Aussichtslosigkeit und Aufstieg - Der Junge aus Kaiserslautern

Christian Baron, ein Junge aus Kaiserslautern, heute Journalist beim linken „Freitag“, hat ein Buch über seine Jugend in Armut, Hunger, Gewalt, Alkohol und nahezu aussichtsloser Herkunft geschrieben. Doch er hat es geschafft. Wie? Auch das verrät sein Buch „Ein Mann seiner Klasse“

Du hast es geschafft. Aber wer schafft es noch? /dpa
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Autoreninfo

Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat und Publizist. Zuletzt sind von ihm im Dietz-Verlag erschienen: „Das Streben nach Freiheit“ und  „Die liberale Illusion“.

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Barons Buch ist ein schonungsloser Bericht sozialer Prekarität und vom Willen eines Jungen, all dem zu entfliehen. Was Baron tut, auch für uns, den Leser und die Gesellschaft, ist, gedanklich zurückzukehren, alles nochmal zu durchleben, sich alles nochmal anzutun, um in uns die Empathie zu wecken: So etwas darf in einem reichen Land nicht sein.

Kaiserslautern, die West-Pfalz, ist von vielen Geschichten dieser Prekarität geprägt. Leider. Im Ruhrgebiet ist es noch schlimmer. 41 Prozent aller Kinder wohnen in Gelsenkirchen in Haushalten, die Hartz IV beziehen. Und in Dortmund, Duisburg, und Essen erhält jedes dritte Kind staatliche Stütze.

Blanker Bericht sozialer Prekarität

Christian Barons Blick ist von einer großen Unschuld geprägt, an der er in fast masochistischer Weise den Leser teilhaben lässt. Er hält uns ein Leiden und ein Leben, denen er entflohen ist, so sehr vor das Gesicht, dass wir darüber gesellschaftlich nicht mehr hinwegsehen sollen. Barons Buch ist keine geiernde Sozialpornografie à la „Hartz und herzlich“ auf RTL2. Kein voyeuristisches „zur Schaustellen“ der existenziellen Verwüstung sozialer Prekarität. Nein, es ist der erschütternde blanke Bericht sozialer Prekarität.

Zwei Beispiele aus seinem literarischen Bericht erzählen davon.

Erstes Beispiel: Eines Tages hatte der Junge aus Kaiserslautern so einen Hunger, dass er auf einen Einfall kam, der beim Lesen fast zum Speien zwingt. Der Junge hatte im Fernsehen gehört, dass Schimmel ja auch ein Pilz sei und man Pilze, so weiß der Junge, ja grundsätzlich auch essen könne. So kratzte er mit seinen Fingernägeln den Schimmel von der Wand und schob ihn in seinen Mund. Ja, der Junge aus Kaiserslautern stopfte voller Hunger Schimmel in sich hinein. Der Leser mag würgen und mit sich ringen, aber was fühlt er? Baron will unsere Empathie. Meine hat er.

Bei Baron hofft man, es sei Fiktion

Zweites Beispiel: Sein alkohol-kaputter Vater, der seine Mutter und ihn schlug, und ansonsten ein ziemlich mieser Arsch gewesen sein muss, wie Baron uns ihn schildert, tat eines Tages folgendes: Er trat einer Freundin der Familie in ihren Babybauch. Wer tut sowas? Einer Frau in ihren Babybauch treten? Widerlich. Abstoßend. Was ein Monster. Das letzte Mal, als ich von so etwas hörte und sah, war das Fiktion. Nämlich in der ZDF-Filmreihe „Unsere Mütter, unsere Väter“. Da schlug ein Nazi seiner Geliebten in den Babybauch, damit sie ihr Kind verliere. Da war es Fiktion. Bei Baron hofft man nur, es sei Fiktion.

Baron erzählt uns im Buch auch von der Erniedrigung, die man so erfahren muss, wenn man von unten kommt. Er bastelte sich einst ein Trikot des 1. FC Kaiserslautern, weil er sich keines leisten konnte und wurde von anderen sogleich dafür fertig gemacht, dass er so herumlaufe. Baron erzählt uns aber auch, wie man dem ganzen Teufelskreis der Prekarität entfliehen könne. Die Antwort ist einfach: Du brauchst immer einen, der an dich glaubt. In seinem Fall Tante Juli und Tante Ella. Ohne deren Ermunterung und Hilfe wäre aus dem Jungen aus Kaiserslautern nie der Mann geworden, der er heute ist.

Steckt mehr Geld ins Bildungssystem

Aber was ist mit denen, die Tante Juli und Tante Ella nicht haben? Die rheinland-pfälzische Regierung probiert etwa seit Längerem unter dem Dach der „Westpfalz-Initiative“ einen neuen Ansatz zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit. Dabei wird die ganze Familie analysiert, und Arbeitsberater, Sozialarbeiter und Familiencoaches versuchen gemeinsam nicht nur den Erwachsenen, sondern der ganzen Familie zu helfen. Die „Westpfalz-Initiative“ ist bislang mehr ein Modell als ein wirklich neuer Ansatz, denn die Initiative ist unterfinanziert und müsste von einem Landesprogramm zu einem bundespolitischen Programm und Ansatz werden – mit Geld vom Bund.

