Protektionismus - Die Sehnsucht nach Überschaubarkeit

Protektionismus ist keine Vorstufe des Nationalismus, er dient der psychischen Hygiene. Denn der Mensch braucht eine klare Vorstellung von sich selbst. An diesen neuronalen Rahmenbedingungen ändert auch die übers Knie gebrochene globale Vergemeinschaftung nichts

„Deutschfreundlich, ohne europafeindlich zu sein, das darf man auch als weltoffenes Einwanderungsland“ / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Martin Busch arbeitet seit über 20 Jahren als Redakteur und Moderator für die Hörfunkprogramme von Radio Bremen. 2016 erschien seine Streitschrift „Deutschland, Deutschland ohne alles“. Im Dezember 2018 veröffentlichte er den Aphorismenband „Als Freiheit und Fortschritt begannen, Eigentore zu schießen“.

So erreichen Sie Martin Busch:

Anzeige

„Ich will aber da sein!“, rief das kleine Monster in der Sesamstraße und wurde rübergeschickt zu den anderen. Angekommen, sagte es zufrieden: „Jetzt bin ich da!“ Doch die anderen meinten: „Nein, jetzt bist Du hier!“ „Ich will aber da sein!“, schrie das Kleine entsetzt. Und musste wieder und wieder auf die andere Seite laufen.

Wir sind von Haus aus Dualisten. Drinnen ist drinnen und draußen ist draußen, fasste Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble das Referendum der Briten über den EU-Austritt zusammen. Der Mensch ist kein „Sowohl-als-auch-“, sondern ein „Entweder-oder-Wesen“. Drittes Geschlecht hin oder her. Die Fans des VfB Stuttgart gaben Winfried Schäfer keine Chance, weil der Trainer aus Baden stammt. Antagonismen, Dichotomien helfen uns, uns selbst zu definieren. Wer keine Vorstellung von sich selbst hat, kommt nicht klar, kriegt Hirnsausen. An diesen neuronalen Rahmenbedingungen ändert auch die übers Knie gebrochene globale Vergemeinschaftung nichts. Wir haben vielleicht Industrie 4.0, bleiben aber Mensch 1.0. Und doch ist es kontraproduktiv, wenn jeder Zeitgenosse seine Wirklichkeit komplett eigenständig konstruiert, wie es in der digitalisierten, kapitalistischen Demokratie zunehmend den Anschein hat. Jeder ist sein Lieblingsautor und die einzige akzeptierte Autorität in der Lebensführung. Wenn aber das Ich zum Maßstab aller Dinge wird, wer kann dann noch behaupten, etwas gehöre sich nicht oder gehe nicht mit rechten Dingen zu?

Der Durst nach Ordnung wächst

Die Fifa hat 211 Mitgliedsländer. Mehr als die Uno. Der Wunsch, sich auch national zu definieren, ist – gut, dass John Lennon das nicht mehr erlebt – ungebrochen (siehe Medaillenspiegel bei Olympischen Spielen). Der Schriftsteller Robert Menasse erkennt die verschiedenen Nationalitäten der EU-Beamten in Brüssel an der Art, wie sie Fahrrad fahren, spricht den Menschen aber die Notwendigkeit einer nationalen Zugehörigkeit ab. Wieso reisen wir nach Thailand oder Indonesien, nach Mexiko, Australien oder Südafrika? Weil dort alles so ist wie zu Hause? Die Differenz generiert die Neugier. Andere Länder, andere Sitten. „Grenze zieht an“, so der Soziologe Alexander Deichsel.

Die Verantwortlichen einer internationalen Konferenz in Bremen, deren Teilnehmer aus allen Himmelsrichtungen angereist waren, gingen am Vorabend der Veranstaltung mit den Gästen essen. Beim Türken. Als gäbe es keine typisch bremische oder deutsche Küche. Kein anderes Land der Welt würde als Gastgeber derart verfahren. „Selbstvergleichgültigung“ hat das der evangelische Bischof Wolfgang Huber genannt. Deutschland soll kompromissbereiter denn je sein, während der Einzelne kompromissloser denn je ist. Ein Spagat, der immer mehr Leuten gegen den Strich geht. Gemeinschaftsfeindliche Beliebigkeit im Sozialen, individualfeindliche Rigidität im Wirtschaftlichen. Das ist der Status quo. Die Freiheit des Individuums beginnt, Eigentore zu schießen. Und die der Unternehmen ebenfalls. Die Solidarität benötigt ein Überbrückungskabel. Dass der Durst nach Ordnung wächst, darf nicht überraschen. Anders als manch Kunstschaffender meint, ist Verwirrung nämlich kein gesunder Zustand.

