Berlinale 2021 - Bären-Rennen digital

Der rote Recycling-Teppich hätte längst ausgerollt sein sollen vor dem Festival-Palast am Potsdamer Platz. Am 11. Februar wäre sie eigentlich eröffnet worden, die 71. Berlinale. Doch wie so vieles andere auch findet sie – zunächst – nur virtuell statt. Darunter Erich Kästners „Fabian“, gespielt von Tom Schilling.

Tom Schilling als Hauptdarsteller in der Kästner-Verfilmung „Fabian oder der Gang vor die Hunde“ / dpa
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Autoreninfo

Marga Boehle ist Journalistin und Filmkritikerin. Boehle war Mitglied im Auswahlkomitee der Berlinale. Sie lebt in München.

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Das erste große A-Festival der Saison, das normalerweise den Startschuss gibt für das Branchen-Filmjahr, geht online. Und hat sich, erstmals in der seiner Geschichte – aber in diesen Zeiten passiert ja so gut wie alles zum ersten Mal – zweigeteilt. Im Rahmen eines digitalen Industry Events rund um den European Film Market wird es vom 1. – 5. März eine Online-Veranstaltung für Branchenvertreter und akkreditierte Presse geben. Das Berliner Publikum kann dann vom 9. – 20. Juni bei einem Summer Special die Filme des Wettbewerbs und der diversen Reihen sehen. Verliehen wird dann auch im Rahmen einer Gala der von einer Jury vergebene Goldene Bär. Man hofft, so Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek, dann dem Publikum “die ersehnte Festivalatmosphäre” schaffen zu können, mit Vorführungen an ca. zehn Spielorten. So kommt sie irgendwie doch noch, die von vielen herbeigesehnte Sommer-Berlinale.

Die Jury, auch das neu und sicherlich einmalig, besteht in diesem Jahrgang aus sechs RegisseurInnen, die schon einmal den Goldenen Bär gewonnen haben: Der letztjährige Gewinner Mohammad Rasoulof („Doch das Böse gibt es nicht“), Nadav Lapid („Synonymes“, 2019), Adina Pintilie („Touch Me Not“, 2018), Ildiko Enyedi („Körper und “, 2017) Gianfranco Rosi („Seefeuer“, 2016) und Jasmina Zbanic („Grbavica“, 2006).

Erich-Kästner-Adaption „Fabian“

Im Wettbewerb, erstmals ohne einen einzigen US-amerikanischen Titel. Ist Deutschland stark vertreten: Dominik Graf zeigt seine Erich-Kästner-Adaption „Fabian oder der Gang vor die Hunde“, mit Tom Schilling und Albrecht Schuch hervorragend besetzt. Schuch, der schon mit „Systemsprenger“ und „Berlin Alexanderplatz„ auf der Berlinale war, vertritt seine Heimat in diesem Jahr auch im Programm der „European Shooting Stars“, ebenfalls digital abgehalten. Daniel Brühl präsentiert sein Regiedebüt „Nebenan“ nach einem Drehbuch von Daniel Kehlmann, in dem er auch selbst neben Peter Kurth vor der Kamera steht. Maria Schrader, für ihre gefeierte Miniserie „Unorthodox“ gerade Golden-Globe-nominiert, ist mit ihrem dritten Kinofilm „Ich bin dein Mensch“ erstmals in der offiziellen Sektion vertreten. Maria Späth zeigt ihre Langzeitdoku „Herr Bachmann und seine Klasse“, und der in Tiflis geborene Regisseur Alexandre Koberidze, der sein Studium an der dffb Berlin absolvierte, die deutsch-georgische Produktion „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“

Auch das Berlinale-Special gibt es noch. Eine wirkliche Verschlankung des Programms, wie es immer wieder von der Berlinale gefordert wurde, ist nicht erkennbar. Auch in dem Programm ist die deutsche Beiteiligung stark: Tim Fehlbaum, dessen Debüt „Hell“ für Furore sorgte, ist mit seinem lang erwarteten Science Fiction Drama „Tides“ dabei, Christian Schwochow zeigt nach “Deutschstunde” seinen neuen Film „Je suis Karl“ mit Jannis Niewöhner und Luna Wendler, Marc Bauder den Dokumentarfilm „Wer wir waren“ nach einem Essay von Roger Willemsen, und Aliaksai Paluyan ist mit dem brandaktuellen Dokumentarfilm „Courage“ um drei Schauspieler, die mit ihren friedlichen Protesten in Belarus für Freiheit und Demokratie kämpfen, vertreten.

