Architektur - Goldene Reiter

Frankfurt, Potsdam, Braunschweig: Historisches Bauen boomt. Moderne Architektur gerät fast überall in die Defensive

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Stadtplaner sind gut beraten, sich in erster Linie aufs Stammpublikum, die eigene Bürgerschaft, zu konzentrieren / picture alliance
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Weit reißen die Teufelsfratzen ihr Maul auf. Wahrscheinlich ist es weniger die böse Lust, die sich hier Raum schafft, als vielmehr die Verblüffung über die eigene Wiederauferstehung. Je zwei dieser Grotesken sind in vier Gitter eingearbeitet. Für die hat Schmiedemeister Albrecht Morgenstern aus dem sächsischen Olbernhau dreieinhalb Monate gebraucht, mit drei Kollegen an der Hand. Vollzeit. Halbe Sachen sind tabu, wenn es um den Wiederaufbau der Frankfurter Altstadt geht. Und vor allem um das Glanzstück: die Goldene Waage. 

Mit seiner reich ornamentierten Renaissance-Fassade gehörte das Fachwerkhaus zu den prominenten Sehenswürdigkeiten der Mainmetropole – bis es bei einem Bombenangriff im März 1944 zerstört wurde. Nicht nur die Waage traf dieses bittere Schicksal. Der gesamte Kern der neben Nürnberg einst größten zusammenhängenden gotischen Altstadt brannte aus, mehr als 1000 Menschen kamen damals ums Leben. Doch während das Rathaus, der Römer und die angrenzenden Gebäude wiederaufgebaut wurden, gab es für das Areal zum Dom hin bisher keine entschiedene städtebauliche Lösung. 

Pro Altstadt

Chancen wurden im ewigen Hin und Her mehr zerredet als genutzt. Und dass Anfang der siebziger Jahre ein grobschlächtiges Technisches Rathaus ohne jeden Bezug zum angrenzenden Dombezirk entstanden ist, muss man im Nachhinein fast als Unfall verstehen. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass der Abriss des ungeliebten und dann auch noch asbestverseuchten Elefantenbunkers 2010 auf keinen wahrnehmbaren Widerstand traf. Bereits zuvor hatte die Initiative Pro Altstadt einen solchen Sog entwickelt, dass das damals schwarz-grün dominierte Stadtparlament 2007 angesichts eines vorübergehend gefüllten Stadtsäckels den Wiederaufbau des Altstadtkerns beschloss – im historischen Maßstab auf kleinen Parzellen.

Und jetzt? Wird hinter einem mächtigen Bauzaun gehämmert und gesägt, gebohrt und gemeißelt. Mit Hochdruck. Das Dom-Römer-Projekt ist in den letzten Zügen, Ende dieses Jahres, spätestens Anfang 2018 soll es abgeschlossen sein. Dann ziehen 200 Bürger in diese sehr bewusste Mixtur aus Alt und Neu: 15 Häuser werden rekonstruiert, 20 mit traditionellem Vokabular komplett neu gebaut. Dazu zählen die in Frankfurt üblichen Materialien wie roter Sandstein und Blaubasalt, Lochfassaden und steil geneigte Satteldächer aus Schiefer. Das Neue soll sich einfügen in den historischen Kontext. 

Ein Haus nach altem Vorbild

Ursprünglich sollten neben der Goldenen Waage nur drei weitere Gebäude rekonstruiert werden. Sie sind ausführlich durch Pläne oder alte Fotografien dokumentiert, und es existieren Überreste wie alte Balken, Steine oder Säulen. Doch immer mehr Bauherren wünschten sich ein Haus nach altem Vorbild. Dass es nun 15 statt nur drei mehr oder weniger originalgetreue Wiederaufbauten sind, sorgt auch bei manchem Altstadtbefürworter nicht unbedingt für freudige Erregung. 

Aber in diesem Fall wird pragmatisch argumentiert. Es gehe um die stadträumliche Gestaltung, weniger um das Aussehen einzelner Häuser. „Wir wollen die Dimensionen einer gotischen Stadt erlebbar machen“, formuliert Michael Gun­tersdorf, der Geschäftsführer der Dom Römer GmbH, „mit aller Kleinteiligkeit, den historischen Straßenverläufen und erstaunlich hohen Gebäuden.“ Die Leute hätten die putzigen, windschiefen Häuser von Rothenburg ob der Tauber im Kopf und Spitzwegs Erkeridyllen, weiß Guntersdorf aus vielen Gesprächen. „Hier haben wir fünfgeschossige, bis zu 26 Meter hohe Bauten, die bereits im 14. Jahrhundert so entstanden sind.“ 

Geschichtsbewusstsein oder Disneyland?

