Abstiegsangst - Sehnsucht nach dem Positiven

Die Autoren Herfried und Marina Münkler haben ein neues Buch geschrieben: „Abschied vom Abstieg“. Darin konstatieren sie, dass es Deutschland an einer positiven Zukunftserzählung fehlt. Das alleine reicht aber nicht. Es braucht eine neue Agenda

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Autoreninfo

Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat und Publizist. Zuletzt sind von ihm im Dietz-Verlag erschienen: „Das Streben nach Freiheit“ und  „Die liberale Illusion“.

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Herfried und Marina Münkler haben ein neues Buch geschrieben: „Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland“.
Ihre Grundbotschaft ist: Die rechtskonservativen bis rechtspopulistischen Niedergangserzählungen müssen wir genauso überwinden wie die linken Abstiegserzählungen. Wir brauchen ein positives Narrativ. Dies meinen sie, wenn sie von einem „Abschied vom Abstieg“ sprechen.

Bevor wir uns mit der Idee, die die Münklers hier verfolgen, genauer befassen, sollten wir kurz eine Skizze der unterschiedlichen Antworten machen, wie man in der akademischen Sozialbeobachtung – nicht in der Realpolitik – gerade zur „Fortschrittsidee“ steht.

Fortschritt kommt nicht von alleine

Da gibt es erstens so jemanden wie den Harvard-Psychologen Steven Pinker. Der meint: Läuft doch im Grunde in die richtige Richtung, seht das nur endlich ein. Hier strotzt man vor Fortschrittsgläubigkeit. Dann gibt es zweitens Pankaj Mishra mit seinem Buch „Das Zeitalter des Zorns“ oder auch ich selbst in meinem Buch „Die liberale Illusion“, die einen blindwütigen Fortschrittsoptimismus (der Elite) beobachten, der mit der Gefühlslage der breiten Masse nicht mehr zur Deckung kommt. Pankaj Mishra spricht etwa negativ von einer „Autobahn des Fortschritts“.

Ich spreche in „Die Liberale Illusion“ von einem „liberalen Hegelianismus“. Darunter verstehe ich das Predigen einer Alles-ist-gut-Philosophie, die reichlich naiv davon ausgeht, dass alles automatisch irgendwie „gut“ wird. Ich bin also keineswegs irgendwie gegen die Fortschrittsidee, sage aber, dass es eine Illusion ist zu glauben, dass Fortschritt schon irgendwie von alleine kommt. Meine Botschaft ist: Sowohl für technischen als auch für sozialen Fortschritt muss man aktiv etwas tut. Und deshalb bin ich auch ein Linker, weil ich glaube, dass der Staat hier etwas tun muss – zum Beispiel in die Zukunft investieren muss.

Nicht nur das Narrativ ist negativ

Nun gibt es drittens die Haltung von Herfried und Marina Münkler zur Fortschrittsidee. Sie beobachten eine „Erosion des Fortschrittsglaubens“. Sie wollen aber zugleich nicht in das Negativnarrativ abdriften, dass eigentlich nur noch Unheil in der Zukunft zu erwarten ist. Sie schreiben eben nicht nur gegen die rechtspopulistischen Untergangsgesänge des Abendlandes an, sondern, ohne es explizit hier zu sagen, auch gegen das linke Narrativ von der „Abstiegsgesellschaft“ von Oliver Nachtwey, der mit diesen Narrativ vor einiger Zeit die linke Debatte in Deutschland neu sortierte – zumindest auf der akademischen Ebene. Die Münklers wollen zugleich empirische Realisten und normative Idealisten sein. Sie suchen nach einer neuen Leiterzählung, die Zuversicht zurückholen soll. Eben einen „Abschied vom Abstieg“ einleiten kann. Ein ähnliches Motiv war schon aus ihrem gemeinsamen Buch „Die neuen Deutschen“ herauszulesen.

Ihr neues Buch ist ein beeindruckend historisch informiertes Buch geworden. Ich möchte an dieser Stelle aber die Grundannahme des Buches kritisch hinterfragen. Sie sagen, dass Abstieg und Niedergang als Erzählungen das Debattenklima bestimmen. Darin machen sie die Erosion der Fortschrittsidee aus. Sie diagnostizieren aber, dass es einen „Widerspruch zwischen vorherrschender Stimmung und tatsächlicher Lage“ gibt. An anderer Stelle werden sie noch deutlicher: „Nicht die Empirie hat sich verändert, sondern das Leitnarrativ.“ An dieser Stelle muss man sagen: Doch, die Empirie hat sich verändert. Oliver Nachtwey hatte ja nicht ohne Grund etliche Statistiken durchgewälzt, um zu zeigen, wie es um die soziale Lage in Deutschland bestellt ist. Ebenso bin ich in „Die liberale Illusion“ diesen Weg gegangen, um empirisch nachzuweisen, dass zum Beispiel die „Rückkehr der sozialen Frage“ längst empirisch nachweisbar ist.

