Alte weiße Männer - Wer sich selbst geißelt, ist nur zu feige, sich gegen fremde Schläge zu wehren

Wollen alte weiße Männer der heutigen politischen Korrektheit genügen, schaffen sie sich am besten selbst ab. Ein Kollege unseres Autors scheint diesem Gebot der Stunde zu folgen. Doch freiwillige Unterwerfung hat oft mehr mit Feigheit als mit tätiger Reue zu tun

Ist die Zeit für alte weiße Männer wie Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski vorbei? / picture alliance
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Autoreninfo

Christoph Ernst lebt als Schriftsteller bei Hamburg. Sein jüngster Roman heißt „Mareks Liste“ (Leda-Verlag). Seine Romane „Im Spiegellabyrinth“ (Hallenberger-Media-Verlag, 2015) und „Dunkle Schatten“ (Pendragon, 2012) kreisen um Antisemitismus. 

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Ich bin ein alter, weißer Mann. Das macht mich obsolet, zum Relikt einer vorgestrigen Epoche. Wenn ich lieb bin und den Parametern politischer Korrektheit folge, sehe ich das selbst ein und schaffe mich freiwillig ab.

Das in etwa war die Nettonachricht eines freundlich lächelnden Schriftstellerkollegen, der knapp ein Dutzend Jahre jünger ist als ich und für eine Reihe bedeutender Tageszeitungen geschrieben hat. Immerhin so erfolgreich, dass er zeitweise stellvertretender Chefredakteur eines der größten Frauenmagazine der Republik war. Kein ungebildeter Mensch, charmant, witzig und schnell.

Neue Stimmen sind gefragt

Den Stimmen alter, weißer Männer lauscht die Welt seit über 500 Jahren, sagte er. Die hätten sich die Welt angeeignet, überall breit gemacht und dem Rest der Spezies ihre Sicht der Dinge aufgezwungen. Es sei an der Zeit, dass endlich andere Stimmen zum Tragen kämen, Stimmen, die die Welt aus ihrer Perspektive erhellten. Was alte, weiße Männer darüber dächten, wüssten wir nun zu Genüge.

Auslöser des Gerontophobie-Disputs war die Lesung eines anderen Kollegen, der sich erdreistet hatte fiktiv in die Haut eines Arabers zu schlüpfen. Es ging um die Frage, ob er sich damit die fremde Kultur in neokolonialer Manier angeeignet und sie durch seinen europäischen Blick entstellt habe. Ich sagte, ein Autor dürfe grundsätzlich alles. Entscheidend sei, wie gut oder schlecht sein Text sei. Er meinte, genau das sei es eben nicht, jedenfalls nicht, sobald es eine kulturelle Hierarchie gäbe. Dann zähle, wer den Text verfasst habe. Alte, weiße Männer könnten sich über alles Mögliche auslassen, aber nicht über fremde Kulturen. Dafür seien sie aus oben genannten Gründen disqualifiziert.

Sind weiße Männer vor 500 Jahren stehen geblieben?

Der fremde Blick aufs Eigene beeinflusst oft die Sicht aufs Eigene, was durchaus die Selbstwahrnehmung korrumpieren kann, aber die meisten Künstler eignen sich laufend Fremdes an. Fast jeder schöpferische Akt verwandelt Fremdes in Eigenes. Deshalb irritierte mich das gezielte Ausschließen alter, weißer Männer. Menschen nehmen die Welt unterschiedlich wahr. Wer schafft die Kategorien, denen sie sich zuordnen oder denen sie zugeordnet werden. Und wer entscheidet darüber, wessen Weltsicht relevant, legitim oder illegitim ist? Eigen- und Fremdwahrnehmung sind bekanntlich zwei Paar Schuhe, oft klaffen sie Lichtjahre auseinander. Alt, weiß und männlich ist eine Falle, der keiner entkommt, der es ist. Nicht mal als Kastrat.