Frankfurt war eben nicht ganz unbedeutend. Könige wurden ab dem 12. Jahrhundert am Main gewählt, 1562 schritten Maximilian II. und nach ihm neun weitere Kaiser den Krönungsweg vom Dom zum Rathaus ab. Auch das will man in der Bankenmetropole wieder in Erinnerung rufen und lässt sich dieses sichtbare Geschichtsbewusstsein weit über 200 Millionen Euro kosten.

Doch bei aller Begeisterung – mittlerweile demonstriert selbst der anfangs ablehnende SPD-Oberbürgermeister Peter Feldmann Euphorie – behagt das Ergebnis nicht jedem. Das Fundament bildet eine Tiefgarage. Und 70 Jahre nach der Zerstörung kommt diese Rückbesinnung auch reichlich spät im Vergleich zu Münster und vor allem München. Denn es fehlt die urbane Kontinuität. Für gläubige Modernisten sind solche Wiederaufbauten sowieso ein einziger Albtraum. Von neoliberaler Maskerade ist die Rede, von Betrug und Kitsch und schönem Schein. Und in bald jedem Einwand fällt der arg strapazierte Begriff Disneyland. Tatsächlich haben solche Rekonstruktionen immer etwas Künstliches, zumindest bis sich die erste Patina über den ja doch frisch angerührten Putz nach alter Rezeptur gelegt hat. 

Wunsch nach einer „Erinnerungskultur“

Aber vielleicht sollte man besser fragen, weshalb sich in Frankfurt weit über 300 ernsthafte Bewerber um gerade mal 80 Wohnungen gerissen haben – bei Quadratmeterpreisen zwischen 4800 und 7000 Euro. Bringt das die Sehnsucht nach einer oft gar nicht so guten alten Zeit zum Ausdruck? Für den Schweizer Architekten Jürg Sulzer ist es eher der Wunsch nach einer „Erinnerungskultur“ in Verbindung mit einer Raumgeborgenheit. Das schnelle Emporwachsen der Hochhäuser im Bankenviertel habe die Menschen verunsichert. Umso wichtiger seien deshalb Orte, mit denen sich die Bürger identifizieren könnten, gerade in Zeiten der Globalisierung. 

Sulzer, der 20 Jahre lang das Stadtplanungsamt in Bern geleitet hat, weiß, wie wichtig es ist, den Konsens zwischen Bewohnern, Politikern und Investoren herbeizuführen. „Wenn Sie das nicht tun, planen Sie den Abbruch gleich mit.“ Als Sulzer 2004 nach Dresden ging, um an der TU die neu geschaffene Professur für Stadtentwicklung und Stadtumbau anzutreten, war dort eben erst der letzte Stein in die Hauptkuppel der Frauenkirche gesetzt worden. „Mit dieser Rekonstruktion ist nicht nur eine Wunde geheilt, sondern auch ein Bild der Stadt konkret fassbar geworden, die am Ende der DDR kaum noch existiert hat“, erklärt er. Aber dazu gehöre auch die Verankerung eines solchen herausragenden Gebäudes im Stadtraum. 

Hinter der Fassade

Dass am umliegenden Neumarkt dann allerdings nicht jedes Haus eine Offenbarung darstellt? Kann man verschmerzen, meint Sulzer. Entscheidend sei die Ensemblewirkung auf der Grundlage von historischen Baulinien und Proportionen. Da argumentiert er wie Frankfurts Dom-Römer-Verantwortliche, und die haben von den Dresdner Erfahrungen durchaus profitiert, auch, was die Nutzung der Gebäude betrifft. Denn dass rund um die Frauenkirche manches dahinter in keiner Weise seiner Fassade gerecht wird, sorgt nach wie vor für Unmut in Dresden. Von Täuschung zu sprechen, hat seine Berechtigung, barocke Pracht verkleidet hier Hotels und Geschäfte mit modernen Grundrissen. Auch weil man den Markt die Sache regeln ließ und weder subventionieren konnte noch wollte. 

Wobei eine der absurdesten Mogelpackungen keineswegs im wiederaufbauwütigen Osten zu finden ist, der nach der Wende viel Nachholbedarf verspürt hat. Im geschichtsträchtigen Braunschweig stolpert man gleich hinter dem Säulenportikus der spätklassizistischen Welfenschlossfassade über Starbucks-Becher und Sonnenbrillen. Auf 30 000 Quadratmetern breitet sich eine riesige Shoppingmall aus Stahl, Glas und Rolltreppen aus. Und die 600 wieder eingesetzten Originalsteine aus der 1960 abgerissenen Schlossruine machen diese Farce perfekt. Für den 2007 eröffneten Einkaufspalast hätte man sich solchen Aufwand sparen können. Doch Konsumwillige und Touristen scheinen derartige Widersprüche wenig zu kümmern. In Dresden sind die Besucherzahlen deutlich gestiegen, Elbflorenz ist en vogue, vor allem unter den ausländischen Gästen. 

