Aufklärung im Islam - Top-down oder Bottom-up?

In einem Gastbeitrag für „Cicero“ vertrat der Orientalist Michael Kreutz die These, dass der Fortschritt in der islamischen Welt meist von oben kam – und der Widerstand von Religionsgelehrten. Der muslimische Theologe Mouhanad Khorchide sieht es genau umgekehrt.

Den Führerschein haben sich Frauen in Saudi-Arabien hart erkämpft/ dpa
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Autoreninfo

Mouhanad Khorchide leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 1971 ist er im Libanon geboren und wuchs in Saudi-Arabien auf. Er studierte islamische Theologie im Libanon und promovierte in Wien in der Soziologie. Als einer der bedeutendsten muslimischen Theologen der Bundesrepublik bildet er nun Lehrer für den künftigen islamischen Religionsunterricht aus. Er ist Autor des Buches „Islam ist Barmherzigkeit – Grundzüge einer modernen Religion“

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Religiöse Reformen durch autoritäre Regime sind zum Scheitern verurteilt. Reformen haben nur dann eine realistische Chance auf langfristigen Erfolg, wenn sie von den betroffenen Menschen selbst gewollt und getragen werden. In seinem Gastbeitrag über die „Reislamisierung von unten“ widerspricht Michael Kreutz meiner These in meinem neuen Buch „Gottes falsche Anwälte. Der Verrat am Islam“, wonach Unterwerfungsstrukturen im Islam sich anfangs aus politischen Gründen herausbildeten, bevor sie sich zu einer geistigen Mentalität der Unterdrückung verselbständigten, auch unter vielen Gelehrten.

Er vertritt vielmehr die These, wonach der Fortschritt in der islamischen Welt meist von oben kam, der Widerstand dagegen von unten, von den Gelehrten. Dass die Religion von der Politik korrumpiert wurde, sei ein Mythos. Mein Hauptproblem mit dieser These besteht in der Verdinglichung der Menschen, sie seien Objekte der Zähmung, daher könne die Modernisierung nur „von oben“ kommen. In meinem Buch spreche ich von Unterwerfungsstrukturen, die erst überwunden werden müssen, ehe eine Aufklärung möglich sein kann, denn Aufklärung verstehe ich als Prozess der Befreiung des Menschen zum selbstbestimmten Subjekt. Eine von oben erzwungene Aufklärung/ Modernisierung ist daher ein Widerspruch in sich.  

Unterdrückung im Namen der Rationalität

Bevor ich auf ein aktuelles Beispiel aus Saudi-Arabien eingehe, bleiben wir bei dem von Herrn Kreutz angeführten Beispiel der Mu’taziliten. Diese hatten ihren Höhepunkt im 8. und 9. Jahrhundert und galten tatsächlich als die rationalistische Schule im Islam, die zugleich an den freien Willen des Menschen glaubte. Der abbasidische Kalif al-Ma’mun (813-833) und seine beiden Nachfolger vertraten die Lehre der Mu’tazila.

Sie hatten sie zur Staatsdoktrin erklärt und jeden gezwungen, diese anzunehmen, was zu einer Art Inquisition (Mihna) führte. Menschen, die die Lehren der Mu’tazila ablehnten, wurden gefangen gehalten und zum Teil gefoltert. Anders als Michael Kreutz, der darin ein Beispiel für einen Fortschritt von oben sieht, sehe ich hier einen Ausdruck von Unterwerfungsstrukturen, die sobald sie an die Macht kamen, schnell auf Repressionen zurückgreifen und Werte der Freiheit und Rationalität veräußern.

Unterwerfung unter dem Deckmantel der Rationalität

Den Mu’taziliten, die sonst von der Willensfreiheit des Menschen predigten, ist nicht gelungen, einen Diskurs der Freiheit zu etablieren – im Gegenteil: Sie reproduzierten Strukturen der Unterwerfung, nur diesmal umhüllt mit dem Mantel der Rationalität. Es dauerte daher nicht lange, bis der Kalif al-Mutawakkel die Lehren der Mu’tazila, auch „von oben“ und mit Mitteln der Gewalt, verbot.

