Alter weißer Mann - Sind junge Frauen die besseren alten Männer?

Wer ein „alter weißer Mann“ ist, muss derzeit mit vielen Beschimpfungen rechnen. Zu recht, heißt es, alte weiße Männer sollen endlich auch die Leiderfahrung spüren, die andere täglich machen. Es ist nicht das einzige paradoxe Wunderwerk der Identitätspolitik

Männer-Versteherin oder Sadistin? Sophie Passmann hat dem alten weißen Mann ein Denkmal gewidmet / picture alliance
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Endlich gehöre ich auch zu einer besonderen Identitätsgruppe. In der FAZ wurde jüngst festgestellt, dass alle weißen Männer, die älter als 45 Jahre sind, zur Gruppe der „alten weißen Männer“ gezählt werden können. Ich gehöre damit zur erlesenen Schar von ungefähr 18 Millionen Deutschen. Unsere Gruppe weist einige interessante Besonderheiten auf. Wir sterben im Durchschnitt fünf Jahre früher als Frauen, unser Durchschnittsverdienst liegt hingegen um sechs Prozent höher. Da Identitätspolitik immer auch bedeutet, einen Platz in der Opferhierarchie zu ermitteln, steht meine Community also gar nicht so schlecht da. Vor die Frage gestellt, ob fünf Jahre Leben oder sechs Prozent mehr Lohn wichtiger sind, möchte ich vermuten, dass die Mehrheit sich für die Lebenszeit entscheiden würde. 

Leider wurden im selben FAZ-Artikel diese wesentlichen Eigenschaften meiner Gruppe ignoriert und stattdessen die ganze Einteilung durch einige irritierende Aussagen wieder aufgeweicht. So ist Bernie Sanders mit seinen 77 Jahren doch kein alter weißer Mann, Boris Palmer soll hingegen schon als Schüler ein solcher gewesen sein. Es ist also mal wieder eine verflixte Sache mit der Identitätspolitik. Da hat man einmal ein paar handfeste Kriterien wie Geburtsdatum, Hautpigmentierung und Geschlecht, um eine Menschengruppen ein- und andere ausgrenzen zu können, schon werden diese altbekannten Erkennungszeichen des Rassismus wieder durcheinandergebracht. 

Geschlecht spielt keine Rolle mehr

Nach der Theorie der Identitätspolitik müssen immer zwei völlig unterschiedliche Kategorien miteinander vermengt werden. Es reicht also nicht, über 45, hellhäutig und männlich zu sein, man muss, um ein alter weißer Mann zu sein, auch noch eine bestimmte Weltanschauung haben. Diese wird dann wie folgt definiert: Jemand ist aufgrund von Alter, Hautfarbe und Geschlecht privilegiert, leugnet aber diese Privilegien. Leider führt diese Volte endgültig ins Nirwana identitätspolitischer Disputationen. Denn nach dieser Logik wäre zum Beispiel eine junge Frau, die aufgrund von Aussehen, Bildung und sozialem Stand privilegierter ist als zum Beispiel ein alter kranker Mann und die sich dennoch als Opfer sieht, verblüffenderweise ein alter weißer Mann. 

So ist das nicht gemeint, werden die Erfinderinnen der Identität „alter weißer Mann“ nun laut rufen. Und damit ist die Verwirrung perfekt. Gelten die biologischen Fakten oder die Gesinnung bei der Identitätsbestimmung? Oder wird die Gesinnung erst dann besonders wichtig, wenn sie mit bestimmten biologischen Bedingungen zusammentrifft? Ist also eine junge Frau, die ihre Privilegien leugnet, dennoch ein Opfer? Und ist ein Mann, der arbeitslos und einsam ist, dennoch privilegiert, wenn er eine weiße Hautfarbe und das entsprechende Geburtsdatum hat? 

