Einsamkeit - Die tödliche Epidemie der Moderne

Der Amoklauf in Florida zeigt: Einsamkeit ist eines der drängendsten Probleme unserer Zeit. Sie verursacht grausame Schreie nach Aufmerksamkeit von Attentätern und stilles Leid von Millionen Menschen. Was ist zu tun?

Trauernde nach dem Amoklauf in Florida / picture alliance
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Schon wieder hat ein Jugendlicher in den USA seine Mitschüler erschossen und wie immer nach den vielen Amokläufen in den USA und anderswo lässt er außer Wut und Trauer vor allem ein großes Rätsel zurück. Wie kann es sein, dass ein offenbar privilegiert aufgewachsener Mensch sich zu einer solchen Gewalttat hinreißen lässt? Amokläufe sind ein relatives neues Phänomen, obwohl auch schon früher Waffen existierten, ob Messer, Handfeuerwaffen, Bomben oder LKW. Und auch gewalttätige und gestörte Menschen gab es schon immer. Statistisch herrscht in der Welt weniger Gewalt als früher. Doch die Amokläufe häufen sich. 18 der 30 tödlichsten Massenerschießungen in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in den vergangenen 10 Jahren, einschließlich der schlimmsten 5 der Geschichte. Die Motive unterscheiden sich, doch eines ist immer gleich: Die Täter waren einsam. Das hat Mark Leary, ein Psychologe und Neurowissenschaftler aus Florida in einer Studie nachgewiesen.  

Grausame Schreie nach Aufmerksamkeit

Was sind diese anderes als grausame Schreie nach Aufmerksamkeit, verbreitet auf und befeuert von den neuen Medien? Gefilmt auf Camcordern, dann auf Handys, live miterlebt auf der ganzen Welt, gespeichert auf Wikipedia und YouTube für die Nachwelt. Wo hätte man 1990 eine Kopie eines Killer-Manifests finden können, geschweige denn ein Video? Diejenigen, deren Einsamkeit so groß ist, dass sie die Aufmerksamkeit der ganzen Welt haben wollen, können dies heute schon bekommen. Vor dem Internet ging das nicht. Nicht umsonst hat Facebook auf dem Drang nach Aufmerksamkeit sein Geschäftsmodell aufgebaut und ist zu einem der wertvollsten Unternehmen der Welt geworden. Täglich nutzen 1,3 Milliarden Menschen auf der Welt die Seite. Das sind 1,3 Milliarden mehr oder weniger laute Rufe: „Hey, ich bin hier, wer ist auch noch da?“

Die pervers überhöhte Form dieses Rufes erleben wir dann bei den Amokläufen, auch und gerade bei denen von islamistischen Terroristen. Die Dschihadisten hinterlassen auch gern Botschaften, aber ihr Anspruch ist größer, aus ihrer Sicht, als der der US-amerikanischen High-School- und College-Kids. Ihre Massenmorde, sagen sie, seien Teil eines Plans, das Paradies zu erreichen und den Triumph ihres Glaubens herbeizuführen. Doch wenn man sich die Lebensläufe der Terroristen anschaut, erkennt man schnell: Die meisten von ihnen lebten kaum so fromm, wie sie zu sterben vorgaben. Shehzad Tanweer, einer der Attentäter der Londoner U-Bahn, hatte eine geheime Freundin. Auf dem Computer von Amedy Coulibaly, der den koscheren Supermarkt in Paris angriff, wurde pädophiles Material gefunden. Ist es wirklich wahrscheinlich, dass die Dschihadisten die Hingabe zum Koran gewalttätig werden ließ? Oder ist es nicht plausibler, dass ihre Gewalt, die die ganze Welt in Atem hält, ein Verlangen nach Aufmerksamkeit stillt, das sie in falschen Eifer verpacken?

Gefährlicher als Alkohol und Zigaretten

Natürlich aber sind nicht alle Einsamen potenzielle Amokläufer, doch gefährlich ist der Zustand auch für die Mehrheit der still Leidenden. Soziale Isolation stellt ein größeres Risiko für die Gesundheit dar als Fettleibigkeit und sogar als der regelmäßige Konsum von Alkohol und von Zigaretten. Das fand Julianne Holt-Lunstad heraus, Professorin für Psychologie an der Brigham Young University im US-Bundestaat Utah. Sie führte die Ergebnisse von hunderten Studien zusammen, in denen Millionen Menschen dahingehend untersucht wurden, welche Rolle soziale Isolation, Einsamkeit und das Allein-Leben auf die Sterblichkeit haben. Die Ergebnisse sind schockierend. Wenn man sich dauerhaft einsam fühlt, erhöht sich das Sterberisiko um 26 Prozent. Ist man sozial isoliert, steigt es sogar auf 29 Prozent. Bei Menschen, die alleine leben, sind es sogar 32 Prozent.

Welches Ausmaß dieses Risiko in Deutschland haben könnte, wird klar, wenn man sich die Ergebnisse einer Studie der Psychologie-Professorin Maike Luhmann anschaut, die an der Ruhr-Universität Bochum forscht. Sie fand heraus, dass sich jeder Fünfte über 85 Jahren einsam fühlt. Bei den 45- bis 65-Jährigen sei es jeder Siebte.