Naive Laissez-faire-Haltung

In einer TV-Dokumentation konnte man lernen: Dort, wo der Weiße Hai ist, ist das Wasser gesund und sauber. Auch ein freiheitlicher Rechtsstaat muss sich bisweilen mit drastischen Mitteln schützen. Um solch ein Vorgehen zu rechtfertigen, muss man nicht bei Thomas Hobbes oder Niccolò Machiavelli nachschlagen, der noch lebende, emeritierte Papst Benedikt sagt: „Der Mensch kann leichter bös sein als gut!“ Wenn unsere Gerichte entscheiden, so genannte Gefährder nicht in ihre Heimatländer zu schicken, weil nicht garantiert ist, dass sie dort nach unseren menschenrechtlichen Vorstellungen behandelt werden, dann ist das eine Einladung an alle Kriminellen dieser Welt. Sollen wir die Menschen auch hier behalten, weil sie in ihren Heimatländern weniger Lohn bekommen als in Deutschland? Gewalttäter und Einbrecher haben bei uns weniger zu befürchten als Verkehrssünder. Intellekt und Naturell der Gesellschaftsmitglieder sind der Markenkern unseres bodenschatzarmen Landes. Wir haben 3800 Kilometer Außengrenzen, über die jeder einreisen kann, der will. Was für ein naives Menschenbild liegt dieser Laissez-faire-Haltung zugrunde?

Verfassungspatriotismus als einigendes Band genügt nicht. Ethnozentrismus ist für die Kohäsion des Gemeinwesens zwar irrelevant, aber, so der kanadische Philosoph Charles Taylor, gemeinsame Vorstellungen von sozialen Räumen braucht es eben schon. Damit ist nicht nur die Gleichberechtigung von Mann und Frau gemeint oder die Religionsfreiheit. Die gerade beginnende Adventszeit ist zweifelsohne Teil unserer Leitkultur. Kulinarisch, musikalisch und symbolisch. Eierlegende Wollmilchsäue mögen hochinteressant sein, verlässlicher ist das Fachgeschäft. Selbst wenn es an verschiedenen Standorten Filialen gibt, ist deren Sortiment überall identisch. Diese Orientierung erhalten die Bürger der föderalen Bundesrepublik in diversen Kontexten nicht. Die negativen Konsequenzen spürt man von den Kindergärten bis zum Verfassungsschutz. Hier wäre weniger mehr. Viel mehr.

Berechtigte Globalisierungskritik

Erst kommt das Land, dann die Partei, hat Willy Brandt gesagt. Erst kommt das Land, dann das Ausland, sollten die heute Verantwortlichen sagen. Das gilt für Politiker wie für Wirtschaftsbosse, denen die indische und die chinesische Mittelschichten mittlerweile wichtiger sind als die eigene. Anders als bei uns wächst diese Gruppe dort auch. Hier, im angeblichen Stabilitätsanker des Kontinents, wächst dafür die Zahl prekär Beschäftigter (Kettenbefristung, Niedriglohnsektor) und die Zahl schlecht betreuter Kinder ebenso (das Ganztagsschulangebot hat überwiegend Kreisliga-Niveau). Die niedrige Arbeitslosigkeit dient derweil dazu, der Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen.

Der als Ketzer verbrannte Priester und Philosoph Giordano Bruno war vielleicht der erste Globalisierungsskeptiker. Der Italiener stellte im 16. Jahrhundert die Frage, ob der Verkehr zwischen Völkern, welche die Natur durch Meere und Gebirge, durch Sprache und Sitten geschieden hat, mehr nützt als schadet. Bruno jedenfalls vertrat die Auffassung, dass durch den Kontakt die Laster leichter vervielfältigt werden als die Tugenden. Der Slogan „small is beautiful“ stammt von einem Schüler Leopold Kohrs', dem Ökonom Fritz Schumacher. Der österreichische Philosoph Kohr verlangte in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein gesundes System kleinerer und leichter regierbarer Staaten. Diese würden seiner Ansicht nach nicht mehr die bedrohte Existenz von Grenzgebieten ehrgeiziger Nachbarn führen und somit dem Frieden auf Erden eher dienlich sein als die ständigen künstlichen Vereinigungsprozesse.

Deutschfreundlich, ohne europafeindlich zu sein

Klein, aber fein! Sind wir vielleicht „too big to function“? Pisa-Sieger in Europa ist Lettland, weltweit ganz vorne ist der Stadtstaat Singapur. Die sichersten Länder sind laut Global Peace Index Island, Dänemark und Österreich. Viele der glücklichsten Menschen leben in Dänemark, das mehrere Jahre die entsprechende Rangliste angeführt hat und nun lediglich von Norwegen überholt wurde. Die Zufriedenheit der Dänen hat sogar einen Namen: „Hygge“. Dieses Lebensgefühl hat auch was mit Überschaubarkeit zu tun. Mentaler Protektionismus ist keine Vorstufe des Nationalismus, er dient der psychischen Hygiene. Diese aufrechtzuerhalten, wird durch die unglaubliche Reizüberflutung unserer Tage erschwert. Deutschfreundlich, ohne europafeindlich zu sein, das darf man auch als weltoffenes Einwanderungsland. Ein bisschen Sowohl-als-auch geht eben doch. Oder wie es eine Kollegin neulich ausdrückte: Man kann ja das eine machen, ohne das andere zu lassen.

Anzeige