Berliner Bildungspolitik - Wie ein Schulsystem gegen die Wand gefahren wird

Eine Redakteurin und ein Redakteur des Berliner „Tagesspiegel“ nehmen in einem Buch die Berliner Schulmisere aufs Korn. Es ist eine schonungslose Abrechnung mit einer Schulpolitik, die sich zugunsten ideologischer Wunschträume von der pädagogischen Evidenz verabschiedet hat.

Klassenzimmer in einer Berliner Grundschule / dpa
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Autoreninfo

Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er verfasste das Buch „Fluch des Erfolgs. Wie das Gymnasium zur ,Gesamtschule light‘ mutiert“.

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Berlin ist das einzige Bundesland, in dem Lehrer nicht verbeamtet werden. Als ich vor einiger Zeit an einem Berliner Gymnasium als Vertretungslehrer unterrichtete, hatte ich eine unliebsame Begegnung mit den Risiken und Nebenwirkungen des Angestelltenstatus. Die GEW hatte ihre Gefolgschaft zum Streik aufgerufen – ausgerechnet am Tag des mündlichen Abiturs. Am wichtigsten Tag ihres Lebens ließen die streikenden Lehrer ihre Schutzbefohlenen im Stich, weil sie ihre materiellen Interessen höher veranschlagten als den Wunsch der Schüler, ihre Prüfung bestmöglich zu bestehen. Ich musste als beamteter Lehrer einspringen und Schüler prüfen, die ich zuvor nie gesehen hatte. Ich erlebte den Tiefpunkt einer verantwortungslosen Schulpolitik, die seit 20 Jahren von der SPD verantwortet wird.

Die beiden Tagesspiegel-Redakteure Lorenz Maroldt und Susanne Vieth-Entus haben eine Streitschrift über die Versäumnisse der Berliner Schulpolitik vorgelegt, die es in sich hat. Kenntnisreich, engagiert und mit sprachlicher Verve schildern sie, wie die ideologisch fixierte Schulpolitik der SPD seit Jahren in der Praxis kläglich versagt. Seit über zehn Jahren belegen Berlins Schulen im Ländervergleich einen der letzten beiden Plätze. Jedes Jahr verlassen circa 3000 Schüler die Schule ohne Abschluss. Sie landen als Ungelernte in prekären Arbeitsverhältnissen, im staatlichen Transfersystem oder in der Delinquenz. Besserung ist nicht in Sicht.

Berlin: Das Land der Quereinsteiger

Der Angestelltenstatus der Berliner Lehrer hat nicht nur das pädagogische Ethos meines Berufsstandes beschädigt, er führte an den Schulen auch zu gravierenden Verwerfungen. Seit 2017 haben 3370 angestellte Lehrer Berlin verlassen, um in anderen Bundesländern den begehrten Beamtenstatus zu erlangen. Um diesen gigantischen Aderlass zu kompensieren, wurden Akademiker aller Fachrichtungen angeworben. Als „Lehrer ohne volle Lehrbefähigung“ übernehmen sie sofort den Unterricht. Berufsbegleitend absolvieren sie das Referendariat. Berlin liegt hinsichtlich des Anteils nicht vollständig ausgebildeter Lehrkräfte im Bundesvergleich weit an der Spitze: Im Schuljahr 2019/2020 betrug der Anteil von Quereinsteigern an den eingestellten Lehrern in Bayern 0,4 Prozent, in Berlin 61,1 Prozent (1649 von 2700 Lehrern). Das Quereinsteiger-Problem verschärft die soziale Schieflage, die es im Berliner Schulsystem ohnehin schon gibt. Quereinsteiger finden sich nämlich vor allem in den Bezirken, die der Senat als soziale Brennpunkte identifiziert. Im Schuljahr 2019/2020 betrug die Zahl der Lehrer an Brennpunktschulen, die keine volle pädagogische Ausbildung absolvierten, 44 Prozent.