„Wut über die Entwicklung unserer Gesellschaft“

Politisch ist sie also auch, diese Berlinale. Carlo Chatrian, der künstlerische Leiter, resümiert bei der Programmvorstellung per Video, die Filme zeigten „eine Wut über die Entwicklung unserer Gesellschaft“. Im 15 Filme umfassenden Wettbewerb finden sich neben den Deutschen viele alte Berlinale-Bekannte wie der Südkoreaner Hong Sang-soo mit „Introduction“, der Ungarn Bence Fliegauf mit „Forest – I See You Everywhere“, der Rumänen Radu Jude mit „Bad Luck Banging or Loony Porn“ sowie der Mexikaner Alonso Ruizpalacios mit „Una pelicula de policias“.

Der Franzose Xavier Beauvois, der im Berlinale-Eröffnungsfilm von 2011, „Leb wohl, meine Königin“, mitspielte, präsentiert mit „Albatross“ seine neueste Regiearbeit. Die Französin Céline Sciamma, die in Cannes mit „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ begeisterte, ist erstmals in Berlin zu Gast mit „Petite Maman“. Weitere Beiträge kommen aus Japan, dem Iran, Libanon und Lettland.

Spannendes könnte auch in den anderen Reihen zu entdecken sein, im letztes Jahr neu geschaffenen Encounters etwa oder den etablierten Sektionen Panorama, Perspektive Deutsches Kino, Forum + Forum Expanded, Generation und Berlinale Shorts. Was die Presse aber tatsächlich sehen kann, ist noch unklar und bleibt abzuwarten. Nicht das Festival entscheidet, wer die Filme in den Press & Industry-Screenings sichten darf, sondern die jeweiligen Produktionsfirmen.

Online-Ausgaben ohne Festivalatmosphäre

Auch, ob es mit dem Streaming funktioniert, bleibt abzuwarten. Immerhin haben andere Festivals bereits Erfahrungen gemacht mit ihren digitalen Ausgaben und ziehen zum Teil äußerst positive Bilanz.

Den Anfang machte im letzten Jahr das DOK.fest München, das im Mai als Online-Festival stattfand. Dabei wurden die Erwartungen der Veranstalter bei weitem übertroffen: Die 35. Ausgabe des Dokumentarfilmfestivals war die mit 52.000 Zuschauern bis dato erfolgreichste. Der hohe Zuspruch – mehr als 75.000 gezählte Zuschauer, die Zahl der realen dürfte deutlich höher liegen – sahen außergewöhnliche Dokumentarfilme, die sie sonst vielleicht nicht gesehen hätten. Und: 51 Prozent der Tickets wurden mit einem freiwilligen Solidaritätsbeitrag für die vier Partnerkinos, die in der Pandemie leer blieben, verkauft. An sie konnten nach dem Festival über 19.000 Euro übergeben werden. Ein mögliches Erlösmodell, das Schule machen könnte, wenn fürs Kino konzipierte Filme immer häufiger zuerst gestreamt werden.

Eine überwältigende Rasanz seiner Online-Ausgabe zieht auch das „Filmfestival Max Ophüls Preis“: Festivalleiterin Svenja Böttger meldete für die im Januar virtuell abgehaltene Veranstaltung über 39.000 Filmsichtungen und insgesamt rund 61.000 Zugriffe auf die Angebote des Festivals. Fest steht, dass viele Zuschauer, die auch in normalen Zeiten nicht zu Festivals anreisen können, die Angebote nutzen. Eine Erkenntnis ist aber auch, dass die Festivalatmosphäre fehlt, der Austausch über das Gesehene. Festivals jenseits des Kino sind möglich und wichtig, können die spezielle Festivalatmosphäre aber nicht ersetzen. Zurückdrehen lässt sich das Rad aber nicht mehr: Die Zukunft der Festivals wird wohl immer öfter in der Koexistenz von Kino und Stream liegen.

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