Egal, ob er am Baikalsee, auf den Färöern oder in Whitehorse am Yukon lebt. Ein monolithisches Konzept, das unterstellt, dass alle weißen Männer gleich ticken und geistig auf dem Stand von vor 500 Jahren hängen geblieben sind, während der Rest der Spezies rasante Fortschritte gemacht hat. Meine subjektive, aber immerhin auf fünf Kontinenten gesammelte Erfahrung dagegen ist, dass die Internationale der Schwachköpfe quer durch alle Rassen, Religionen und Geschlechter geht. Wenn irgendetwas global gerecht verteilt ist, so menschliche Dummheit.

Soll man die eigene Kultur verdammen?

Am 3. August 1492 stach Christoph Kolumbus mit der Karacke „Santa Maria“ und den Karavellen „Nina“ und „Pinta“ von Palos de la Frontera aus nach Westen in See. Das markierte den Auftakt der Herrschaft der alten, weißen Männer, die den Rest der Welt plünderten, versklavten und unterjochten. Parallel erblühten Renaissance, Aufklärung und Wissenschaft in Europa. Bezahlt mit dem Gold erschlagener Inkas und dem Blut zu Tode geschundener Sklaven, die in den Minen von Potosi Silber schürfen mussten. Der Reichtum des Westens, sein Glanz, sein Fortschritt und seine Schönheit fußten auf Plünderung, Terror und Mord. Nicht ausschließlich, aber zu einem Gutteil.

Aber ist das ein Grund, dafür nun komplett die eigene Kultur zu verdammen und ihre vielen Errungenschaften für kontaminiert, überflüssig und wertlos zu erklären? 39 Jahre vor Kolumbus' Aufbruch erstürmten die Türken Byzanz. Als erstes rissen sie die 1000 Jahre alte Apostelkirche ab, die zweitgrößte Kirche Konstantinopels, wo die Gebeine der oströmischen Kaiser lagen. An deren Stelle ließ Mehmet II. sich zur Feier seines Sieges einen Triumphbau errichten, die „Eroberer Moschee“.

Auch andere haben eine blutige Vergangenheit

Die vielen türkischen Gotteshäuser, die in Europa den Namen „Fatih-Camii“ tragen, sind nach dieser Moschee benannt. Jede dieser Moscheen feiert den Sieger von 1453, den „Überwinder“ der Christenheit im Orient, der nach 700 Jahren Krieg dem einst so mächtigen Ostrom den Todesstoß versetzte und sich über den Gräbern der Herrscher von Byzanz verewigte.

Über die nächsten 400 Jahre plünderten und besetzten die Türken weite Teile des Ostens Europas. Sie verschleppten von dort in jährlichen Beutezügen Abermillionen junger Menschen, um sie zu versklaven, sie zu Kindersoldaten zu machen oder sie an Harems zu verkaufen. Im Zuge der atlantischen Sklaverei erreichten zehn bis zwölf Millionen Schwarzafrikaner lebend Amerika. Eine ähnliche Zahl Menschen wurde parallel aus dem Osten Europas ins Osmanische Reich gebracht. Einige Quellen schätzen, dass es sogar drei bis vier Mal so viele waren.

Wissen das die, die alles Übel der Welt alten, weißen Männern anlasten? Kommen deshalb heutige Muslime auf die Idee, ihre eigene Kultur für korrupt, blutrünstig und obsolet zu halten?

Neuauflage des Kriegs der Generationen

Nur mal so als Frage. Verbirgt sich hinter der Abscheu für alte, weiße Männer nicht eventuell etwas viel Flacheres? Immerhin paart sie den Neid der Jungen auf die Erfahrung der Alten mit Rassen- und Geschlechterhass, sie ist eine Neuauflage des Kriegs der Generationen und passt hervorragend in die demografische Krise überalterter Gesellschaften, als Anmoderation für eine aktualisierte Variante von „Soylent Green“ (1973), der im Jahr 2022 angesiedelten Dystopie einer durch Überbevölkerung und exzessive Ressourcenausbeutung zerstörten Welt, wo alte Menschen eingeschläfert und zu Nahrung für Artgenossen verarbeitet werden.