Wer sich wirklich schon einmal einsam gefühlt hat, den dürften diese Zahlen kaum überraschen. Und damit sind nicht ein, zwei Stunden gemeint, in denen es einem nicht so gut geht und niemand zu erreichen ist. Es geht um das permanente, unbestimmt schmerzende Gefühl in der Brust, wenn man sich seit Tagen, Wochen oder sogar Monaten nicht mehr über Alltagsbanalitäten hinaus mit einem anderen Menschen unterhalten hat. 

Warnsignal wie Hunger oder Durst

Der Drang, aus dieser Einsamkeit auszubrechen, ist so überlebenswichtig, dass die Menschen, die ihn nicht hatten, ausgestorben sind. Das ist einer der Grundgedanken von John Bowlbys Bindungstheorie. Die Menschen, die sich zusammen mit anderen nicht gut fühlten oder die sich nicht schlecht fühlten, wenn sie von anderen getrennt waren, hätten nicht die Motivation gehabt, die Dinge zu tun, die notwendig sind, um ihre Gene über Generationen hinweg weiterzugeben.

Die seelischen Schmerzen der Einsamkeit nimmt unser Hirn so wahr wie körperliche. Einsamkeit ist ein Warnsignal wie Hunger oder Durst, schreibt der US-Psychologe John Cacioppo in seinem Buch „Einsamkeit“. Die Einsamkeit aktiviert das „soziale Tier“ in uns und will uns zurück in die schützende Gruppe treiben. Dadurch finden die meisten Menschen tatsächlich schnell wieder Anschluss. Forscher nennen diesen Impuls „reaffiliation motive“, „Wiederangliederungsmotiv“. Doch wenn das nicht aus eigener Kraft gelingt, wird es gefährlich: Der Einsame wird immer verstörter und seine Umgebung zieht sich befremdet zurück. Und wenn das Leiden an der Einsamkeit und der Drang nach Aufmerksamkeit immer größer werden, dann kann es passieren, dass es irgendwann einmal knallt. Wie in der Schule in Florida.

Hilft ein Ministerium für Einsamkeit?

Was also ist zu tun? In Großbritannien hat Theresa May bereits ein „Ministerium für Einsamkeit“ gegründet, ausgerechnet dort also, wo die Sehnsucht nach der „splendid isolation“ so stark war, dass man gleich einen ganzen Kontinent zurückließ, um endlich wieder allein zu sein. Auch in Deutschland haben Union und SPD im Koalitionsvertrag beschlossen „Strategien und Konzepte (zu) entwickeln, die Einsamkeit in allen Altersgruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen“. Diese Maßnahmen der Regierungen gehen sicherlich in die richtige Richtung. Aber das allein reicht nicht, genausowenig wie allein mehr Geld und mehr Personal in der Pflege –so nötig es ist. Entscheidender ist, sowohl die historischen Wurzeln der Verbreitung der Einsamkeit zu verstehen als auch die Faktoren der jetzigen Zeit. 

Denn Einsamkeit ist gewissermaßen die negative Begleiterscheinung des modernen Wunsches nach individueller Freiheit von den Beschränkungen und Zwängen traditioneller Institutionen und Lebensformen: sei es Religion, die Familie, die Dorfgemeinschaft oder der tyrannische Arbeitgeber. Die Menschen, zumindest in der westlichen Welt, haben historisch stets verlangt nach einer größeren Wahlfreiheit bezüglich ihrer Arbeit, ihrem Lebensmittelpunkt, ihren moralischen und politischen Überzeugungen, ihrer sexuelle Orientierung und so weiter. 

Die Kehrseite der Freiheit

Daran ist zunächst nichts Schlechtes, denn so hat sich unsere Freiheit immens vergrößert. Aber es gibt eine Kehrseite, mit der immer mehr Menschen nicht zurechtzukommen scheinen. Wir sind zu mobileren, aber auch zu unruhigeren Individuen geworden, die sich aus traditionellen Gemeinschaften wie der Großfamilie, der Nachbarschaft, der Kirche oder der Gewerkschaft zunehmend zurückziehen. Nicht umsonst werden alle diese Institutionen kleiner. Doch Ersatz zu finden für diese Gemeinschaften und das Gemeinschaftsgefühl, das sie vermitteln, ist schwer, umso schwerer, wenn man allein ist. Die erhöhte Nachfrage nach individueller Freiheit führt also tendenziell zu mehr Einsamkeit. Deshalb ist es für moderne Gesellschaften so wichtig, Institutionen und Orte zu schaffen, die Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit fördern und von denen die Menschen wissen, dass sie dort ihre Einsamkeit lindern und ihren Drang nach Aufmerksamkeit stillen können, ohne ihre individuelle Freiheit zu opfern.  

Wie kann so ein Ort aussehen? Ein wichtiger Schritt wäre, wenn sich jeder von uns diese Frage stellt. Die Forschung bestätigt unsere tiefste Intuition: Die menschliche Bindung  ist essenziell für das menschliche Wohlbefinden. Es liegt an uns allen – an Ärzten, Patienten, Nachbarschaften und Gemeinschaften –  Bindungen aufrechtzuerhalten, wo sie verblassen, und sie zu schaffen, wo es sie nicht gibt. Und dazu müssen wir nicht einmal unsere Freiheit aufgeben. Der Schriftsteller David Foster Wallace, der selbst die Einsamkeit irgendwann nicht mehr aushielt und sich selbst das Leben nahm, hat es einer Rede so beschrieben: „Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit und Disziplin und die Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag.“ 
 

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