Intimität für Anwohner

Stadtplaner sind jedoch gut beraten, sich in erster Linie aufs Stammpublikum, die eigene Bürgerschaft, zu konzentrieren. Souvenir- und Fastfoodketten sind deshalb auf dem Dom-Römer-Areal unerwünscht, auch soll das mit 7000 Quadratmetern Fläche sehr überschaubare Terrain keinesfalls zur heimeligen Puppenstube für Touristen mutieren. Stattdessen will man den Anwohnern viel Intimität bieten – sofern das in einer Innenstadt überhaupt möglich ist. Kinder sollen in den Innenhöfen spielen können, betonen die Planer. Und auch die zwischen der Kunsthalle Schirn und dem Museum Moderner Kunst angedachten Museen haben einen regionalen Charakter: In der Goldenen Waage wird etwa an den Frankfurter Mundart-Satiriker Heinrich Stoltze erinnert, und auf der anderen Seite des Hühnermarkts dürfen der Struw­welpeter und sein Erfinder Heinrich Hoffmann ins ehemalige Domizil von Goethes Tante Johanna Melber ziehen. 

Außerdem sind die 26 nicht gerade ausladenden Gewerbeflächen, für die fünfmal so viele Interessenten Schlange stehen, gut subventioniert. Die Stadt will Geschäfte und Werkstätten für Handwerker wie Täschner oder Hutmacherinnen auf lange Sicht finanzierbar halten, dazu kommen Cafés und gehobene Gastronomie. Es könnte also ein bisschen betulich und künstlich-nostalgisch werden, aber diese Kompromisse sind vermutlich nötig, um der Kritik des Fassadenklamauks zu entgehen.

Doch wenn das Niveau stimmt, kann man selbst mit diesem Vorwurf herrlich entspannt umgehen. „Ceci n’est pas un château“ steht in geschwungen goldenen Lettern auf Potsdams westlicher Schlossfassade – „dies ist kein Schloss“. Frei nach René Magrittes Bild einer Tabakspfeife mit dem Titel „Dies ist keine Pfeife“ nimmt die Künstlerin Annette Paul eine amüsante Distanzierung vom Inhalt vor. Denn so wenig wie die gemalte Pfeife eine Pfeife ist, so wenig umhüllt der rekonstruierte Entwurf von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff ein absolutistisches Schloss, sondern seit 2014 das Landesparlament einer Demokratie. Und bürgerliches Engagement sowie die 22 Millionen schwere Finanzspritze Hasso Plattners haben diesen Wiederaufbau am Alten Markt erst ermöglicht. Der galt bis zur Zerstörung im Krieg als einer der schönsten Plätze Europas.

Ambitioniertes Programm: Museum Barberini

Noch mehr Aufsehen erregt der Mäzen und Software-Milliardär seit Januar durch das Museum Barberini gleich vis-à-vis. Plattner übernahm die Rekonstruktion des klassizistisch-barocken Palasts nach dem berühmten römischen Vorbild – die erste Kopie hatte also schon der Alte Fritz geordert. Jetzt steht eine Fassade, daraus wird kein Hehl gemacht, hinter der sich zeitgemäße Ausstellungsräume mit neuester Museumstechnik öffnen. 

Der Jubel ist groß. Wenn das ambitionierte Programm mit der Crème der Impressionisten, mit Hopper und Rothko, den Spielarten der Kunst in der DDR oder Max Beckmanns Weltbühnen hält, was es verspricht, wird das Barberini ein gut besuchtes Haus bleiben. Plattner war klug genug, mit seiner Kunstsammlung auf diese Unterkunft umzuschwenken. Ursprünglich wollte er das Museum an der Stelle des Hotels Mercure, eines Prestigeplattenbaus der ehemaligen DDR, realisieren. Doch was die Architektur anbelangt, trennt die Stadt ein tiefer ideologischer Graben, deshalb kam es zu lautstarkem Protest, als der 60 Meter hohe Hotelturm beseitigt werden sollte. Viele Potsdamer hängen an diesem Relikt, das der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht 1967 angeordnet und als „sozialistische Stadtkrone“ geadelt hatte. 