Dieses Beispiel zeigt, worin die eigentliche Herausforderung liegt, nämlich in diesen Unterdrückungsstrukturen. Nötig ist ein aufgeklärter islamischer Diskurs, in dem die Selbstbestimmung des Menschen als nicht verhandelbares Gut gilt. Dazu gehört das kritische Hinterfragen einiger längst etablierter religiöser Positionen, die nichts anderes sind als Produkte von Unterwerfungsstrukturen.  

Reformen in Saudi-Arabien: Aufklärung oder nur ein Politikum? 

Der Wahhabismus, der als Vater des Salafismus gilt, war nur durch einen engen Bund zwischen Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (gest. 1792), auf dessen Namen die Bezeichnung „Wahhabismus“ zurückgeht, und Muhammad Ibn Sa’ud, dem Urvater des saudischen Königreichs, überlebensfähig, denn er wurde zur Staatsdoktrin erklärt. Der Wahhabismus ist ein gutes Beispiel für eine Radikalisierung von oben.    

Die religiösen Reformen der letzten fünf Jahre in Saudi-Arabien – etwa die Lockerung des Kopftuchzwangs und die  Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum, die Erlaubnis für Frauen, Auto zu fahren, die Erlaubnis, Musikkonzerte zu organisieren oder Kinos einzurichten – gehen auf die Reformversuche des Kronprinzen Muhammad Ibn Salman zurück. Er will das Land modernisieren und dessen Attraktivität für Touristen und Investoren erhöhen.

Freizeitangebote als Erlösung 

Einige der wahhabitischen Gelehrten kooperieren und versuchen, ihre früheren Auslegungen des Islams zu relativieren oder völlig zu revidieren, um zu zeigen, dass die neuen Reformen mit der islamischen Lehre im Einklang stehen. Andere halten sich zurück und argumentieren, es sei ein grundsätzliches religiöses Gebot, dem Herrscher zu gehorchen, ein Protest gegen ihn gleiche einer großen Sünde.

Diejenigen, die mit den Reformen nicht einverstanden sind und sich öffentlich dagegen äußern, müssen damit rechnen, dass man ihnen Redeverbot erteilt oder sie inhaftiert. Nun hat der saudische Staat eine eigene Behörde für Unterhaltung eingerichtet, die moderne und zum Teil freizügige Freizeitangebote organisiert. Für viele sind solche Angebote eine Art Erlösung, die sie nie mehr missen möchten. Damit die Religionspolizei solche Aktivitäten nicht stört, wurden deren Kompetenzen stark eingeschränkt, die Religionspolizei wurde faktisch abgeschafft. 

Geiselnahme der Religion fürs Politische 

Sowohl der Wahhabismus als auch die neueren Reformversuche wurden „von oben“ durchgesetzt. Beide sind nicht das Ergebnis theologischer Reflexionen, sondern Ausdruck eines politischen Willens. Das erinnert an die Einführung der rationalen Doktrin der Mu’tazila als Staatsdoktrin zu Beginn des 9. Jahrhunderts, aber auch deren Verbot durch die Kalifen. Was sagt uns das? War und ist der religiöse Diskurs in der islamischen Welt nicht hauptsächlich in der Hand der jeweiligen Herrscher?

Diese setzten sich stets für den jeweiligen religiösen Diskurs ein, der ihnen gerade politisch genehm war. Und genau hier verorte ich das eigentliche Problem, nämlich in der Geiselnahme der Religion für das Politische, was ich als Politisierung der Religion bezeichne. In dieser geht es nicht um die Frage der Modernisierung, beziehungsweise des Rückschritts, sondern um eine opportunistische Haltung gegenüber dem religiösen Diskurs. 

