Bildung - Die Schule kann es auch nicht richten

Schüler glänzen im Klassenzimmer zunehmend mit einem: Abwesenheit. Das liegt auch an ihren Eltern, fordern diese doch, dass auf die kleinsten Befindlichkeiten ihrer Kinder eingegangen wird. Dieses Phänomen beschränkt sich längst nicht mehr nur aufs Klassenzimmer

Abwesenheit der Schüler wird zu einem zunehmenden Problem für ihre Lehrer / picture alliance
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Katja Kranich ist Schulleiterin des Stromberg-Gymnasiums in Vaihingen/Enz in Baden-Württemberg.

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Bernd Saur ist Vorsitzender des Philologenverbands Baden-Württemberg.

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Zunehmend mehr Kinder halten keine ganze Schulwoche mehr durch. Eltern entschuldigen über einen zu langen Zeitraum das medizinisch unbegründete Fehlen ihrer Kinder. Ärzte stellen dafür Woche für Woche Atteste aus, damit Eltern der Attestpflicht nachkommen. Eine Attestpflicht als Konsequenz übermäßigen Fehlens mit ungeklärter Ursache. In der Wahrnehmung vieler Schulleitungen entspricht dies der aktuellen Lage an vielen unserer Schulen – auch Schulpsychologen bestätigen diesen allgemeinen Trend. 

In diesem Schuljahr sind Grundschulen sowie die weiterführenden Schulen mit gestiegenen Zahlen von Abwesenheit konfrontiert. Das heißt, dass Kinder eine stark überdurchschnittliche Zahl an Fehltagen aufbauen, ohne dass es dafür einen wirklich triftigen Grund gäbe. Offenbar ist die Passung zwischen dem, was in der Schule gefordert wird, und dem, was Schüler von zu Hause mitbringen, zunehmend weniger gegeben. Damit ist es generell schwieriger geworden, Kinder im Klassenverband zu unterrichten. 

Lehrer sind Pädagogen – keine Psychologen

Lehrer führen zahlreiche Elterngespräche, bei denen seitens der Erziehungsberechtigten für die spezielle häusliche und familiäre Situation um Verständnis oder um Rat gebeten wird. Lehrer führen zunehmend Gespräche mit Therapeuten und Klinikschulen, die die individuellen Voraussetzungen darlegen, unter denen ein Kind während einer Therapie oder nach einem Klinikaufenthalt beschulbar ist. Eltern „befreien“ ihre Kinder selbstverständlich vom Unterricht für private Termine. 

Konkret heißt dies, dass die Bandbreite des „Normalen“ schmäler geworden ist und die Zahl individuell verschiedener Lernvoraussetzungen größer. Wenn von zunehmender Heterogenität im Klassenzimmer die Rede ist, dann ist damit längst nicht nur gemeint, dass Kinder mit Werkrealschulempfehlung in Realschulen oder Gymnasien sitzen. Sondern dass Kinder mit zunehmend psychischen Problemen im Klassenzimmer sitzen und aus unterschiedlichen Gründen nicht lernbereit sind.

Dies ist insofern höchst problematisch, weil Lehrer primär Profis fürs Lernen sind und einen Bildungs- und Erziehungsauftrag zu erfüllen haben. Lehrer sind Pädagogen, aber eben keine Psychologen oder gar Psychotherapeuten. An vielen Schulen wird Individualisierung nicht nur auf Lernwege bezogen. Vielmehr erheben die Eltern den Anspruch, dass für jedwede individuelle Befindlichkeit Verständnis aufgebracht wird und jede dieser Befindlichkeiten im Klassenzimmer – bei bis zu 30 Schülern versteht sich – gefälligst berücksichtigt werden muss. Doch was passiert da gesellschaftlich eigentlich gerade?

Fehlende Orientierung für Kinder

Die Fokussierung auf das eigene familiäre oder persönliche Bündel diverser Bedürfnisse und deren unmittelbare Befriedigung ist kein auf die Schule beschränktes Phänomen. Jüngst haben die Klinikärzte von Notfallpraxen am Wochenende Alarm geschlagen, weil die Wartezimmer am Samstagabend und sonntags voll sind von Nicht-Notfällen. Diese erheben für sich jedoch den Anspruch, bei jedem Halskratzen sofort behandelt zu werden. In der Notaufnahme müssen diese Fälle einfach warten. Wie gehen wir jedoch in der Schule mit Kindern um, die nur noch eingeschränkt aufnahmefähig sind?

Die Kernaufgabe eines jeden Lehrers – einfach guten Unterricht zu machen – ist mit den gestiegenen Anforderungen hinsichtlich Motivation, Differenzierung und Individualisierung der Lernwege an sich schon Herausforderung genug. Was Kinder an mangelnder Arbeitshaltung beziehungsweise Anstrengungsbereitschaft, Frustration, medialer Reizüberflutung oder Überforderung von zu Hause mitbringen, kann in der Schule nicht einfach so aufgefangen werden. Was vielen Kindern zusehends fehlt, ist ein klarer erzieherischer Rahmen, der ihnen Orientierung ermöglicht. Der ihnen die Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen aufzeigt, ihnen ein bedingungsloses Aufgehoben-Sein anstatt eines Funktionieren-Müssens bietet. Einen Rahmen, der ihnen ihren Platz in der Gesellschaft aufzeigt. 

Vor uns sitzt jedoch eine heranwachsende Generation zunehmend „entgrenzter“ Kinder, die von ihren Eltern heiß geliebt und zugleich bedingungslos geschont werden. Diese Schonhaltung beginnt beispielhaft mit Bollerwagen light. In denen lauffähige Kinder samt Picknickbox für die unmittelbare Befriedigung von Durst und Hungergefühl durch die Welt geschoben und gezogen werden – anstatt dass ihnen zugemutet wird, ihren Lebensweg Schritt für Schritt selbst zu erkunden. Es geht weiter mit Eltern, die die Hausordnung von Jugendherbergen lesen wollen, bevor sie entscheiden, ob ihr Kind an einem Schullandheim teilnimmt. Bis hin zur elterlichen Einschätzung, dass die innerschulische Konfliktlösung ohne eine genaue Absprache mit den Eltern im Vorfeld als schwerer Übergriff auf das Kind, respektive auf sich selbst als Mutter oder Vater gewertet wird. 

Spürbares Gegenüber wichtig

Gleichzeitig wollen viele Eltern Partner ihrer Kinder sein, die selbst entscheiden dürfen, auf welche Schule sie gehen. Und selbstverständlich keine schulischen Maßnahmen akzeptieren müssen, die anstrengend oder gar belastend sein könnten. Die fortschreitende und offensichtlich allseits reklamierte Individualisierung unserer Gesellschaft steht im Widerspruch zu Systemen, die weitestgehend auf einem gesellschaftlichen Konsens an Regeln und Konventionen beruhen. 

Die Schule ist ein solches System. Und solange sich bezogen auf ihren Erziehungs- und Bildungsauftrag nicht grundlegend etwas ändert, bleibt sie auch ein solches System. Auf einem gesellschaftlichen Konsens an Werten, Normen und Regeln aufgebaut, braucht die Schule aber als Nährboden ihres Wirkens eine Gesellschaft, die hinschaut, die interveniert, die überschrittene Grenzen im sozialen Miteinander laut artikuliert. Wenn für unsere Heranwachsenden dieses spürbare Gegenüber zusehends wegbricht, dann kann es Schule alleine auch nicht mehr richten. 

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