Ganz so weit sind wir noch nicht. Aber wir leben in der fortgeschrittenen Postmoderne, die das für alle gültige Prinzip universeller Menschlichkeit durch den narzisstischen Wettstreit heilig gesprochener Subjektivität ersetzt. Interkulturell ausgetragen, versteht sich. Auf wechselnden Schauplätzen. Frei nach Jean-Francois Lyotard, der sowohl Kant als auch Hegel bescheinigte, keine allgemein verbindliche Rationalität zu stiften, weshalb Humanismus, Aufklärung und Idealismus auf falschen Voraussetzungen fußten und das Projekt der Moderne gescheitert sei. Ihre „Narrative“ müssten aufgegeben und durch unterschiedlichste Diskurse ersetzt werden, die nach relativen Regeln Rationalität und Normativität jeweils neu definierten.

Die Crux dabei: Was erkenntnistheoretisch bedenkenswert sein mag, lässt sich nicht eins zu eins auf die interkulturelle Ebene übertragen. Lyotard selbst war sich des Dilemmas bewusst. Darum versuchte er Vernunft und Aufklärung als „pluralistischen Liberalismus“ zu retten, weil er, völlig zu Recht, einen neuerlichen Einbruch des Religiösen ins Politische befürchtete. Doch wer liest heute schon noch seine „Heidnischen Unterweisungen“?

Schreiben zu dürfen, ist ein Privileg

Ich fragte mein Gegenüber, ob er sich auch als alten, weißen Mann sähe? Sicher. Wieso er dann überhaupt noch schreibe? Wenn er das, was er da sage, ernsthaft glaube, müsse er doch sofort damit aufhören und anderen seinen Platz räumen. Theoretisch habe ich Recht, kam es. Man müsse sich halt klar machen, welch Privileg es sei, überhaupt schreiben zu dürfen.

Dem muss ich zustimmen. Nicht bloß als alter, weißer Mann, auch als ehemaliger Analphabet. Eigenverantwortlich zu leben und sich mit Problemen herumzuschlagen, die man sich selbst einbrockt, macht zwar nicht immer Freude, aber es bedeutet Freiheit. Vermutlich sieht das eine Autorin wie Toni Morrison nicht viel anders. Insofern ist es weder spezifisch weiß noch männlich.

Lust an der Selbstgeißelung

Was mich an dem kurzen Gespräch mit meinem Gegenüber nachhaltig irritierte, war seine Lust, aus den Verbrechen der Altvorderen eine Erbsünde zu stricken, die es zur moralischen Pflicht machte, sich öffentlich dafür zu geißeln und alle hellhäutigen Geschlechtsgenossen in Sippenhaft zu nehmen.

Ich würde für mich beanspruchen, anders zu denken als Francisco Pizarro, aber falls ich ohne eigenes Dazutun in besonderer Weise für seine Gräuel zuständig sein sollte, so sind es auch alle Mongolen für die Schädeltürme ihrer Vorfahren und sämtliche Bewohner des ehemaligen Osmanischen Reichs für das Versklaven christlicher Osteuropäer.

Erstreckt sich die historische Kollektivhaftung über Jahrhunderte? Spiegelt sie sich im Universum jedes Individuums? Das besticht mich als zutiefst religiös. Der Vatikan war 1965 davon überzeugt, dass Juden durch ihre Geburt als Erben der Mörder des Heilands zur ewigen Verdammnis verurteilt seien.

Ich war nie katholisch. Solche eine Logik finde ich zutiefst problematisch. Ich glaube an individuelle Mündigkeit. Sofern ein Mensch nicht gezielt an bestimmte Traditionen anknüpft, darf man ihn nicht für die Sünden seiner Altvorderen zur Rechenschaft ziehen. Das gilt auch für Leute wie mich, die alt, weiß und männlich sind.

Willkür und Unterdrückung im Gewand der Toleranz

Der Unterschied zwischen Moderne und Postmoderne ist die Frage: Inhalt oder Form. Für mich zählt der Inhalt. Nicht überall, wo Toleranz und Befreiung draufstehen, sind auch automatisch Toleranz und Befreiung drin. Mitunter sind es Willkür und Unterdrückung.

