Muslimischer Antisemitismus - „Es gibt ein großes Gewaltpotenzial“

Einer Studie nach ist der Hass auf Israel und das Judentum unter muslimischen Flüchtlingen weit verbreitet. Ein Gespräch mit dem Antisemitismusforscher Günther Jikeli über deutsche Nachlässigkeit, falsche Entschuldigungen und Antisemitismus, der sich als Antizionismus tarnt

Demonstration in Berlin: „Viele können sich auf einen Antizionismus einigen, der den Antisemitismus versteckt“ / picture alliance
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Wie stehen Asylsuchende in Deutschland zum Judentum und zu Israel? Der Historiker und Antisemitismusforscher Dr. Günther Jikeli beschäftigt sich mit dieser Frage in einer Studie, die vom American Jewish Committee Berlin in Auftrag gegeben wurde. Im Dezember 2016 befragte Jikeli dazu während16 Gruppeninterviews 68 Menschen in Berliner Gemeinschaftsunterkünften, Cafés und Restaurants. Unter ihnen waren Muslime, Christen und Jesiden, Araber, Kurden, Palästinenser, Männer und Frauen im Alter von 18 bis 52 Jahren. Das Ergebnis: Der Hass auf Israel und auf das Judentum wird bei vielen Flüchtlingen als normal empfunden. Die Studie ist nicht repräsentativ, soll aber dazu dienen, eine Debatte anzustoßen.

Herr Jikeli, bei den syrischen und irakischen Flüchtlingen, die Sie befragt haben, waren antisemitische Haltungen weit verbreitet. Hat Sie das Ergebnis überrascht?
Teilweise. Es war natürlich vorher schon bekannt, dass Leute aus Syrien und dem Irak judenfeindliche Einstellungen haben. Es gibt Studien, die belegen, wie verbreitet etwa Holocaustverleugnungen dort sind. Was mich persönlich aber überrascht hat, war, wie weit unter ihnen Verschwörungstheorien verbreitet sind. Viele glauben, die Kriege in Syrien und im Irak seien von Israel gesteuert.

Sie schreiben in ihrer Studie, der Antisemitismus sei in arabischen Ländern vor allem durch öffentliche Propaganda beeinflusst. Wie sieht diese Propaganda konkret aus?
In den syrischen Schulbüchern wird zum Beispiel auch die Geschichte Deutschlands behandelt. Das Geschichtsbild, das dort aber über den Zweiten Weltkrieg gezeichnet wird, ist in etwa das, was Neonazis heutzutage ihren Kindern erzählen würden: dass Juden sich in der Weltwirtschaftskrise 1929 bereichert hätten, dass Hitler sich gegen die Juden zur Wehr gesetzt hätte und ein starker Mann gewesen sei.

Kann deutscher Geschichtsunterricht dagegenwirken?
Das Problem ist leider, dass die großen Islamverbände in Deutschland oft eine negative Rolle spielen, weil viele von ihnen der antisemitischen Muslimbruderschaft angehören oder ihr nahestehen. Diese Verbände dürfen nicht weiter gefördert werden, wie es derzeit noch passiert. Die machen Bildungsarbeit an Schulen und mit Flüchtlingen, um die jungen Leute zu rekrutieren. Da muss genauer hingesehen werden. Diese Forderung gibt es schon seit mehr als 20 Jahren, wurde aber aus Bequemlichkeit nicht ernst genommen. Es darf nicht sein, dass diese Verbände Islamunterricht an Schulen geben dürfen. Das kann nur nach hinten losgehen.

Körperliche Übergriffe in Deutschland, die antisemitisch motiviert sind, kommen laut Statistiken trotzdem noch immer am häufigsten von Rechtsradikalen.
Da geistert immer diese Zahl von 94 oder 93 Prozent herum. Es gibt aber keine verlässlichen Zahlen dazu. Die Zahlen, die antisemitische Straftaten in Deutschland zeigen, erfassen die Taten entweder als rechtsradikal, als linksradikal oder unter dem Punkt Ausländerkriminalität. Das heißt: Wenn ein Hakenkreuz dabei ist, wird die Tat als rechtsradikal eingestuft, selbst wenn es von Muslimen kommt. Und wenn antisemitische Straftaten von Muslimen verübt werden, die nicht Ausländer sind, zählt das nicht als Ausländerkriminalität. Die Statistiken in Deutschland sind leider nicht so zuverlässig wie zum Beispiel in Frankreich oder England.

Wie schätzen Sie die antisemitisch motivierte Gewaltbereitschaft bei Muslimen denn ein?
Das Problem ist, dass es unter vielen Menschen mit muslimischem Hintergrund die Norm ist, Juden nicht zu mögen. Und wenn das zur Norm gehört, dann wird es gar nicht für nötig erachtet, dass man sich dafür rechtfertigen muss, wenn man etwas Negatives über Juden sagt. Wenn diese Norm erst einmal hergestellt ist, ist der Schritt zur Tat wesentlich geringer. Das heißt, wenn ein jüdischer Schüler als Jude erkannt wird – viele jüdische Schüler verstecken ja gerade deswegen ihre jüdische Identität –  dann ist die Hemmschwelle gering. Es gibt schon ein großes Gewaltpotenzial unter Muslimen.

