Bibi und Naidoo - Geschmacksrichter auf Abwegen

Kisslers Konter: Meinungsfreiheit gilt auch für schlechte Lieder und holpernde Reime. Die aktuelle Aufregung um zwei Popsongs ist hysterisch und wohlfeil. Niemand muss Xavier Naidoo oder Bibi zuhören, wenn sie trällern

Man darf Xavier Naidoos Lied „Marionetten“ allerschärfstens ablehnen. Von der Meinungsfreiheit bleibt es trotzdem gedeckt / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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O glücklich das Land, das solche Probleme sich leisten kann. Historiker künftiger Generationen werden sich einst mit enormem Interesse auf die letzten Tage im April und die ersten Tage im Mai des Jahres 2017 stürzen und, sofern sie auf keine anderen Überreste stoßen als auf den Streit um Xavier Naidoo und die Häme um Bibi, zu dem Ergebnis kommen: Es waren heitere Zeiten damals, vielleicht infantil, vielleicht etwas dekadent, aber heiter gewiss. Falsch wäre das und doch symptomatisch. Wie verdammt gut es uns geht oder zu gehen scheint oder gehen soll, zeigt nichts eindrücklicher als das Zugleich dieser beiden Erregungsepisoden.

Als am zurückliegenden Freitag – so kurz ist das erst her – die 24-Jährige Bianca Heinicke, genannt Bibi, das erste Mal für dreieinhalb Minuten in einem Video durch eine rosarote Bonbonwelt stapfte und mehr schlecht als recht trällerte, so sei das Leben nun einmal, „Wap Bap, Ba Da Di Da Da, Wap Bap“, da begann mehr als der übliche Shitstorm der Immererregten und Spontanempörten. Das Liedlein sei ein heißer Anwärter auf den Titel des schlechtesten Songs aller Zeiten, was Bibi sich erlaube, die Youtuberin, die sonst einem Millionen zählenden jungen weiblichen Publikum Schmink- und Lebensberatung und Produktanpreisung bietet, und überhaupt sei das ein ganz schlimmes, zynisches Machwerk. Pfui, Igitt, Schande über sie.

Eine einzige Text-Bild-Schere

„Another week, the same old shit“, flötet Bibi im Video, läuft dazu im kurzen Kleid und auf roten High Heels durch eine luftballongesättigte Schlosskulisse, räkelt sich im Bett, liest am Kamin aus einem brennenden Buch, trägt mal einen rosa Strampler, mal ein Netzhemdchen und erzählt von einer Welt voller Missgeschicke. Das Video ist eine einzige Text-Bild-Schere: Luxusgöre beklagt gesammelte Widerfahrnisse – Freund weg, schlanke Linie weg, Job weg, Brieftasche gestohlen, Kreditkarte gesperrt – und setzt all dem als Schlossherrin kleinmädchenhaften Trotz entgegen: So sei das Leben, c‘est la vie, „that's just how it is“. Am Ende kündet sie von einem Kerl, einem Zauberprinzen, mit dem sie „some fun“ haben werde. Das ist antirealistisch, antifeministisch, antirelevant, das ist Pop. Wer‘s nicht hören mag, der soll‘s nicht hören.

Bianca Heinicke, genannt Bibi, in ihrem ersten Musikvideo /
Foto: Screenshot Youtube

Pop und nichts anderes sind auch die kurpfälzischen Fußnoten der „Söhne Mannheims“ und ihres Frontmannes und Texters Xavier Naidoo. Am 20. April wurde das Album „MannHeim“ veröffentlicht, dessen Song „Marionetten“ einen Aufschrei auslösen sollte. Kaum jemand konnte der Versuchung widerstehen, die Elle der Gesinnung an Reime mediokrer Qualität zu legen, die, geschmeidig gesungen, Suggestivkraft entwickeln, ähnlich einprägsam sind wie Bibis „How it is (wap bap ...)“: „Wie lange wollt ihr noch Mario-net-ten sein, / seht ihr nicht, ihr seid nur Steigbügelhalter?“

Kein Parteiprogramm, mittelgute Lyrik

Naidoo wurde zum Staatsfeind Nummer Eins erklärt und zum dreistündigen Rechtfertigungsdiskurs beim Mannheimer Oberbürgermeister gebeten, der hernach zur Kenntnis gab, die Grundgesetztreue des Herrn Naidoo und seiner Combo sei gewährleistet. Zuvor hatten maßgebliche Medien, prominente Politiker und minderbegabte Komiker den Eindruck erweckt, die „Söhne Mannheims“ bliesen zu Angriffskrieg und Rassenkampf. Wie im Falle Bibi ein klassischer Kategorienfehler, der der Selbstverdummung Vorschub leistet: Pop ist Pop ist Pop ist Kunst. Den Rest regeln Gesetze, nicht Geschmacksrichter.

Man darf „Marionetten“ allerschärfstens ablehnen, zurückweisen, verdammen. Doch die drei Hauptaussagen des Liedchens als nicht von der Meinungs- und Kunstfreiheit gedeckt zu sehen, dürfte unmöglich sein. Naidoo singt, in holpernde Metrik verpackt: Es gebe Politiker, die nicht die Interessen des Volks vertreten. Kinderschänder verdienten das Schlimmste. Medien sagten nicht immer die Wahrheit. Diesen drei Thesen, es sei wiederholt, muss wahrlich niemand zustimmen. Doch es bleiben drei hinreichend in Rätselworte verpackte Aussagesätze, die die Gegenaussage schon in sich tragen. Es handelt sich um kein esoterisches Parteiprogramm, sondern um gesungene mittelgute Lyrik, die als Lied funktioniert, auf dem Rücken der Beats ins melodische Ziel findet.

Düstere Zeiten für die Meinungsfreiheit

Das Bundesverfassungsgericht urteilte übrigens im November 2009: „Die Absicht, Äußerungen mit schädlichem oder in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlichem Inhalt zu behindern, hebt das Prinzip der Meinungsfreiheit selbst auf und ist illegitim.“ Es sei nicht erlaubt, „die Meinungsfreiheit unter einen generellen Abwägungsvorbehalt zu stellen“. Hat es wirklich eines Xavier Naidoos bedurft, um uns jenseits aller orchestrierten Leitkultur- und Hate-Speech- und Demokratiedebatten an die Unhintergehbarkeit der Meinungsfreiheit zu erinnern? Wenn es so wäre, dann sind es nicht heitere, dann sind es düstere Zeiten im Frühling des Jahres 2017. Schon die Zeitgenossen versuchen, ihre Spuren zu verwischen.

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