Stets hatte Schulsenatorin Scheeres abgestritten, dass die mangelnde Qualifizierung der Quereinsteiger einen negativen Einfluss auf die Lernergebnisse der Schüler habe, bis die von ihr selbst eingesetzte Qualitätskommission unter dem Bildungsforscher Olaf Köller sie eines Besseren belehrte. Die Experten forderten, in den unteren Klassenstufen, in denen es um den Spracherwerb der Kinder geht, künftig auf mangelhaft ausgebildete Lehrkräfte zu verzichten. Das gleiche gilt für die Vermittlung mathematischer Basiskompetenzen. In Berlin wird Mathematik häufiger als in anderen Bundesländern von fachfremden Lehrkräften unterrichtet. In den Klassen 7 bis 10 sind es 17,8 Prozent gegenüber 12,2 Prozent im Bundesdurchschnitt. Wenn man die quereingestiegenen Lehrer hinzuzählt, kommt man zu dem Ergebnis, dass in der Mittelstufe 37 Prozent des Mathe-Unterrichts von Lehrkräften ohne fachbezogene Ausbildung erteilt wird. Muss man sich da wundern, wenn ein Drittel der Neuntklässler bei den Vergleichstests in Mathematik nicht einmal den Mindeststandard erreicht? Die beiden Autoren ziehen das bittere Fazit, dass die ohnehin schon benachteiligten Schüler in sozialen Brennpunkten die Hauptlast des selbstgemachten Lehrermangels zu tragen haben. Für die SPD, die sich auf ihr soziales Gewissen so viel zugutehält, ist das ein vernichtendes Urteil.

„Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“

Die Berliner Presse kann ein Lied davon singen, wie die Berliner Schulverwaltung mit Transparenz und Offenheit umgeht. Auf Anfragen antwortet sie häufig mit der Floskel: „Dem Senat sind keine Erkenntnisse bekannt …“ oder „Entsprechende Daten werden statistisch nicht erfasst …“. Lange versuchte Schulsenatorin Scheeres die Probleme, die sich aus der hohen Zahl der Quereinsteiger an den Schulen ergaben, kleinzureden. Dem Neuköllner SPD-Abgeordneten Joschka Langenbrinck wurde häufig die Auskunft verweigert, wenn er wieder einmal bei der Schulverwaltung vorstellig wurde, um aktuelle Zahlen in Erfahrung zu bringen. Erst als er auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts verwies, welches das Auskunftsrecht von Abgeordneten gestärkt hatte, rang sich die Schulverwaltung zur Veröffentlichung konkreter Zahlen durch.

2018 hatten die Vergleichsarbeiten der Drittklässler in Deutsch und Mathematik (Vera 3) wieder einmal katastrophale Lernergebnisse erbracht. In Deutsch blieb die Hälfte der Schüler, in Mathematik ein Drittel unter den Minimalanforderungen. Die Öffentlichkeit reagierte entsetzt. Was tat die Schulsenatorin? Sie kündigte an, solche Ergebnisse künftig nicht mehr zu veröffentlichen. Eine ähnliche Brüskierung der Öffentlichkeit leistete sich Frau Scheeres bei den Ergebnissen der MSA-Prüfung an den unterschiedlichen Schulformen. Am besten schnitt die Gesamtschule ab, dann kam die Integrierte Sekundarschule und zum Schluss die Gemeinschaftsschule. Dieses Ergebnis war der Schulsenatorin peinlich, weil ihre beiden Lieblingsschulen nur die hinteren Plätze belegten. Die SPD hat sich nämlich inzwischen von der Gesamtschule, die sie einst erfunden hatte, verabschiedet, weil auch in dieser Schulform noch „selektiv“ unterrichtet werde.

Dabei hat der Unterricht in homogenen leistungsbezogenen Kursen in den Hauptfächern Deutsch, Mathematik und Englisch die Gesamtschule in ganz Deutschland zu einem Erfolgsmodell gemacht. Das ficht die SPD nicht an, für die pädagogische Evidenz seit Jahren eine untergeordnete Rolle spielt. Als die Gesamtschule auch in den folgenden Jahren beim MSA-Abschluss den ersten Rang belegte, beschloss die Verwaltung, die MSA-Ergebnisse nicht mehr nach Schulformen aufgeschlüsselt zu veröffentlichen. Wer diese Daten in Erfahrung bringen will, muss sich durch die verschachtelten Seiten des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) klicken. Da berufstätige Eltern dies in der Regel nicht tun, ist das Veröffentlichungsverbot für sie ein Affront. Sie werden dadurch an der seriösen Wahl der passenden Schulform für ihre Kinder gehindert. Dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel wird die spöttische Bemerkung zugeschrieben: „Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen.“ In Berlin ist aus dem Spott Wirklichkeit geworden.

