßen) ist eine 17-minütige Ballade, die sich um das Attentat von Dallas rankt. Damit verwoben ein fiktiver Dialog mit dem Diskjockey Wolfman Jack, der in eine schier endlose Kette von Musikwünschen an den Radiomann mündet. Der Sänger-Dichter spielt mit den Realitätsebenen. Er legt die Reportage-Reime vom Kennedy-Mord und die Musik-Reminiszenzen wie zwei Folien übereinander, so dass wir uns mal in der einen, mal in der anderen Welt befinden. Er wechselt die Perspektiven so oft, dass einem schwindlig werden könnte. Der Hörer taucht ein in einen Bewusstseinsstrom, der wie aus einem fiebrigen Traum geflossen kommt. Und was verstehen wir von diesem Riesen-Gedicht? Dylan rückt das historische Ereignis in einen überzeitlichen, einen biblischen Zusammenhang: Jemand spricht vom Zeitalter des Antichristen, der Teufel spukt durch die Szenerie. Erlösung kommt jedoch nicht durch die Wiederkehr Christi, sie kommt durch die Kraft der Musik und zwar der Tradition, in der Bob Dylan selber steht: die populäre Musik des 20. Jahrhunderts mit Blues und Jazz, Pop und Rock. 

Apokalyptische Zeiten

Jener Künstler, der so gern mit einem permanenten Wandel verbunden wird, ist sich über sechs Jahrzehnte erstaunlich treu geblieben. Von apokalyptischen Zeiten sang er schon in seinen frühen Liedern. Der Song „A Hard Rain´s A-Gonna Fall“, 1963, zeichnet ein düsteres Endzeitbild, mit Worten, die aus der Offenbarung des Johannes entliehen sind. Es ist jenes Lied, das Patti Smith bei der Verleihung des Literaturnobelpreises in Stockholm vorgetragen hat. (Schauen Sie sich das YouTube-Video an!) Dass die Musik für Dylan eine quasi-religiöse Funktion hat, ist schon lange bekannt. In den Tagen nach der Ermordung John F. Kennedys, als er vergeblich nach Worten suchte, um den Schock zu beschreiben, hat Dylan jene schon erwähnten „Eleven Outlined Epitaphs“ geschrieben, die Entwürfe für seinen Grabspruch. In der letzten Strophe zitiert er den Film „Tirez sur le pianiste / Shoot the piano player“ von Francois Truffaut. Dort lautet der allerletzte Satz: „Music, man, that´s where it´s at“, und der Dichter ergänzt: „It is a religious line“ („`Musik, Mann, nur darauf kommt es an´ / das ist ein religiöser Vers“). Mehr als ein halbes Jahrhundert später ist „Murder Most Foul“ noch dem gleichen künstlerischen Programm verpflichtet.

Seit Ende der Achtziger Jahre befand sich Dylan fast ununterbrochen auf Konzertreise, „The Never Ending Tour“, wie seine Fans sie nennen. Im letzten Sommer hat Corona die Tour beendet. Hoffen wir, dass er weitermacht – wenn die Zeiten sich geändert haben: dann achtzigjährig.
 

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