Als alter, weißer Mann bin ich gleich dreifach geschlagen. Aber wenn ich den Gesslerhut grüße, Reue heuchele und Läuterung verspreche, darf ich weiter mitspielen. Signalisiere ich als alter, weißer Autor die Bereitschaft, mich zu unterwerfen und anderen den Vortritt zu lassen, sammele ich ethische Polypunkte. Selbst wenn die anderen möglicherweise noch schlechter schreiben als ich. Tue ich damit der Menschheit etwas Gutes? Steigere ich die Qualität und den Reichtum literarischer Erfahrung und Wahrhaftigkeit? Nehme ich die angeblich Schwächeren so endlich für voll? Oder beschere ich mir selbst bloß hohle Erhabenheit?

Ich fürchte letzteres. Paternalismus kommt in vielen Verpackungen. Eine der perfidesten ist die politisch korrekte Selbstbeschränkung. Eklatante Ungerechtigkeit lässt sich zwar mitunter nur durch „Affirmative Action“ beseitigen, aber wäre ich als Frau oder ethnische Minderheit unterwegs, beleidigte es mich, auf dem Quotenticket zu reisen. Jede Diskriminierung, auch die positive, ist eine Herablassung.

Kultivierter Selbsthass

Doch vielleicht liegt der Hase auch woanders im Pfeffer. Die Lust in den Augen meines Gegenübers, als er mir das Grauen seiner weißen Männlichkeit schilderte, sprach Bände. Es quälte ihn nicht, sich selbst runter zu machen. Im Gegenteil. Es bereitete ihm sichtlich Vergnügen. Autodestruktion als intellektueller Zeitvertreib ist nichts Neues. Trotzdem hätte er rein theoretisch auch als dankbarer, reflektierter, aber durchaus selbstbewusster Mann der Feder in eine Reihe mit Cervantes, Voltaire oder Nietzsche treten können. Stattdessen erklärte er sie und sich zu Würmern.

Das bestach mich als sehr deutsch. Oder „westlich“. Der invertierte Größenwahn, der das Eigene zum Hort des ultimativen Übels macht und es eifersüchtig als Nabel des Bösen verteidigt. Klar, die Kehrseite der Unfähigkeit zu trauern heißt nun mal kultivierter Selbsthass, und der verzerrt alle Parameter. Aber ich mag grundsätzlich keine Doppelstandards, nicht mal die koketten, scheinbar demütigen, vermeintlich menschenfreundlichen, die demonstrativ zu eigenen Ungunsten sind. Wer sich selbst auspeitscht, ist oft nur zu feige, sich gegen fremde Schläge zu wehren. Mit tätiger Reue hat das nichts tun.

Zwei und zwei sind sieben?

Dekonstruktivismus begeistert alle, die in der Postmoderne das verdiente Ende der europäischen Geschichte sehen. Ich halte es eher für fortgeschrittene Phantasielosigkeit. Wer sich das Ausmaß der Zerstörung, die er anrichtet, gar nicht mehr vorzustellen vermag, den treibt kindliche Neugierde. Die Lust am Kaputtmachen. Darin sieht er Befreiung. Doch wer ahnt, wie sich das Grauen anfühlt, das jenseits der Schwelle liegt, wie es schmeckt und riecht, den packt der Horror.

George Orwell schrieb mal, dass Freiheit dort beginnt, wo man sich darauf einigt, dass zwei und zwei vier sind. Wer alle alten Männer von Bord wirft oder sie über die Planke zu den Haien marschieren lässt, bei dem sind zwei und zwei auch gern mal fünf oder sieben. Je nach Bedarf. Ich habe politisch korrekte Arithmetik lange als infantile Spielerei abgetan, als eine von vielen Facetten eines dekadent, narzisstischen Zeitgeists. Doch hinter dieser Beliebigkeit gähnt nicht nur die Wüste blindwütiger Orientierungslosigkeit, da kreischt die Sehnsucht nach totalitären Strukturen: Am Ende ebnet die heilig gesprochene Subjektivität der maßlos Selbstgerechten nur den Weg in die politisch wohlfeile Unterwerfung. Davor graut mir. Nicht nur als altem, weißen Mann.

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