Schon die Kleinsten werden abgehängt

Wissenschaftler sind sich einig, dass die erfolgreiche Schulkarriere eines Kindes entscheidend von seiner Förderung im Vorschulalter abhängt. Dazu Bildungsforscher Klaus Klemm: „Kinder aus anregungsarmen Haushalten können die Rückstände, die sie aus mangelnder Frühförderung erleiden, kaum noch aufholen.“ Kinder aus bildungsbürgerlichen Elternhäusern sind doppelt im Vorteil: Sie genießen ein intellektuell anregendes Elternhaus und den sozialen Austausch in der Kita. Kindern mit Migrationsgeschichte fehlt oft beides. Vor allem ihr Kitabesuch lässt zu wünschen übrig. Von den Kindern aus arabischstämmigen Familien besuchten 2017 nur 60 Prozent eine Kita. Theoretisch ist Berlin – wie so oft – bestens aufgestellt. Das Schulgesetz sieht seit 2012 vor, dass „Nichtkitakinder“ eineinhalb Jahre vor der Einschulung einen Sprachtest absolvieren müssen. Wenn sie ihn nicht bestehen, müssen sie einen sprachlichen Förderkurs belegen, der sie fünf Stunden täglich mit der deutschen Sprache vertraut macht. Von den 2000 angeschriebenen Familien schickten 2018 nur 650 ihre Kinder zum Sprachtest, von den 470 Kindern, die ihn nicht bestanden, erschienen nur 50 zum obligatorischen Förderunterricht in der Kita. Wie der Tagesspiegel damals erfuhr, wurde gegen die säumigen Eltern kein einziges Mal ein Bußgeld verhängt. Man geht sicher nicht fehl in der Annahme, dass hier eine besondere Rücksichtnahme gegenüber den Migranten im Spiel war. Sarkastisch schreiben die beiden Verfasser, es gehöre zur „Absonderlichkeit, dass es in Berlin jahrelang möglich ist, gesetzliche Vorgaben zu ignorieren“.

Feindbild Leistung

Berlin hat sich schon seit längerem an der Spitze der Bundesländer gesetzt, die das Leistungsprinzip in der Schule aushöhlen. Die Schulverwaltung hat vorexerziert, dass auch unantastbare Regularien wie die Notenskala kein Tabu darstellen. Bei Klassenarbeiten, Klausuren und Abituraufgaben wird die Note „ausreichend“ auch bei weniger als 50 Prozent der erbrachten Leistung erteilt; die Bestnote 1+ bekommt man, nicht wie der gesunde Menschenverstand vermutet, bei 100 Prozent, sondern schon bei 95 Prozent der erbrachten Leistung. Wenn man die Notenskala um 5 Punkte nach unten verschiebt, muss sich rein rechnerisch das Ergebnis verbessern, ohne dass bei den Schülern ein Lernzuwachs erfolgt wäre.

Die Autoren von „Klassenkampf“ schildern ein aufschlussreiches „Experiment“, das ein Masterstudent der Humboldt-Universität zu Berlin im Jahr 2018 durchgeführt hat. Er verglich die Mathe-Abituraufgaben der Bundesländer Bayern und Berlin. Das Resultat war eindeutig: Die bayerischen Aufgaben waren schwieriger als die Berliner. Das ist umso verwunderlicher, als im Berliner Abitur nur die Schüler in Mathematik geprüft werden, die zuvor einen Grund- oder Leistungskurs belegt hatten. In Bayern werden hingegen auch die Schüler in Mathematik geprüft, die das Fach gar nicht belegt hatten. Der Mathematikprofessor Andreas Filler von der HU bestätigte diesen Befund. Das Leistungsgefälle betrifft auch andere Fächer. In meinem Deutsch-Leistungskurs habe ich meine Schüler übungshalber die bayerischen Abituraufgaben im Fach Deutsch bearbeiten lassen, um sie optimal auf die Prüfung vorzubereiten. Ich stellte fest, dass sie mit den Berliner Lehrplanvoraussetzungen nicht lösbar gewesen wären.