Ihre Studie ist jedoch nicht repräsentativ.
Das stimmt. Wir haben in der Studie allerdings festgestellt, dass sich unter vielen Menschen, die sich untereinander nicht kennen, unabhängig voneinander die gleichen antisemitischen Motive wiederholen. Da ist eine Norm entstanden. Ob es 20, 30 oder 70 Prozent der Muslime sind, die solche Auffassungen vertreten, kann nicht genau gesagt werden – aber es sind definitiv zu viele. Wir hoffen, eine Debatte anstoßen zu können.

Kann eine Debatte einen Sinneswandel ermöglichen?
Man muss zunächst unbedingt die Diversität berücksichtigen. Man kann nicht alle Muslime über einen Kamm scheren. Viele von ihnen haben diese Ressentiments überhaupt nicht oder wehren sich sogar dagegen. Wir haben auch festgestellt, dass diejenigen, die das Thema Holocaust in den Integrationskursen behandelt haben, sehr viel reflektierter darüber nachgedacht haben. Es gibt die Bereitschaft, Positionen zu überdenken. Die Frage ist nur: Wie wird auf diese Menschen zugegangen? Wird mit ihnen diskutiert, werden sie ernst genommen, oder werden sie pauschal verurteilt? Oder wird im Gegenteil alles entschuldigt, was an Positionen vorhanden ist und deswegen auch nicht mit ihnen diskutiert?

Also ist die Lage nicht aussichtslos?

Dr. Günther Jikeli

Nein, ich sehe durchaus Chancen. In Syrien kommt man ja wenig mit Leuten in Kontakt, die den antisemitischen Sichtweisen widersprechen würden. Und im syrischen Fernsehen werden auch Verschwörungstheorien verbreitet. Da eckt keiner an, wenn er den Holocaust leugnet. In Deutschland schon eher. Hier können sie merken, dass ihre Sichtweisen judenfeindlich und faktisch auch falsch sind – aber das klappt nur, wenn sie auch wirklich damit konfrontiert werden. Dann gibt es eine Chance, dass dieses Denken aufgebrochen wird. Gerade bei jungen Leuten hatte ich während der Befragungen den Eindruck, dass sie bereit sind, ihre Positionen zu überdenken und sich den hiesigen demokratisch-liberal geprägten Sitten und Werten anpassen wollen. Und wenn es tatsächlich gelingt, dass einige sich von ihren falschen Vorstellungen befreien, dann hat das auch wieder Auswirkungen auf ihre Heimatländer. Denn sie bleiben ja mit den Ländern in Kontakt. Die Chance muss aber jetzt auch genutzt werden. Bisher wurde nicht genug über das Thema debattiert.

Woran liegt das?
Es hat leider keinen interessiert. Ich forsche schon länger zu Antisemitismus unter Muslimen und es gab immer den Ansatz, die eigene Nachlässigkeit durch Zweierlei zu erklären: Einerseits hieß es, der Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland sei nur auf den Israelkonflikt zurückzuführen und die Muslime seien direkt davon betroffen. Und zweitens, der Antisemitismus sei mit der Diskriminierung verbunden, die die Muslime hier erfahren. Muslime werden zwar tatsächlich diskriminiert, aber das ist ja kein Grund, Juden zu hassen. Trotzdem wurde das lange so behauptet. Es wird immer offensichtlicher, dass diese Entschuldigungen falsch sind.

Warum ist denn ausgerechnet Deutschland, das stets seine Verantwortung für die Juden betont, Ihrer Meinung nach in diesem Punkt nachlässig?
Was ich befürchte ist, dass sich viele auf einen Antizionismus einigen können, der den Antisemitismus etwas versteckt, aber sich trotzdem immer wieder gegen Juden richtet. Also jener Antisemitismus, der sich vordergründig gegen Israel richtet, dann aber jeden Juden verdächtigt, mit dem „teuflischen Staat“ unter einer Decke zu stecken.

Also müsste es eigentlich ein ganznationales Aufklärungsprogramm geben, das sich nicht nur auf Muslime beschränkt.
Genau. Sehen Sie sich mal an, was in deutschen Schulbüchern über Israel steht. Dazu gibt es auch Studien: Israel wird in Schulbüchern sehr oft negativ dargestellt, als sei es allein verantwortlich für den Konflikt mit den Palästinensern. Und selbst in deutschen Schulbüchern finden sich antijüdische Stereotype.

Zum Beispiel?
Israel wird zum Beispiel oft als rachsüchtig dargestellt. Da wird dieses alte Motiv des rachsüchtigen Juden auf Israel übertragen. Das darf nicht sein. Der Nahost-Konflikt soll im Schulunterricht ja auch nicht einseitig pro-israelisch sein, er muss ganz einfach viel differenzierter vermittelt werden.

Günther Jikeli wurde 1973 in Köln geboren und arbeitet als Historiker und Antisemitismusforscher an der Indiana University und an der Universität Potsdam. Er ist Mitbegründer und Vorstandsmitglied des International Institute for Education and Research on Antisemitism (IIBSA), das in London und Berlin Büros betreibt. 2012 erschien sein Buch „Antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen junger Muslime in Europa. Ergebnisse einer Studie unter jungen muslimischen Männern“

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