Die Ungleichheit hat zugenommen

Jüngst haben wieder neue Studien der Hans-Böckler-Stiftung und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) gezeigt, dass die soziale Ungleichheit wieder einmal signifikant zugenommen hat. Zudem ist der Aufstieg Chinas und Südkoreas ja auch empirischer Fakt. Dass man sich in der deutschen Industrie zunehmend Gedanken darüber macht, ob und inwieweit man eigentlich noch eine glänzende Zukunft vor sich hat, ist nicht irgendeine Vorstellung von Journalisten, die gerne mal eine Krise herbeireden wollen, um bessere Auflage zu machen. Die Angst vor dem Abstieg des Westens und die Angst vor dem Abstieg der europäischen Industrie sind doch nicht einfach Erzählungen aus dem luftleeren Raum. An der Angst vor dem Abstieg ist etwas Substanzielles dran – oder um es anders zu sagen: Die Angst hat einen realen Grund.

Im Buch der Münklers wird das Materielle und jene Angst vor materiell schlechterer Zukunft aber heruntergeredet. So schreiben sie an einer Stelle: „Der Riss, der durch die deutsche Gesellschaft geht, ist weniger ökonomischer als politisch-kultureller Art.“ Das ist einfach zu pauschal. Aber die Münklers halten die „Theorie vom neoliberalen Sündenfall“ – vor allem für die Erklärung des Aufstiegs des Populismus – für weitgehend zu eindimensional. Das mag stimmen. Sie retten sich dadurch, ähnlich wie Cornelia Koppetsch dies schon in ihrem Buch „Die Gesellschaft des Zorns“ gemacht hat, politisch-kulturelle Erklärungen und sozio-ökonomische Erklärungen des Populismus beide für bedeutend zu halten. Allerdings wird bei den Münklers allzu deutlich, dass sie den materiellen Erklärungen weit weniger Gewicht zu geben bereit sind. Das ist ein empirischer Fehler.

Es braucht mehr als nur eine positive Erzählung

Zuweilen wirkt das Buch der Münklers so, als wollten sie den Deutschen nur ihre schlechte Stimmung ausreden. Als wäre das Zentrale für die Wiedergewinnung eines positiven Blicks auf die Zukunft schlicht und einfach im Kopf umzuparken. Das ist, trotz allem Respekt für das Buch der Münklers, schon etwas naiv. „Was Deutschland jetzt braucht, ist ein politischer und mentaler Neuanfang“ schreiben sie. Ja, aber es reicht eben nicht, primär die Leiterzählung zu verändern. Denn die Leiterzählung der Elite ist doch fortschrittsgläubig. Sie versucht doch seit Jahren den Deutschen einzureden, dass vieles eigentlich ganz okay sei. Nur die Deutschen wollen es immer weniger glauben.

Das Problem ist doch eher, dass Realität und Fortschrittsgeschichte nicht mehr zusammenpassen. Es gibt sicher eine „Leerstelle des Fortschritts“, wie auch ich zuletzt in Cicero schrieb. Aber die entscheidende Frage ist: Wie besetzt man sie neu und wie gelingt der Fortschrittsneustart? Doch sicher nicht nur mit einem mentalen Neuanfang. Denn wo soll der herkommen? Er muss doch seine Basis in der Realität finden können.

Wer den Fortschrittsglauben zurückhaben will, muss an das Materielle ran. Also was tun? Überhaupt auch materielle Reformen angehen. Gewiss, da haben die Münklers auch etwas zu sagen. Eine Reform des Bildungssystems sei nötig. Dem gilt es absolut zu zustimmen.

Die Ehre der Reform hat sehr gelitten

Allerdings bedarf mittlerweile auch fast jeder Politikbereich Reformen. Das Land liegt unter Mehltau, vieles wurde verschlafen. So richtig ist dieses Bewusstsein, dass Deutschland wieder eine neue Agenda braucht, noch nicht in der politischen Elite angekommen. Alle scheinen wie gelähmt, weil die Volksparteien zuletzt erodierten und sich das Parteiensystem wandelt. Engstirniges Blicken auf die eigenen Politik-Karrieren und angsterfülltes Zaudern und Taktieren prägen den Geist nicht nur dieser Großen Koalition, sondern einer politischen Elite insgesamt, denen ihr Dasein als Berufspolitiker mehr und mehr jeden Mut raubt, etwas zu riskieren, um dem Land zu dienen – anstatt nur sich selbst.

Das Buch der Münklers kann vielleicht aufrütteln. Denn die Botschaft wird zumindest sehr deutlich: Eine Agenda ist nötig.
Worin sie bestehen soll, darüber kann man nun streiten. Hauptsache ist: Das Land hört auf zu schlafen und wagt endlich wieder Reformen. Gut dabei ist, dass die Münklers die „Reform“ rehabilitieren. Die Ehre der Reform hat nämlich zuletzt sehr gelitten. Es war mehr von „konservativen“, „sozialistischen“ und „ökologischen“ Revolutionen zu hören. Das Buch der Münklers macht dahingegen Mut, Reformen anzupacken. Ob sie nun dafür unternommen werden, einen „Abschied vom Abstieg“ einzuleiten oder um mit einem „linken Realismus“ endlich auf die Realität zu antworten, ist eigentlich theoretisches Gezänk. Am Ende zählt die Praxis. Es zählt das Tun. So viel Karl Marx darf sein. So viel Karl Marx muss sein.

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