„Spiegel“ Bestsellerliste - Das verschwundene Buch

Kisslers Konter: Der „Spiegel“ nahm das Buch „Finis Germania“ von seiner eigenen Bestsellerliste. So wird der Leser entmündigt und eine ganze Branche unter Verdacht gestellt

Wer genau hinschaut, erkennt Leerstellen in der Spiegel-Bestsellerliste / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Es gibt nichts, was es nicht gibt, und man lernt täglich dazu. Auf der ganzen Welt ist eine „Bestsellerliste“ eine Liste derjenigen Produkte, die sich, wie es der Name schon sagt, am besten „sellen“, am besten also verkaufen. Eine „Bestseller-Liste“ zählt und misst und findet allein so ihre strenge Ordnung. Bei der 1 fängt es an, es folgen 2 und 3 und 4 und 5 und 6, und irgendwann hört sie auf, die „Bestsellerliste“. Auf der ganzen Welt? Nein. In einer kleinen Stadt am Rande einer kleinen Republik sieht es ein kleines Nachrichtenmagazin anders. Dort – Deutschland heißt das Land, Hamburg die Stadt – ist eine „Bestseller-Liste“ eine „kuratierte Liste“. Und also darf nur drauf, was den Hamburger Gesinnungstest übersteht.

Das wussten Sie nicht? Sie dachten, in Hamburg sei eine „Bestsellerliste“ gerade so eine „Bestseller-Liste“ wie in Kairo, Kentucky und Kischinau? Trösten Sie sich, Sie konnten es nicht wissen. Die Hamburger Nachrichtenmagazinmacher ließen uns, die Nachrichtenmagazinleser, bisher im Glück der Illusion. Sie sagten es uns nicht, sie sagten es uns einfach nicht, obwohl es die Hamburger „Bestsellerliste“ seit Olims Zeiten gibt. Nun erfahren wir es und sind bass erstaunt. Rolf Peter Sieferle sei Dank und Friede seiner Seele.

Sarazzin die geheime Nummer 1?

Die Hamburger Kuratoren rücken erst im Juli des Jahres 2017 mit der ganzen nackten Wahrheit heraus: Wir lesen Woche für Woche auf dieser Hamburger „Bestsellerliste“ nicht in strikt absteigender Reihenfolge, welche Bücher sich am besten verkaufen. Die Hamburger lassen, weil sie eben Kuratoren sind und keine Mathematiker, besorgte Journalisten und keine Rechenmaschinen, nach Gutdünken Leerstellen. Sie sieben aus und teilen zu. Sieferles nachgelassenes Werk mit dem Namen „Finis Germania“ haben sie „von der Liste heruntergenommen“. Es hätte sonst in der Vorwoche Rang 6 belegt.

Da erheben sich schwerwiegende Fragen: Welche Bücher wurden und werden uns, den politisch wachen Nachrichtenmagazinlesern, sonst noch vorenthalten? Ist vielleicht in der aktuellen Ausgabe der Hamburger Liste gar nicht „Das geheime Leben der Bäume“ die wahre Nummer Eins, sondern ein aus gesinnungsethischen Gründen getilgtes Werk? Vielleicht „Kochen mit Thilo Sarrazin“? Oder Frauke Petrys Reiseführer „So schön ist unser Sachsen“? Oder am Ende gar „Pflaster, Zaster, Zoroaster!“ vom „Aktionsbündnis G20 – Eine andere Welt ist möglich“? Wir wissen es nicht. Wir werden es nie erfahren. Das wissen nur die Hamburger Kuratoren, und die brachen bisher nur einmal, nur im Falle Sieferles, ihr Schweigen, notgedrungen.

Zweifel wurden gesät

Wäre das Verschwinden nicht von anderer Seite entdeckt worden, wäre vielleicht Gras über die Sache gewachsen. Nun aber sind die Hamburger Nachrichtenmagazinmacher dreifach blamiert: als Faktenfrisierer aus Leidenschaft, als Heimlichtuer aus Überzeugung, als Leser-für-dumm-Verkäufer. Müssen nun auch andere Wirklichkeiten durch das Nadelöhr der richtigen (also linken) Gesinnung, damit sie zu Hamburger Nachrichtenmagazinnachrichten werden?

Das wäre ein böser Generalverdacht und vermutlich ungerecht. Die Hamburger Nachrichtenmacher aber haben nun erst einmal die Wirklichkeit – die Wirklichkeit der Absatzzahlen – unter einen solchen Verdacht gestellt und dürfen sich nicht beschweren. Eine Runde Schämen ist angebracht, vielleicht im Schanzenviertel? Die Hamburger Redakteure haben ihre Leser auch insofern für dumm verkauft, als sie ihnen die Schwindelei im Nachhinein als Maßnahme unterjubeln wollten, um „den Verkauf eines solchen Buches nicht zu befördern“.

PR für Sieferle

Dabei hätten sie den Absatz von „Finis Germania“ durch keine Maßnahme stärker ankurbeln können als durch dieses durchsichtige Manöver, das nicht geheim bleiben konnte. Presseprofis dachte man sich gewiefter. Seit der Hamburger Zahlenbiegerei steht Sieferle wieder auf Platz 1 der Verkaufscharts von „Amazon“, und gäbe es eine echte Hamburger „Bestsellerliste“ statt der redaktionell betreuten Empfehlungsliste, hätte er wohl auch dort Chancen auf die Pole Position. Doch es gibt sie ja nicht, es gibt sie ja nicht. Wohl aber bekennen sich die Hamburger ausdrücklich zur „besonderen Verantwortung“, ihr Listengewerbe so fortzuführen wie bisher. Mut zur Leerstelle: Das war und bleibt demnach das Motto beim Spiegel.

Rolf Peter Sieferle schreibt auf Seite 12 des hamburgisch getilgten Buches: „Eine der Lieblingsvokabeln im politischen Wortschatz der Bundesrepublik ist die ‚Verantwortung‘. Seine Karriere verdankt das Wort in erster Linie seinem guten Klang in Verbindung mit seiner Unbestimmtheit“. Quod erat demonstrandum.

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