Die Berliner Bildungsverwaltung verteidigt die Leistungsermäßigungen stets damit, dass Berlin die Stadt sei, in der besonders viele Kinder aus bildungsfernen Familien zur Schule gingen. Hinzu komme ein hoher Anteil an Migranten, deren Kinder allein schon wegen sprachlicher Hürden schulisch benachteiligt seien. Das letzte Argument kann man widerlegen, wenn man Daten des Statistischen Bundesamtes zu Rate zieht. Demnach haben Städte wie Köln, Stuttgart, Frankfurt/M., Nürnberg und München einen höheren Migrantenanteil als Berlin. In diesen Städten schneiden Kinder mit Migrationsgeschichte besser ab als in Berlin. Dies trifft auch auf Kinder aus deutschen Familien mit prekärem sozialem Hintergrund zu. Sie erzielen deshalb bessere Ergebnisse, weil es dort Schulformen gibt, die auf ihre spezifischen Bedürfnisse zugeschnitten sind, wie z.B. die Mittelschule in Bayern und die Werkrealschule in Baden-Württemberg.

Deprimierender Blick ins Klassenzimmer

Ein Thema habe ich in dem Buch „Klassenkampf“ vermisst. Es betrifft einen Bereich, über den kaum jemals ein Journalist schreibt und der auch von Bildungsforschern hartnäckig beschwiegen wird. Dabei geht es um nichts Geringeres als um das „Betriebssystem“ einer Schule: den Unterricht. Ein befreundeter Schulleiter, der fünf Jahre an Berliner Schulen als Schulinspekteur unterwegs war, schilderte mir das alltägliche Chaos in den Klassenzimmern – vor allem an den Integrierten Sekundarschulen. Was sich dort abspiele, könne man oft nicht mehr Unterricht nennen: ständiges Zuspätkommen, vergessenes Unterrichtsmaterial, unerledigte Hausaufgaben, hoher Lärmpegel, Privatgespräche, Handy-Geklingel, ungeniertes Essen und Trinken, respektloser Umgangston. Die Inspekteure vermerkten in ihrem Bericht, dass in solchen Stunden die effektive Lernzeit von 45 Minuten auf 30 Minuten zusammengeschmolzen sei. Mathe-Aufgabe für die 9. Klasse: Berechne das Defizit an effektiver Lernzeit im Fach Englisch im ganzen Schuljahr bei 42 Schulwochen und einer Wochenstundenzahl von drei Stunden. Hat jemals ein Schulleiter eine solche Rechnung für seine eigene Schule angestellt?

Bevorzugung fragwürdiger Lernmethoden

Jeder erfahrene Lehrer weiß, mit welchen Lernmethoden seine Schüler die besten Lernerfolge erzielen. Eigene Erfahrungen und die Ergebnisse von Klassenarbeiten haben ihn das gelehrt. Die Berliner Schulverwaltung hat in den Fragebögen der Schulinspektion jahrelang die Methoden favorisiert, die dem linken Weltbild der Bildungsplaner entsprechen: Für Selbstlernmethoden gab es Pluspunkte, für lehrerzentrierte Methoden Minuspunkte. Selbst die erfolgreichste Lernmethode, das Unterrichtsgespräch, wurde als „überholt“ abgewertet. Die beiden Autoren des Buches erinnern daran, wie übel die Schulinspektion der Friedrich-Bergius-Sekundarschule mitgespielt hat. Obwohl ihre Schüler bessere Schulabschlüsse als die Schüler vergleichbarer Schulen erzielten, wurde die Schule abgewertet, weil ihre Lehrkräfte nicht die erwünschten Lernmethoden angewandt hatten. Auf die Ergebnisse kam es offensichtlich nicht an. Dabei hat die Schule nur den Ratschlag des Didaktikers Hermann Giesecke befolgt: „Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.“ – „Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts.“ (Warum die Schule soziale Ungleichheit verstärkt, 2003) Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder aus Migrantenfamilien benötigen die helfende und erklärende Hand der Lehrkraft. Schulen, die diese Einsicht beherzigen, tun ihren Schülern einen größeren Gefallen als diejenigen, die dem modischen Zeitgeist huldigen.

