Angela Merkel - Da oder nicht?

Wer etwas von Angela Merkel nach der Europawahl hören oder sehen möchte, muss CNN schauen. Die Kanzlerin macht sich gern rar. Unser Autor war einmal mit ihr im Theater, ohne es zu merken

Erschienen in Ausgabe
„Hätte ich sie erkannt, die Kanzlerin, hätte ich ihr ein Wort zugerufen, ein kräftiges?“ / Laura Breiling
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Manche Dinge geschehen ohne einen, obwohl man dabei war. Oder war man es am Ende gar nicht? War man zwar da, aber nicht dabei – oder dabei, aber nicht da? Dann liest man in den Akten der Erinnerungen und findet sich nicht. Dann ist es, als führte ein anderer das Regiment über das eigene Leben. Als hätte ein Schwamm die Tropfen des Gewesenen aufgesogen, restlos, und nur eine blitzblanke, leere Oberfläche im Oberstübchen zurückgelassen. Sie dürfen nun andere beschreiben.

All das frug ich mich neulich, als ich in einer Theaterkritik las, Angela Merkel habe der Premiere des Schauspiels „Der Menschenfeind“ von Molière beigewohnt. In Berlin, im Deutschen Theater, Reihe 6, Parkett Mitte. Ich schaute auf meine Eintrittskarte und fand die Ahnung bestätigt, dass ich tatsächlich am selben Abend zur selben Zeit am selben Ort weilte. In Reihe 7, Parkett links, Platz 20. Grob geschätzte dreieinhalb Meter Luftlinie schräg hinter der Bundeskanzlerin – ohne sie gesehen, bemerkt, gehört zu haben. War sie wirklich da? Oder spielt hier gerade ein Gerücht stille Post, bis niemand mehr weiß, was da wirklich geschah, in der Hauptstadt, zwischen halb acht und zehn nach neun, in einem Theater oder sonst wo, wo die Kanzlerin applaudierte oder gar nicht da war?

Monsieur Martin Schulz

Auf der Bühne war als Dauermiesepeter und Titelheld Monsieur Alceste da, dargeboten von Ulrich Matthes, über dessen durch allerlei Moralfanfarentum bekräftigte SPD-Sympathie man beinah vergessen hätte, dass er im Hauptberuf Schauspieler ist und zwar ein sehr guter, was ihn deutlich abhebt von Martin Schulz, beispielsweise.

Alceste stößt in seinem humorlosen Einsatz für die Wahrheit und nichts als die Wahrheit im absolutistischen Frankreich eine jede und einen jeden vor den Kopf: „Ich habe keine Lust, mir die Zunge zu verrenken / und vor allem, was ich sage, nachzudenken.“ Was ihn schon weniger abhebt von Martin Schulz, beispielsweise.

Die Zumutungen des Berliner Dampfdruckkessels

Alceste begehrt den in Franziska Machens’ Darstellung hanseatisch nölenden Vamp Célimène, eine junge Witwe von hohem Wuchs und eher minderen Geistesgaben. Welche freilich reichen, die drei ebenfalls um sie werbenden Gecken Oronte, Acaste und Clitandre turmhoch zu überragen. Star des Abends war Alcestes Freund Philinte, der bei Manuel Harder vom Stichwortgeber zum menschenfreundlichen Melancholiker wird; er weiß, die Menschen könnten besser sein, doch andere als jene, die wir haben, sind derzeit nicht im Angebot.

Alcestes Devise, „dieser Irrsinn ist kaum noch zu ertragen / ich könnt die ganze Welt erschlagen“, ist sein Motto nicht. Philinte vertritt gewissermaßen die Bonner Republik gegen die Zumutungen des Berliner Dampfdruckkessels. Regisseurin Anne Lenk hat das alles geschwind, sportiv, munter inszeniert, ohne sich um vordergründige Aktualisierungen zu scheren. Kein Trump twittert von der Bühne herab, kein Habeck nimmt übel, keine Greta panikt. Nur Angela Merkel, die genoss ganz gelöst in Reihe 6, Parkett Mitte. Hieß es.

Ein Eklat im Theater?

Hätte ich sie erkannt, die Kanzlerin, wäre die abendliche Luftlinie noch ein klein wenig geringer gewesen zwischen ihr und mir: Hätte ich ihr ein Wort zugerufen, ein kräftiges? Ihren inneren Abschied gemaßregelt vom Amt, das sie noch innehat? Ihr schlechtes Deutsch im Blitz karikiert? Ihre Wurstigkeit gespiegelt? Ihren Schlingerkurs gekontert, fix und vif? Ach, es hätten meine fünf Sekunden werden können in den Akten der Weltgeschichte. Reihum saßen Berliner Hauptstadtjournalisten, jemand hätte meinen gerechten Furor, ganz im Stil des unbestechlichen Alceste, gewiss aufgezeichnet, ihn ins Netz gestellt, eine Debatte losgetreten für Wochen: Eklat im Theater – haben Politiker kein Recht auf Privatleben?

Ich aber sah sie nicht, hörte sie nicht, bemerkte sie nicht. So wurde es ein schöner Abend. Für Angela Merkel und für mich.

Dies ist ein Artikel aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.









 

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