Was diese „Westpfalz-Initiative“ allerdings auch klar macht, und dies muss gesagt werden, damit Barons Buch nicht einfach zu Forderungen für mehr Hartz-IV-Geld führt, ist: Die Antwort auf soziale Prekarität lautet nicht: Gebt Hartz-IV-Empfängern mehr Geld. Die Antwort ist: Steckt mehr Geld ins Bildungssystem und eine moderne Sozialpolitik, damit ein Junge wie Baron niemals, aber auch niemals in Aussichtslosigkeit aufwachsen muss.

Die SPD hat Fehler gemacht

Baron ist etwas entflohen. Mit Glück, mit Talent, mit dem kleinen bisschen schicksalshaften Effet, den wir uns alle manchmal wünschen, weil wir glauben, dass wir es verdient haben. Andere bleiben aber zurück. Barons Buch könnte eine Diskussion über eine moderne Sozialstaatlichkeit auslösen anstatt nur wieder die soziale Lage zu beschreiben und dann der SPD vor das Schienbein zu treten, dass sie und Gerhard Schröder, den Baron in einem Interview zum Buch mit Deutschlandfunk Kultur gerade einen „Klassenverräter“ nannte, an dem ganzen Elend schuld seien. Die SPD hat Fehler gemacht. Schuld ist sie nicht. Es liegt auch am fehlenden Willen, eine sinnvolle Diskussion über Sozialstaatlichkeit zu führen. Das bekommt das Land und die politische Linke hierzulande seit dem Jahr 2005 nicht hin.

Aber Barons Buch liefert noch mehr als Munition, um mal wieder über den Sozialstaat zu reden. Er erzählt uns auch schonungslos, wie schwer es ist, als Junge von Nicht-Akademikern etwas in diesem Land zu werden. So oft wie man in diesem Land sozialen Aufstieg, soziale Marktwirtschaft und Aufstieg durch Bildung preist, und so wenig das wirklich stattfindet (nur ein Nicht-Akademikerkind von 100 promoviert), sollte dies eigentlich endlich auch eine Diskussion darüber zur Folge haben, ob das nicht alles eine Lebenschancenlüge ist, die man Menschen von unten als schönen Traum auftischt, der aber in der Realität kaum greifbar ist. Wer das verändern will, der muss über materielle Fragen reden, aber auch über kulturelle Fragen.

Irgendwo zwischen Roman und Sozialstudie

Ein Beispiel für die kulturellen Fragen: Ich fühlte mich an einer Stelle seines Buches seltsam verbunden mit Baron (auch ich bin Nicht-Akademikerkind), und dabei ging es darum, wie wir eigentlich aufwachsen. Was Kinder aus Nicht-Akademiker-Haushalten öfter gemeinsam haben, ist, dass sie nicht mit Bücherregalen aufwachsen. Ich erinnere mich, dass ich bereits alle „alten“ Star Wars Filme mehrfach gesehen hatte, bevor ich zum ersten Mal in meinem Leben selber und alleine ein Buch las. Ich kannte als Kind fast alle Sendungen bei Super-RTL, wer Immanuel Kant war, wusste ich nicht. In der Oper war ich als Erwachsener zum ersten Mal.

Eine Zeitung, die „Financial Times Deutschland“ (heute gibt es sie nicht mehr), habe ich zum ersten Mal im zweiten Semester regelmäßig gelesen. Und worüber ich nie nachdachte und was Baron mir vor Augen führte: Dass es unter Akademikern ungewöhnlich sein kann, einen größeren Fernseher zu haben, ja das sind diese kleinen Dinge, die den Unterschied machen. Baron führt uns das alles gnadenlos vor Augen – ohne auch nur anklagend gegenüber versnobten Rich-Kids zu sein. Er lässt sein Leben selbst sprechen. Das können nur wenige. Baron hat ein sehr lesenswertes Buch geschrieben – zwischen Roman und Sozialstudie.

Du hast es geschafft

Christian Baron, jetzt der Journalist, sollte allerdings aufpassen, nicht einen Stempel zu bekommen, im Sinne von „der Junge mit der harten Kindheit, der darüber immer schreibt“. Das kann nervig werden, weil man nicht mit Privatleben und Einzelschicksalen von Menschen ständig überfrachtet werden will. Anders gesagt: Wenn jetzt noch „Ein Mann seiner Klasse“ Teil 2, nämlich „Meine Mutter und die Unterschicht“ und Teil 3 „Mein Bruder und ich“ folgen, macht Baron alles falsch, was er falsch machen kann.

Baron ist klug genug, nicht in diese Falle zu tappen. Eines bleibt Christian, dem Jungen aus Kaiserslautern, noch zu sagen. Du hast es geschafft. Jetzt kommt die Frage: Wer noch? Und was kann man da tun?

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