Antonio Scuratis über Benito Mussolini - „ Italien hat den Faschismus nie wirklich aufgearbeitet “

In Italien ist Antonio Scuratis Roman über Benito Mussolini zum Bestseller avanciert. Ein Interview über die Macht der Fiktionen über die Geschichte, welche bis heute in den Köpfen verfangen.

Menschen bringen Blumen zur Tür der Krypta, in der Mussolini begraben liegt / dpa
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Herr Scurati, warum haben Sie im 21. Jahrhundert einen „historischen Roman“ über Benito Mussolini geschrieben?

Ich ziehe die Bezeichnung „dokumentarischer Roman“ vor, weil die Geschichte im Roman die Hauptrolle spielt. Ich hatte das Bedürfnis, ihn zu schreiben, nachdem das antifaschistische Fundament der Italienischen Republik – das heißt die endgültige Verurteilung des Faschismus durch unsere Zivil- und Geistesgesellschaft – weggebrochen war. Das machte sich im Laufe der letzten Jahrzehnte immer stärker bemerkbar. Angesichts dessen schien es mir angebracht, den Faschismus in einer freien, ungebundenen Erzählform darzustellen und dabei jene Wahrheit zum Ausdruck zu bringen, die nur die Literatur zu vermitteln vermag. Schließlich ist es kein Zufall, dass bis heute noch nie ein Roman geschrieben wurde, dessen Protagonisten Mussolini und seine Anhänger sind.

Hatten Sie keine Bedenken, dass mit einem Roman der Duce „glorifiziert“ oder – wie man hier in Deutschland sagen würde – die Schrecken des Faschismus relativiert werden könnten?

Als ich mit der Arbeit begann, hatte ich diese Befürchtung sehr stark. Ich beschloss daher, mir eine sehr rigorose Vorgehensweise aufzuerlegen, um diese Gefahr zu bannen. Ich schrieb einen „dokumentarischen Roman“, der dem Autor keine Freiheiten zugesteht, sich selbst oder sein Leben einzubringen. Ich hielt mich strikt an die Vorgabe, nur historische, dokumentierte oder durch zuverlässige Zeugen belegte Fakten zu verwenden. Dabei vermied ich jeden nicht dokumentierten Dialog. Ich wollte auf diese Weise nicht nur eine „Glorifizierung“ des Faschismus vermeiden, sondern auch bei den Lesern nicht jene Empathie entstehen lassen, die heute beispielsweise für Gangster gang und gäbe ist. Diese Vorgehensweise scheint zwar auf den ersten Blick restriktiv, erwies sich jedoch als eine neue Form der Poetik, bei der Philologie und Geschichte als Filter und Kompass für mich und den Leser dienten. Und dies, so möchte ich nochmals erwähnen, mit Blick auf ein ganz bestimmtes Ziel.

Welches Ziel, Herr Scurati?

Wenn wir dem Leser die Fakten so präsentieren, dass sie ihn bewegen, und wenn wir den Leser im Roman mit Fakten über eine Unheil bringende historische Zeit – und das war der Faschismus – fesseln, dann wird auch er die Ereignisse abschließend verurteilen. Berechnungen zufolge wurde „M“ bisher von einer halben Million Italienern gelesen. 

Was verhalf dem Faschismus im Oktober 1922 schließlich zu seinem Triumph? Waren die politische Krise und die Wirtschaftskrise im Italien der Zwischenkriegszeit so stark, oder haben die Italiener einen besonderen Hang zum „starken Mann“?

Die beiden Faktoren hingen eng zusammen: Ein Volk hatte zwar den Weltkrieg gegen seinen historischen Feind – die Deutschen – gewonnen, fühlte sich aber dennoch als Verlierer. Und einflussreiche Männer wie Gabriele D’Annunzio und später Mussolini sorgten dafür, dass die Menschen tatsächlich das Gefühl hatten, Besiegte zu sein. Sie stachelten die tiefe Enttäuschung über die Oberschicht an und setzten alles auf die Angst. Dies war die verhängnisvolle Erkenntnis Mussolinis – jenes Führers der Massen, der ursprünglich vom Sozialismus kam, der Partei der Hoffnung und der Zukunft: Es gibt eine Leidenschaft oder Massenpsychose, die stärker ist als die Hoffnung, und das ist die Angst. Sie brachte ihn im Oktober 1922 auch an die Macht.

Auf die gleichen Mittel – Antipolitik, Geringschätzung der Parlamente und vor allem mehr oder weniger falsche Ängste – setzen auch heute alle Populisten.

Vielleicht ist „M“ gerade deshalb heute nicht nur in Italien so erfolgreich. Ich denke, ich kann ohne Anmaßung sagen, dass ich eine wirksame Form für die Erzählung des Faschismus gefunden habe. Diese Formel ermöglicht es den Lesern, anhand der Geschichte zu verstehen, was heute vor sich geht. Die Seiten von „M“ sind wie eine Karte, mit der die Gegenwart entschlüsselt werden kann: Ich glaube an den Roman als hochdemokratisches Bildungsinstrument, das beim Leser keinerlei Vorkenntnisse oder Studienabschlüsse voraussetzt. Als ich den Roman schrieb, war ich als Erster darüber verblüfft, wie stark die in der Erzählung geschilderten Sachverhalte in die Gegenwart nachhallen: Nach der Gründung der Fasci im Jahr 1919 definierte Mussolini seine Bewegung als „Antipartei“. Er wiederholte immer wieder: Wir sind nicht die Politik, wir sind die Antipolitik. Ich lege Mussolini nicht die heutigen Worte in den Mund – leider ist das Gegenteil der Fall! Es sind die Worte des Faschismus, die bis heute – auch unbewusst – nachhallen!

Haben die Italiener, so wie die Deutschen, die Mussolini-Zeit und den Faschismus aufgearbeitet?

Die bereits erwähnte Tatsache, dass 70 Jahre nach dem Krieg eine halbe Million Italiener „M“ gelesen haben, zeigt, dass diese Aufarbeitung mit der faschistischen Vergangenheit nie erfolgt ist – von einigen wenigen Historikern und Intellektuellen abgesehen. Heute beginnen die Italiener damit, sich dieser Wahrheit zu stellen: Wir waren Faschisten, wir Italiener haben den Faschismus erfunden. 

Sind die Italiener immer noch eine leichte Beute für den Mythos des Faschismus?

Das Problem reicht weiter: Italiener, Europäer und andere lassen sich vom Mythos des Faschismus unbewusst gefangen nehmen, sie lassen sich von den gleichen starken Reizen beeindrucken wie vor 100 Jahren, allerdings ohne sich dessen bewusst zu sein. Aber die Gefahr von morgen ist nicht der Faschismus mit Schwarzhemden. Das Problem sind die Populisten in unseren Häusern, auch wenn sich diese mit Sicherheit nicht auf den Faschismus berufen. 

Das Gespräch führte Stefano Vastano.

Antonio Scurati: M. Der Sohn des Jahrhunderts. Klett-Cotta, Stuttgart 2020. 830 Seiten, 32 €.

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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