Einfluss fremder Ideologien auf den Islam    

Zum Schluss möchte ich wieder in die Geschichte zurückgehen, um einen weiteren kaum diskutierten Aspekt zu thematisieren: Es geht um die Einflüsse fremder Herrschaftsideologien auf den islamischen Diskurs. Die Muslime kamen im Zuge der islamischen Expansion frühzeitig mit den beiden Großreichen Großpersien und Byzanz in Berührung. Beide Reiche wurden im Zeitraum zwischen 633 und 640 zur Zeit des zweiten Kalifen Omar erobert.

Durch die schnelle Ausweitung der islamischen Gebiete musste der Kalif Omar einen Verwaltungsapparat aufbauen, wozu ihm allerdings sowohl die Expertise als auch die notwendige Erfahrung fehlten. Er musste auf die Erfahrungen der Perser sowie der Byzantiner zurückgreifen, deren Verwaltungsapparat er sukzessive übernahm, was intensive Austauschprozesse förderte, die auch das politische Selbstverständnis der muslimischen Herrscher beeinflussten. 

Die religiöse Autorität des Herrschers 

In Byzanz und Großpersien wurde dem politischen Amt des Herrschers eine religiöse Autorität verliehen. Und genau dieses Verständnis eigneten sich die Muslime nun an. Hier ein Beispiel: Von Ardaschir I., dem Gründer des persischen sassanidischen Reiches, stammt einer der einflussreichsten persischen Texte zum Verhältnis von Religion und Politik, der zur Zeit der Abbasiden ins Arabische übersetzt und mehrfach rezipiert wurde.

Dieser Text bildete die Grundlage des Herrschaftsverständnisses vieler abbasidischer Kalifen. Darin schreibt Ardaschir: „Wisse, dass die Religion und das Königreich zwei Brüder sind, von denen keiner ohne den anderen existieren kann. Die Religion stützt das Königreich, und das Königreich schützt die Religion. Was an Stütze fehlt, muss zugrunde gehen, und was keinen Beschützer hat, wird vergehen.“

Einen ähnlichen Satz finden wir im 20. Jahrhundert bei dem führenden Muslimbruder Sayyid Qutb, der zugleich Erfinder der Formel „al-Islam Din wa Dawla“ (Der Islam ist Religion und Staat) und somit einer der wichtigsten Ideologen des politischen Islams war. Zur Legitimation seiner Vorstellung von der Verquickung zwischen Religion und Staat im Islam schreibt er nicht nur Mohammed, sondern allen Propheten eine politische Rolle als Herrscher im Namen Gottes zu.

Religion als Instrument der Manipulation 

Ich schließe mit einem Zitat von Ardaschir, das nicht nur für die abbasidischen Kalifen von grundsätzlicher Bedeutung war, sondern bis heute seine Gültigkeit in der islamischen Welt besitzt. Es regt zum Nachdenken darüber an, wieso sowohl die damaligen Kalifen als auch die Staatsoberhaupte der meisten heutigen islamischen Länder die Karte der Religion nicht aus der Hand geben und niemals ein säkulares Regime akzeptieren würden, sondern stets die Kontrolle über die religiösen Angelegenheiten behalten wollen: „Ihr sollt wissen, dass wenn ein religiöser und ein politischer Führer in einem Staat existieren, dass stets der religiöse Führer dem politischen seine Macht aus der Hand nehmen wird, weil die Religion die Grundlage und die Politik die Säule ist, und die Grundlage hat die Priorität gegenüber den Säulen [die auf der Grundlage bestehen].“

Politische Regime in Ländern wie der heutigen Türkei, Saudi-Arabien, Ägypten oder Iran, aber auch Anführer des politischen Islams haben diese Botschaft verinnerlicht. Sie haben erkannt, dass sich die Masse mit der Religion emotional am besten erreichen und manipulieren lässt. Es ist bezeichnend, wie alte Herrschaftsvorstellungen der Sassaniden, die zum Teil aus der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts stammen, noch bis heute gelebte Praxis in vielen islamischen Ländern sind.   

Überlegungen aus dem neu erschienen Buch „Gottes falsche Anwälte. Der Verrat am Islam“ von Mouhanad Khorchide, erschienen im Juli 2020 im Verlag Herder. 

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