Nicht nur Jürg Sulzer findet das Mercure scheußlich, aber auch das müsse man akzeptieren, sagt er. Zumal die zwischen 1954 und 1989 entstandenen Bauten für viele Bürger zur Identität der Stadt gehören. Und das bei allem restaurativen Trend, der im gesamten postkommunistischen Osten übrigens besonders durch Kirchen markiert ist, die Stalin in den dreißiger Jahren sprengen ließ. Das reicht von der Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau bis zum Goldkuppelkloster des Heiligen Michael in Kiew, das über Jahrhunderte als Nationalsymbol galt und bis 1999 dann allerdings wenig originalgetreu wieder auferstanden ist. 

Kopien der Vergangenheit gab es schon immer

Doch die Rekonstruktion ist beileibe keine Erfindung der letzten beiden Jahrhunderte oder der Neuzeit. Da hat sich auch der so einflussreiche Bauhäusler Walter Gropius grandios geirrt, als er seine Studenten in Harvard wissen ließ, man suche in der Vergangenheit vergeblich nach Kopien der Vergangenheit, die eine äußere kosmetische Gleichförmigkeit wahren sollten. Bereits der Zeus-Tempel von Olympia aus dem fünften Jahrhundert vor Christus wurde nach Zerstörungen mehrfach in der alten Form wiedererrichtet. Und es gibt noch ein schönes Beispiel aus dem alten Venedig, als der Dogenpalast einem Brand zum Opfer gefallen war. Von 1577 an wurde dieses Wahrzeichen der Serenissima so genau wie möglich rekonstruiert, wobei in der Expertenkommission Andrea Palladio für diese Entscheidung plädierte.

Fast 400 Jahre später durfte dann auch das 1925 entstandene Dessauer Bauhaus von dieser „reaktionären“ Haltung profitieren: Ab 1965 wurde es im Sinne des Originals rekonstruiert, und wenn man den früheren Rektor Gropius richtig interpretiert, war dies nicht der einzige „hässliche“ Eingriff. 


Für den Münchner Architekturhistoriker Winfried Nerdinger besteht das eigentliche Problem der Debatte darin, dass moderne Architektur von weiten Teilen der Bevölkerung nicht angenommen wurde und die Leute deshalb vielerorts ihre Altstadt wiederhaben wollten. Und sich zwischen Betonbrutalität und kaltem Stahl-Glas-Chic nicht sonderlich wohl fühlen, möchte man hinzufügen. Ganz zu schweigen von einem kaltschnäuzigen Ignorieren der Angemessenheit, des Maßstabs, der Proportion, sprich: dem Kerngeschäft der Architekten seit Vitruv.

Bloß nicht uncool

Doch die Baumeister der Gegenwart stehen unter beträchtlichem Druck. Sie müssen originell sein, cool, bloß nicht bieder oder altbacken. Obwohl historische Formen seit etwa 20 Jahren nicht mehr anstößig sind, verströmen sie immer noch den Gout des Anachronistischen, Unschöpferischen, Volkstümelnden und finden allenfalls in ironischen Brechungen die Akzeptanz der Fortschrittsgläubigen. Dabei steckt im Weiterspielen der Tradition einiges Potenzial. 

Das zeigt bis zu einem gewissen Grad das Dom-Römer-Projekt in Frankfurt. Nach anfänglich großer Skepsis ist auch Peter Cachola Schmal, der Direktor des deutschen Architekturmuseums auf der anderen Seite des Mains, beeindruckt von der Ernsthaftigkeit, mit der man die Sache angeht, und der hohen Qualität. Diese beiden Faktoren sind entscheidend. Dann können aktuelle Interpretationen alter Formen ein reizvolles Gegenüber zu ambitionierten Wiederaufbauten bilden wie etwa der Goldenen Waage des Zuckerbäckers und Gewürzhändlers Abraham van Hamel. 

Respektieren lokaler Bedürfnisse

Der war 1599 im Übrigen als reformierter Glaubensflüchtling aus den spanischen Niederlanden nach Frankfurt gekommen und durfte noch im selben Jahr den Bürgereid schwören. Wohl auch, weil er kein armer Schlucker war. Aber das bescherte der Stadt zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges ein prächtiges Geschäftshaus am Dom. Jetzt wird auch dieses mit unfassbarem Aufwand rekonstruiert – von Architekt Jochem Jourdan, einem Spezialisten für das Bauen im historischen Bestand. Er ist dafür bekannt, nicht auf Teufel komm raus an den eigenen Stilidealen zu kleben, sondern sich den Gegebenheiten anzupassen. 

Damit legt der 79-Jährige eine Offenheit an den Tag, die man vielen in der Szene wünschen würde. „Seid von Zeit zu Zeit auch einmal tolerant“, hat Georg Dehio seinen Kollegen empfohlen, wenn es um das Respektieren lokaler Bedürfnisse ging. Dieser Mann hat immerhin die moderne Denkmalpflege begründet. 

 

Dieser Text stammt aus der Märzausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

 

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