100 Jahre Oktoberrevolution - Lenins grausames Erbe

Vor einem Jahrhundert fand in Petrograd eine Revolte statt, die später als Oktoberrevolution verklärt wurde. Doch Lenins Werk sollte nicht romantisiert werden. Zumal der Wille zur Zensur heute wieder zum Vorschein kommt

Lenin-Denkmal in St. Petersburg: kein romantischer Revolutionär, sondern rechthaberischer Diktator / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. Klaus-Rüdiger Mai, geboren 1963, Schriftsteller und Historiker, verfasste historische Sachbücher, Biographien und Essays, sowie historische Romane. Sein Spezialgebiet ist die europäische Geschichte.

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Nacht über der Newa, doch es gibt keine Ruhe in der Stadt an diesem 7. November – wie auch in den vorigen Nächten nicht. Stattdessen herrscht Aufgeregtheit und eine Spannung in Petrograd, die auf ihre Entladung wartet. Vier Jahre Weltkrieg haben die Armut im russischen Imperium, einem miserabel verwalteten Vielvölkerstadt, immens verstärkt. Die Eliten bereicherten sich rücksichtslos. Die Liberalen wie Alexander Kerenski, der Chef der Provisorischen Regierung, Sozialdemokraten wie Irakli Tseretli oder Sozialrevolutionäre wie Wiktor Tschernow mühten sich, aus einem autokratischen Reich eine demokratische Republik zu machen. Dafür wurden sie heftig von Rechts – von denen, die das Zarenreich restaurieren wollten – wie von Links – alle Arten von Volksbefreiern – angegriffen, verhöhnt und diffamiert.

Im Grunde konnten sie nur scheitern, denn 80 Prozent der Bevölkerung lebte in düsterer Unbildung auf dem Land. Die Industrialisierung hatte gerade erst begonnen, und so existierte nur eine dünne Schicht von Arbeitern und eine noch schmalere von Intelligenzlern, auf die sich die Provisorische Regierung stützen konnte. Die russischen Sozialdemokraten hatten sich in eine gemäßigte Fraktion, den Menschewiki, und eine radikalere oder revolutionäre, den Bolschewiki, gespalten. Beide Fraktionen standen sich voller Hass gegenüber. Neben der Provisorischen Regierung hatte sich ein zweites Machtzentrum in Petrograd etabliert: der Sowjet (Rat) der Arbeiter- und Bauerndeputierten, in dem ebenfalls die Menschewiki und die linke Fraktion der Sozialrevolutionäre vertreten waren. Die Sozialrevolutionäre, die ursprünglich aus dem russischen Anarchismus und linken Terrorismus der Gruppe Volkswille (Narodnaja Wolja) hervorgegangen waren, beteiligten sich wie die Menschewiki an beiden „Regierungen“.

Lenin wollte mit dem Aufstand warten

Wladimir Iljitisch Lenin hatte nach seiner vom deutschen Steuerzahler spendierten Rückkehr nach Russland in den Aprilthesen zum Sturz der Provisorischen Regierung aufgerufen und die Bildung einer Sowjetrepublik, zur Verstaatlichung der Banken, zur Bodenreform und zur Kontrolle der Arbeiter über die Industrie gefordert. Es ist leicht einzusehen, dass dieser Zustand der Doppelherrschaft nicht lange halten konnte und es irgendwann zur Entscheidung kommen musste. Alle großen Ereignisse in der Geschichte geschehen dennoch aus Versehen, zumindest in der Art, wie sie konkret stattfinden. Lenin hielt sich versteckt in seiner konspirativen Wohnung auf, während die kleine Führungsspitze der Bolschewiki im Smolny, dem Sitz des Sowjets, sich endlos darüber stritt, ob man zum Aufstand aufrufen sollte, während Leo Trotzki die Meisterleistung gelang, die Soldaten der Petrograder Garnison auf die Seite der Sowjets hinüberzuziehen.

Es hält sich die Anekdote, dass Lenin, der mit dem Aufstand noch warten wollte, besorgt über Trotzkis Aktivismus durch die Nacht lief und unter Gefahr, erkannt und womöglich erschossen zu werden, durch die Straßen zum Smolny eilte, in Trotzkis Büro stürmte und ihn anherrschte, er solle keinesfalls das Signal zum Aufstand geben. Doch der konnte nur noch lächeln: Der Aufstand lief bereits. In dieser Nacht wurde das Winterpalais, der Sitz der Provisorischen Regierung, gestürmt und die Chance auf eine demokratische Entwicklung in Russland für die nächsten 73 Jahre vertagt. Was in der Nacht vom 7. November seinen Anfang nahm, sollte von 1945 bis 1989 Europa spalten und einen Teil des Kontinents zu einer Art sowjetischen Kolonie machen.