Ohnmachtserfahrung à la Sophie Passmann 

Die Identitätspolitik hat hier mal wieder eines ihrer paradoxen Wunderwerke gestiftet. Und wie es solchen Argumentationskünsten eigen ist, dienen sie immer demjenigen, der sie am besten beherrscht. Der sinnvolle Anfang dieser verqueren Logik lag einst in einer Umdrehung diffamierender Bezeichnungen. So begrüßten sich die Schwarzen im Kampf gegen Rassismus gegenseitig mit „Nigger“. Diese Strategie nannte man Empowerment. Man ermächtigt sich der abwertenden Bezeichnung und macht sie zu einem positiven Erkennungssignal. 

Die Bezeichnung alter weißer Mann dreht nun wiederum diese Mechanik eine Wendung weiter. Nun wird einer Gruppe, die bisher nicht wegen ihrer biologischen Eigenschaften diffamiert wurde, genau diese Diffamierungsfreiheit als Stigma angeheftet. Einfach gesagt, fordern die Kritiker des alten weißen Mannes, dass er sich endlich einmal auch so ausgegrenzt fühlen solle wie alle anderen Identitäten. Denn diese werden, im Unterschied zum alten weißen Mann, permanent und strukturell diskriminiert. Der Analyse mag man folgen, allein das Mittel zur Beseitigung des Missstands will mich nicht überzeugen. Denn das Ziel dieser neuen Identitätszuschreibung ist es, eine Ohnmachtserfahrung zu erzwingen, denen Männer sonst nicht ausgesetzt sein sollen. Sie sollen sich endlich einmal so unfair diskriminiert und ausgegrenzt fühlen, wie es zum Beispiel Sophie Passmann, die Autorin des Gesprächsbandes mit alten weißen Männern, alltäglich erlebt. 

Lernen durch Leiden 

Mit diesem identitätspolitischen Schachzug hat die emanzipatorische Entwicklung eine unerwartete Wendung  genommen. Galt bisher das Ziel, dass die Hindernisse, die die Lebenschancen beeinträchtigen, abgebaut werden sollen, so wird nun absichtlich eine neue Diffamierungsweise in der öffentlichen Debatte platziert. Getreu der schwarzen Pädagogik soll durch Leiderfahrung ein Lernprozess in Gang kommen. Wenn sich die privilegierten weißen Männer über 45 nun auch ungerecht behandelt fühlen, werden sie dadurch sensibler und selbstkritischer. So der Plan.

Wenn diese Logik stimmen würde, müssten die bisher diskriminierten Bevölkerungsteile ein übergroßes Maß an Rücksicht und Nachsicht entwickelt haben. Dass das nicht zutrifft und dieses Erziehungsmodell nichts Gutes bewirkt, zeigt hingegen der wachsende Wutpegel, der zwischen den Communitys herrscht. Es ist darum rätselhaft, wieso neuerdings die Behauptung Konjunktur hat, dass Einschüchterung und Ausgrenzung zur Besserung des Charakters führen sollen. 

Retourkutsche, moralisch verschleiert 

Ich habe darum den Verdacht, dass die erhoffte Verbesserung des schlechten Charakters eine Schutzbehauptung ist, um den eigentlichen Genuss an der Retourkutsche moralisch zu verschleiern. Endlich haben alle Menschen eine Position auf der Identitätslandkarte erhalten, mit der sie stigmatisiert werden können. Der Kampf Alle gegen Alle kann nun um die Frage geführt werden, wessen Stigma zum Privileg des Opfers befähigt. Indem der Identität des alten weißen Mannes qua Definition die Privilegien eingeschrieben sind, bedeutet sie im Kampf um die besten Plätze in der Opferhierarchie einen beträchtlichen Nachteil. Die Botschaft ist eindeutig: Ich bin endlich Teil des globalen Wettbewerbs, darf aber damit rechnen, die kommenden Jahre aufgrund meiner Privilegien ein Verliererdasein zu fristen. 

Was passiert, wenn die Bezeichnung alter weißer Mann von den alten weißen Männern im Sinne der Empowerments auf sich selbst angewendet wird, konnte man bei der Wahl von Donald Trump beobachten. Dass dieser wahrscheinlich fünf Jahre früher stirbt, ist da ein schwacher Trost. 

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