Antisemitismusdebatte - Die Gesellschaft des Spektakels

Mehr als 60 Wissenschaftler und Kulturschaffende aus Deutschland und Israel haben in einem offenen Brief an Angela Merkel auf eine missbräuchliche Verwendung des Begriffes Antisemitismus hingewiesen. Der Brief löste eine Kontroverse aus. Eine Entgegnung von Frank Müller-Rosentritt.

Ein Plakat wendet sich "Gegen jeden Antisemitismus" / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Frank Müller-Rosentritt ist seit 2017 Bundestagsabgeordneter und für die FDP-Fraktion Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Er ist Vorsitzender der sächsischen FDP und sitzt im Stadtrat von Chemnitz. (Foto: BDX Media)

So erreichen Sie Frank Müller-Rosentritt:

Anzeige

Was eine Binsenweisheit sein sollte, wird durch zahlreiche Persönlichkeiten immer wieder in das komplette Gegenteil umgewandelt. Das klingt dann so: In Deutschland muss es möglich sein, Israel zu kritisieren", Gerade wegen unserer Geschichte, dürfen wir bei Israel nicht unkritisch sein"; oder in seiner aktuellsten Variante: Unterdrückung legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik", Stimmen des Friedens und des Dialogs [werden] diffamiert und mundtot gemacht" und der dramaturgische Höhepunkt: die missbräuchliche Verwendung des Antisemitismusvorwurfs [schafft] zunehmend auch in Deutschland eine Stimmung der Brandmarkung, Einschüchterung und Angst".

Man möchte fast sagen: eine Nummer kleiner hätte es auch getan. Aber so funktioniert sie nicht, die Gesellschaft des Spektakels. Um Aufmerksamkeit für ihren (selbst-)gerechten Kampf zu gewinnen, muss es das schärfste Schwert und die größte Keule sein. Gleichermaßen nimmt man mit ihr eine gesellschaftliche Stimmung auf, wenn eine Gruppe behauptet, dass sie einzig und allein im Besitz der Wahrheit ist, die allerorts unterdrückt wird. Was so namhafte Persönlichkeiten wie unter anderem der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz und die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur in einem Offenen Brief an die Bundeskanzlerin im Gestus des Rebellischen und Widerständigen verpacken, ist also tatsächlich gar nicht so mutig und aufrührerisch. Die Fakten sprechen gegen sie.

Ein inszenierter Tabubruch

Und so kommen wir zu der eingangs erwähnten Binsenweisheit. Kaum ein Land, wird in Deutschland so freimütig und häufig kritisiert wie Israel. Der Offene Brief ist also tatsächlich kein mutiger Akt von Freiheitskämpfern, sondern ein inszenierter Tabubruch, die konformistische Rebellion. Es ist Trauerspiel und Bärendienst zugleich. Ein Trauerspiel, weil einer der weltweit bekanntesten deutschen Antisemitismusforscher scheinbar den Kompass über sein Sujet verloren hat; und ein Bärendienst, weil diejenigen, die behaupten, dass die Kritik an antisemitischen Vorgängen selbst Antisemitismus relativiere, nichts anderes tun, als denjenigen nach dem Mund zu reden, die seit Jahren mit vermeintlich letzter Tinte gegen Israel anschreiben und -schreien. Wolfgang Benz für seinen Teil scheint sich in dieser Gesellschaft sehr wohl zu fühlen. Oder Katajun Amirpur: Sie ist eine hervorragende Islamwissenschaftlerin, eine Koryphäe. Daher hätte sie es im folgenden Fall besser wissen müssen:

2005 verstieg sie sich in einer Kritik an internationalen Medien, indem sie erklärte, dass die Übersetzung einer Äußerung des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadineschad, der bei der Teheraner Konferenz Eine Welt ohne Zionismus" fälschlicherweise nicht Israel muss von der Landkarte gefegt werden", gesagt haben soll, sondern, so Amirpur: Dieses Besatzerregime muss von den Seiten der Geschichte [...] verschwinden." Inhaltlich ändert das natürlich nichts, zumal beim erwähnten damaligen Absender der Botschaft.

Protest als Werbung für ein neues Buch

Der nun veröffentlichte Offene Brief könnte allerdings auch eine Werbemaßnahme für Benz neuste Veröffentlichung sein, die Deutschland schlussendlich von vermeintlich unberechtigten Antisemitismusvorwürfen befreien will. Im Vorwort besagten Bandes, der aufgrund der Herausgeberschaft von Benz seriös daherkommt, aber schon mit dem Untertitel ,Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen' eine deutliche Richtung vorgibt, heißt es dann auch, dass eifrige, impertinenten, nörgelnde Kritiker" des Antisemitismus kleingeistig" seien. Die ungenannten Fanatiker hätten nur ein Ziel: Aufspüren, Brandmarken, Verfolgen und Unschädlichmachen von Antisemitismus und Antisemiten".

Wenn man den Band liest, bekommt man allerdings den Eindruck, dass Judenfeindschaft erst dort beginnt, wo Synagogen brennen. Israelbezogener Antisemitismus wird zum Nebenschauplatz der Judenfeindschaft", antisemitische Karikaturen in großen deutschen Medien werden nur falsch verstanden und es ist absolut unverständlich, dass Schüler, die auf dem Schulhof ihre Mitschüler mit ,Du Jude' beschimpfen, als Antisemiten tituliert werden". Die Autorin des letzten Beispiels fügt erklärend an: Das Schimpfwort ,Du Jude' kann, muss aber keine antisemitische Konnotation haben". Wie viele jüdische Jugendliche dazu wohl befragt wurden?

Gedankenspiele der besonderen Art

Wäre dieses Konglomerat an Faktenresistenz nicht schon genug, wird noch der Zentralrat der Juden in Deutschland verdächtigt, "der offiziellen Stimme Israels hörig" zu sein und "als deren Lautsprecher zu agieren". Alles in allem, scheint es sich hier um Gedankenspiele der besonderen Art zu handeln, die den evidenten Problemen von Juden in diesem Land nicht gerecht werden. Benz hätte besser nah an der Realität arbeitende Forscher und Journalisten wie Monika Schwarz-Friesel, Ronen Steinke, Samuel Salzborn oder Matthias Quent zu Wort kommen lassen. Das gilt für das Buch wie für die nun durch den Offenen Brief losgetretene Debatte.

 

Anzeige