Eine Qualitätswende ist überfällig

Im Schlusskapitel „Auswege“ unterbreiten die beiden Autoren Vorschläge, wie die Berliner Schulmisere behoben werden kann.
-    Der planlose „Reform-Overkill“ müsse zugunsten zielgerichteter Interventionen beendet werden, deren Wirksamkeit ständig zu überprüfen sei: „Lieber gut verwalten als schlecht reformieren.“
-    Lehrern und Eltern auferlegte Verpflichtungen müssten durchgesetzt werden, so z.B. die Selbstevaluation der Lehrerkräfte und die Sprachförderung von Migrantenkindern.  
-    Frühkindliche Bildung sei für den Schulerfolg von Kindern aus bildungsfernen Familien essenziell, weil nur so verhindert werden könne, dass ihre Defizite irreversibel werden.
-    Brennpunktschulen müssten durch eine Privilegierung bei der materiellen Ausstattung und beim Personalschlüssel ertüchtigt oder geschlossen werden.
-    Freie Schulen dürften nicht länger geknebelt und schikaniert werden.  

Einen Vorschlag halte ich für den wichtigsten: Berlins Schulverwaltung müsse sich zu einer „viel stärkeren Qualitätskontrolle und intensiverer Leistungserfassung der Schulen“ durchringen, zu einer „Kultur des Hinschauens“, wie es Petra Stanat, die Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), formuliert. Schulleiter wissen, dass die Lerndefizite von Schülern auch den Schwächen einzelner Fachlehrer geschuldet sind. Zwischen zwei Parallelklassen kann der Lernunterschied in Englisch schon einmal ein halbes Schuljahr betragen. Der eine Englischlehrer kann die Schüler für die Fremdsprache begeistern, der andere quält sich uninspiriert durch das Lehrbuch. Ein Mathelehrer, der die Rechenoperationen nicht richtig erklären kann, treibt seine Schüler zur Verzweiflung. Zutage fördern könnte man solche Unterrichtsschwächen, wenn man die Ergebnisse der Vergleichstests Vera 3 und Vera 8 nach Klassen auswertete. Durch gezielte Fortbildungen müsste man dann die schwächeren Lehrkräfte ertüchtigen. Auch die kollegiale Hospitation – der gegenseitige Besuch im Unterricht – kann zu einer Qualitätssteigerung beitragen.

Die Expertenkommission hat im Jahr 2020 herausgefunden, dass viele der in Berlin im Unterricht angewandten Methoden keine Wirksamkeit entfaltet haben. Deutlicher kann die Kritik an fragwürdigen Lernkonzepten nicht ausfallen. Es ist dringend geboten, wissenschaftlichen Befunden und pädagogischer Evidenz wieder den gebührenden Stellenwert einzuräumen. An den Schulen sollten vor allem die Lernmethoden zur Anwendung kommen, die den größten Lernerfolg verbürgen. Nach einem ideologischen Jahrzehnt, das Berlins Schulen im Leistungsvergleich in den Keller geführt hat, brauchen wir jetzt einen Aufbruch in eine Dekade, in der in allen Schulformen der Fokus auf die Verbesserung der Lernkultur gerichtet wird. Von dem Schriftsteller Siegfried Lenz stammt das treffende Wort: „Mit seinen Lehrern lebt man zeitlebens.“ Für Berlins Schüler gilt, dass sie ihr Leben lang mit den Folgen einer mängelbehafteten schulischen Bildung leben müssen.

Das Buch „Klassenkampf“ wird Furore machen. Für Berliner Lehrer, Eltern, Politiker und Journalisten ist die Lektüre ein Muss. Vielleicht wächst in der Stadtgesellschaft bald die Einsicht, dass die ideologischen Experimente der SPD auf Kosten unserer Kinder ein Ende haben müssen.

Lorenz Marold und Susanne Vieth-Entus: „Klassenkampf – Was die Bildungspolitik aus Berlins Schuldesaster lernen kann“. Suhrkamp, Berlin 2022, 267 S., 18 €

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