Bachfest in Leipzig - Ein Europäer in der Musik

Johann Sebastian Bach gilt neben Goethe und Schiller als Inbegriff der deutschen Kultur. Seine Musik wird daher gerne von AfD und Pegida instrumentalisiert. Das am 10. Juni startende Bachfest in Leipzig aber zeigt: Bach war vor allem ein Universalist und Erneuerer

Johann Sebastian Bach (1685-1750). Bild: picture alliance
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Der Kult um Johann Sebastian Bach hat viele Gesichter. Manchmal sogar als Soundtrack für AfD- und Pegida-Kundgebungen. Am 7. November 2015 etwa zogen rund 5.000 Demonstranten durch Berlins Innenstadt. Sie bezeichneten sich etwas anmaßend als „das Volk“, skandierten Parolen gegen „Volksverräter“, „Asylschmarotzer“ und natürlich die „Lügenpresse“. Auf der Abschlusskundgebung vor dem Roten Rathaus wurden die Demonstranten dann nicht mit patriotischem Liedgut oder volkstümlichem Schlagergedudel empfangen, sondern mit einem der schönsten und strahlendsten Werke der europäischen Musikgeschichte: dem „Dritten Brandenburgischen Konzert“ von Johann Sebastian Bach. Es war mit ziemlicher Sicherheit die schönste musikalische Umrahmung einer politischen Kundgebung, die in diesem Jahr in Berlin zu hören war. Und das ausgerechnet bei einer Versammlung von ausgewiesenen Gegnern einer weltoffenen Kultur.

Dabei ist es relativ abseitig, Bach als Kronzeugen für eine „deutsche Leitkultur“ aufzurufen. „Deutsch“ ist vor allem seine Herkunft und seine Verwurzelung im Protestantismus. Wobei gerne übersehen wird, dass die geistlichen Werke nicht einmal ein Drittel seines Oeuvres ausmachen. Doch im Prinzip war Bach ein Globalist auf der Suche nach einer universellen Tonsprache, ohne jeglichen Bezug zu germanischen Mythen. Er etablierte die wohltemperierte Stimmung als Meilenstein zur Gleichberechtigung aller Tonarten durch Angleichung der Abstände zwischen den zwölf Halbtönen unseres Tonsystems.

Visionärer Tonsetzer
 

Bach entwickelte die archaischen Formen der Mehrstimmigkeit (Polyphonie) in einem wahren Quantensprung weiter und sprengte das Korsett „erlaubter“ harmonischer Fortschreibungen und Auflösungen – zum Beispiel in „Die Kunst der Fuge“ oder in „Das musikalische Opfer“. Bach beherrschte wie kein Komponist vor ihm (und wie die wenigsten nach ihm) die Kunst der Improvisation über einfache Basslinien oder auch komplexe Themen. Er führte in seinen Solopartiten und -suiten für Violine und Cello das akkordische Spiel für diese Instrumente ein.

Obwohl er Deutschland nie verließ, beschäftigte er sich intensiv mit dem europäischen Musikschaffen, besonders in Italien, Frankreich und England, und verarbeitete diese Stile in seinen Werken. Als visionärer Tonsetzer wurde er zur Inspirationsquelle späterer Epochen bis hin zur Zwölftonmusik und zu Strömungen im modernem Jazz.

Nach seinem Tod 1750 sollte es allerdings mehrere Jahrzehnte – bei einigen Aspekten gar Jahrhunderte – dauern, bis die Tragweite seiner kompositorischen Innovationen erkannt wurde. Vielmehr wurde Bach in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum noch aufgeführt, die Werke galten als „verzopft“ und „altmodisch“.

Bach wird auf allen fünf Kontinenten aufgeführt
 

Wer sich wirklich einlässt, spürt vor allem auch jenseits vertiefter musikalischer Kenntnisse die emotionale und spirituelle Kraft, die von seiner Musik ausgeht. Und das eben nicht wegen der Verzahnung vieler Orgelwerke, Kantaten, Messen, Magnificate und Choräle mit liturgischen Ritualen, sondern wegen der universellen, zeitlosen Schönheit und unergründlichen Tiefe dieser Tonschöpfungen. Sie lassen sich weder auf Basis der Erkenntnistheorie noch der modernen Psychologie erklären. Und schon gar nicht als Ausdruck einer spezifischen „deutschen Kultur“. Längst wird die Musik von Johann Sebastian Bach in allen fünf Kontinenten gepflegt und aufgeführt.

Eine besondere Rolle spielt dabei das jährliche Bachfest in Leipzig. Am 10. Juni ist es wieder so weit. In Leipzig wird das Bachfest eröffnet. Zu den auf zehn Tage verteilten 112 Konzerten und Begleitveranstaltungen werden mehr als 20.000 Besucher erwartet. Die Stadt pflegt das Erbe des wohl wichtigsten deutschen Barockkomponisten, der dort als Thomaskantor von 1723 bis zu seinem Tod im Jahr 1750 tätig war und der Musikgeschichte mit seinem Wirken einen Schub verpasste, der bis in die Gegenwart anhält. Und noch heute gehört der damals von ihm geleitete Thomanerchor zu den besten Klangkörpern seines Genres.

Leipziger Bachfest trotzt „Legida“
 

„Geheimnisse der Harmonie“ lautet in diesem Jahr das Motto, neben Werken von Johann Sebastian Bach wird vor allem das Schaffen des immer noch weitgehend in Vergessenheit geratenen Komponisten Max Reger gewürdigt. Reger starb vor 100 Jahren und war zeitweilig in Leipzig als Universitätsmusikdirektor tätig. Auch er lässt sich schwerlich in eine „deutsche Leitkultur“ einordnen. Im Gegenteil: In seiner Münchener Zeit war er aufgrund seines universalen Musikverständnisses heftigen Anfeindungen der nationalistisch dominierten Musikszene um Ludwig Thuille und Max Schilling ausgesetzt.

Das stets großartig besetzte und aufwändig kuratierte Leipziger Bachfest wird der Bedeutung seines Namensgebers zweifellos gerecht. Das kann man wahrlich nicht von allen Formen der „Bach-Pflege“ sagen. Zwar gehört seine Musik zum Kanon der bürgerlichen Hochkultur und ist Dreh- und Angelpunkt der (evangelischen) Kirchenmusik. Aber längst fungieren filigrane Choräle und Chorsätze zur Adventszeit in unsäglich verpopten Versionen als verkaufsfördernde Beschallung in Konsumtempeln und auf Weihnachtsmärkten.

Während des Bachfestes in Leipzig hat man stets den Eindruck, dass ein ganz besonderer Geist die Innenstadt erfasst. Viele Konzerte finden nicht in abgeschotteten Kulturtempeln, sondern – ohne Eintritt – in Kirchen und auf dem Marktplatz statt. Doch auch in diesen Tagen wird es möglicherweise wieder einen Aufmarsch der Legida-Bewegung geben.

Vielleicht sollten die Teilnehmer stattdessen mal in eines der Konzerte gehen. Am besten gemeinsam mit Flüchtlingen, die derzeit in Leipzig leben. Der fromme Wunsch eines „Gutmenschen“? Sicherlich, aber dennoch eine faszinierende Idee.

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