Attentat auf Salman Rushdie - Der Fluch der Intoleranz

Noch sind die genauen Hintergründe des Mordanschlags auf Salman Rushdie unklar, aber es dürfte sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die Spätfolgen der Fatwa von vor 33 Jahren handeln. Der Fall zeigt, dass Fanatismus und Intoleranz kein Verfallsdatum haben. Zumal sich inzwischen auch im Westen ein Milieu von Kultur-Ayatollahs etabliert hat, die gegen Bücher und ihre Autoren vorgehen.

Die örtliche Polizei und das FBI sperren die Gegend um das Haus des mutmaßlichen Rushdie-Attentäters Hadi Matar in Fairview, N.J. / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Was auch immer das Motiv des 24 Jahre alten Attentäters gewesen sein mag, der inzwischen als Hadi M. aus New Jersey identifiziert wurde: Der Angriff macht fassungslos, weil er in Person von Salman Rushdie auf jenen Schriftsteller zielte, der im Februar 1989 vom damaligen iranischen Staatschef Chomeini mit einer Fatwa belegt worden war. Begründet hatte der kurze Zeit später verstorbene „Revolutionsführer“ sein Todesurteil mit der Feststellung, Rushdie habe mit seinem ein Jahr zuvor erschienenen Buch „Die satanischen Verse“ den Islam, den Propheten und den Koran verunglimpft; es wurde ein „Kopfgeld“ in Höhe von einer Million Dollar ausgesetzt, wobei diese Summe zwei Jahre später sogar noch verdoppelt wurde. Salman Rushdie musste jahrelang im Untergrund leben und konnte ohne Personenschutz nicht an die Öffentlichkeit gehen.

Auch wenn weiterhin unklar ist, was Hadi M. gestern zu seiner Bluttat getrieben hat und in welchem Geisteszustand er sich befand, so ist doch die Vermutung mehr als naheliegend, dass das Attentat eine Spätfolge der mehr als 30 Jahre zurückliegenden Fatwa ist: Der Fluch der Intoleranz und der ideologischen Verblendung kennt kein Verfallsdatum. Rushdie, einer der wortmächtigsten Erzähler weltweit, fühlte sich fälschlicherweise wieder in Sicherheit. Aber wer sonst, wenn kein Fanatiker, stürmt während einer Lesung die Bühne einer Bildungseinrichtung und sticht auf einen Schriftsteller ein? Es sieht so aus, als werde der 75-jährige Rushdie den offensichtlichen Mordversuch überleben. Religiöse Hardliner in der islamischen Welt dürften die Tat dennoch feiern. Zumal sich inzwischen die Hinweise darauf verdichten, dass Hadi M. dem Islamismus nahestand.

Mit Morddrohungen gegen den Intellekt

Eigentlich unfassbar, dass ein unter uns weilender Literat wegen seines Werks für vogelfrei erklärt wird. Aber es zeigt eben auch, wie stark (und für manche deshalb bedrohlich) der schiere Intellekt eines Menschen sein kann, wenn seine Feinde glauben, darauf mit Gewalt und Morddrohungen antworten zu müssen. Die „islamischen Revolutionäre“ und ihr geistiger Anführer im Iran hatten mit der Fatwa gegen Salman Rushdie ja nicht nur zum Vernichtungsschlag gegen einen angeblich ketzerischen Schriftsteller ausgeholt, sondern dem Westen den Krieg erklärt. Die Intoleranz des Teheraner Religionsregimes war in Form eines weltweit beachteten „Rechtsakts“ als mörderische Norm implementiert worden: eine Abschussprämie mit globaler Gültigkeit. Und diese Saat ist aufgegangen.

Man denke nur an den Lehrer Samuel Paty, der vor knapp zwei Jahren in einem Pariser Vorort auf offener Straße enthauptet worden war, weil er mit seinen Schülern über Meinungsfreiheit diskutiert und in diesem Zusammenhang auch Mohammed-Karikaturen behandelt hatte. Patys Mörder war ein 18 Jahre alter Islamist tschetschenischer Herkunft, und es handelte sich bereits um das fünfte islamistisch motivierte Attentat dieses Jahres in Frankreich. Schon vergessen? Fast scheint es, als hätten sich westliche Gesellschaften an die mörderische Intoleranz langsam gewöhnt. Denn sie manifestiert sich nicht nur in blutrünstigen Großereignissen wie 9/11, dem Gemetzel im Bataclan oder dem Angriff auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo. Sondern ist als ideologisches Paralleluniversum mit ubiquitären Gewaltphantasien und Radikalisierungsmechanismen Teil des westlichen Alltags geworden – wenn auch nicht immer für alle sichtbar.

Die westlichen Kultur-Ayatollahs

Mehr als 30 Jahre nach der Fatwa gegen Salman Rushdie braucht man übrigens keine iranischen Revolutionsführer mehr, um den Ungeist der Intoleranz gesellschaftsfähig zu machen. Das übernehmen inzwischen jene „woken“ Aktivisten aus westlichen Universitäten, die alle möglichen Werke der Weltliteratur mit „Triggerwarnungen“ versehen oder gleich ganz verbannen möchten, weil deren Inhalte die Leser verstören könnten (oder besser gesagt, weil sie nicht ins eigene Weltbild passen). Die Universität von Essex in Großbritannien war sich jüngst nicht einmal zu blöd, das Buch „The Underground Railroad“ des afroamerikanischen Schriftstellers Colson Whitehead aus ihrem Bestand zu nehmen, weil darin in expliziten Szenen die Sklaverei in den Südstaaten geschildert wird.

Nein, machen wir uns nichts vor: Es gibt auch hierzulande viele Kultur-Ayatollahs. Sie greifen zwar nicht zum Messer. Aber man kann Autoren auch vernichten, indem man ihr Werk diffamiert und aus dem Verkehr zieht. Wahrscheinlich würde Chomeini heute mit seiner Fatwa längst nicht mehr so viel Empörung auslösen wie vor 33 Jahren. Denn Intoleranz, Fanatismus und quasireligiöser Wahn sind auch bei uns auf dem Vormarsch. Natürlich um der guten Sache willen. So, wie das immer der Fall ist, wenn eine Gesellschaft zum Schlechten kippt.

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