Deutscher Dichter im Delirium

Doch die Nachricht von der marxistischen Revolution ging per Kabel und per Funk um die Welt und in Berlin dichtete deshalb fast zeitgleich ein hochbegabter, hungerleidender und morphiumsüchtiger junger Mann aus München im Hungerdelirium oder Drogenrausch: „Im Osten wächst das Licht. Der Dichter streue/sich schwellend dir entgegen. Welche Nacht!“ Dieser junge Dichter hieß Johannes R. Becher und sollte der erste Kulturminister der DDR werden.

Und Nacht senkte sich tatsächlich über Rußland. Grigori Sinowjew, führender Bolschewik, erklärte bereits im September 1918: „Um unsere Feinde zu überwinden, brauchen wir unseren eigenen sozialistischen Militarismus. Von der 100 Millionen zählenden Bevölkerung Sowjetrusslands müssen wir 90 Millionen mit uns nehmen. Was den Rest angeht, so haben wir ihm nichts zu sagen. Er muss vernichtet werden.“ Am Ende sollte er sich doppelt verrechnet haben: Es waren nicht 10 Millionen, sondern 20 bis 25 Millionen Menschen, die dem Terror der Bolschewiki zum Opfer fielen. Auch ihn persönlich sollte es treffen. Lenins Nachfolger Josef Stalin ließ ihn wie die ganze alte Garde der Bolschewiki erschießen.

Der Terror der Revolutionäre

Der Terror, den die Revolutionäre gefordert hatten, fiel auf sie selbst zurück. Aber eben nicht nur auf sie, sondern auf Millionen Menschen, die keine Schuld auf sich geladen hatten, die denunziert wurden. Zuweilen nur deshalb, weil die hochgesteckten Ziele im sozialistischen Wettbewerb bei der Verurteilung und „Liquidierung“ von Staatsfeinden zu erfüllen waren. Niemand wollte als Saboteur dastehen und das Unglück derjenigen, die ins Räderwerk geraten sind, teilen. Im Grunde entstand eine ganze Industrie zur Produktion und Verwaltung von Staatsfeinden. Auch Kinder wurden nicht verschont. Kinder von Staatsfeinden kamen, wenn sie unter 12 Jahre alt waren, in spezielle Kinderheime. Wenn sie älter waren, schickte man sie entweder in den Gulag oder sie wurden wie ihre Eltern erschossen.

Der junge Dichter, der in Berlin gewohnt hatte, forderte in seiner Hymne ein paar Zeilen weiter: „Ihr werdet hart sein. Und sehr unerbittlich.“

Staatlich subventionierte Möchtegern-Revoluzzer

Wenn sich unweit Bechers damaliger Wohnung heute in der Berliner Schaubühne ein paar Narren versammeln, um Revolution zu spielen, so sei ihnen dringend anempfohlen, einen Moment zu schweigen und den Band „Kinder im GULAG“ zu studieren. Diesen hat später Alexander Jakowlew, enger Berater von Michail Gorbatschow und Initiator von dessen Reformpolitik (Perestroika), zusammengestellt. Die Möchtegern-Revoluzzer sollten, bevor sie ihr vom Steuerzahler subventioniertes Spielchen fortsetzen, Boris Pilnjaks „Maschinen und Wölfe“ lesen oder Andrej Platonovs „Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen“ oder Artjom Wesjolys „Rußland in Blut gewaschen“.

Dabei ist Wesjoly ein Pseudonym und heißt auf Deutsch: „Der Fröhliche.“ Die Liste der Literatur, die man lesen sollte, bevor man wirklich ein Gegenparlament bilden und den Reichstag stürmen will, ist lang, leider zu lang. Das historische Analogon, die Provisorische Regierung, die im Winterpalais in Petrograd tagte, stellte zumindest den Anfang auf dem Weg zu einer parlamentarischen Demokratie dar, so wie der Bundestag Organ einer geglückten Demokratie ist.

Lenin war kein Held, sondern Nihilist

Es ist eine Lüge, zumindest Ausweis gewollter Unkenntnis der Geschichte, wenn man die Oktoberrevolution und Lenin verherrlicht und die Verbrechen nur Stalin anlastet. Mit welchem Vernichtungswillen, mit welchem nihilistischen Hang zum Totalitarismus, zur Zensur, zur Rechthaberei, zur Diktatur die Bolschewiki angetreten sind, lässt sich mit genügend Schriften belegen. Der Wille zur Zensur, wie er heute wieder zum Vorschein kommt, die Beseeltheit von Journalisten, zu Propagandisten zu werden, Objektivität fahren zu lassen, weil man wieder einmal am großen Werk mittun will, findet man theoretisch vorformuliert in Lenins Schrift „Parteiorganisation und Parteiliteratur“.

Lenins Schatten lastet noch immer auf uns. Wir sollten die Oktoberrevolution daher als Menetekel sehen.

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