68er - Ihr heutiges Leid macht sie erträglich

Schon als Jugendlicher fand Thilo Sarrazin die Ansichten der 68er abstoßend und heuchlerisch, schreibt er in seinem Beitrag zur Cicero-Diskussion um die Studentenrevolte. Ihr selektiver Blick auf die Welt ist für ihn die Geburtsstunde der alternativen Fakten

Die 68er verehrten Mao, Che Guevara und Ho Chi Minh und hassten de Gaulle, Johnson und Strauß / picture alliance
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Autoreninfo

Thilo Sarrazin (SPD) war von 2002 bis April 2009 Finanzsenator unter Klaus Wowereit. Seit dem 1. Mai 2009 war er Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank. Im Sommer 2010 trat Sarrazin als Vorstand zurück, nachdem er mit der Buchveröffentlichung "Deutschland schafft sich ab" eine heftige Kontroverse losgetreten hat

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Die 68er-Bewegung war tatsächlich eine kulturelle Bewegung der Jugend in der gesamten westlichen Welt. Zwischen 1940 und 1950 geboren, waren die 68er die Kinder jener Generation, die als Soldaten im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte und dabei als Sieger oder Verlierer, als Täter oder Opfer für ihr restliches Leben geprägt worden war. Die gesamten fünfziger und frühen sechziger Jahre mit ihrer bemühten Normalität und ihrem anstrengenden Optimismus sind nur verständlich vor diesem Hintergrund.

Was für die Eltern Rettung und Bestätigung nach überstandenem Unheil war, bedeutete für die herangewachsenen Kinder die Gefangenschaft in leeren Sitten, Spießertum und Heuchelei. Der Aufstand der Jungen gegen die Alten begann Anfang der sechziger Jahre recht unauffällig mit der Pop-Musik und verbreitete sich allmählich auf die Haartrachten. Man pries die Befreiung des Körpers durch die freie Liebe, die Befreiung der Seele durch LSD, die Befreiung der Arbeiter und der Dritten Welt durch die Abschaffung des Kapitalismus und die Befreiung von Karrieredruck und Existenzangst durch die Abschaffung des Leistungsprinzips.

Hauptsache protestieren

In den USA war man gegen den Vietnamkrieg, in Frankreich gegen das Bürgertum, in Schweden gegen die Ausbeutung der Dritten Welt, in Deutschland gegen die Nazi-Eltern. Und überall war man gegen die herrschenden Eliten und gegen den Kapitalismus. Man verehrte Mao, Che Guevara und Ho Chi Minh. Man hasste Charles de Gaulle, Lyndon B. Johnson und Franz Josef Strauß. Man hasste Polizisten und Soldaten, soweit sie in westlichen Diensten standen. Und in der ganzen Welt hasste man Professoren, die an ihren Standards festhielten und junge Revolutionäre kaltlächelnd durch das Examen fallen ließen.

Als jugendlicher Zeitgenosse hielt ich die politischen Ansichten der 68er für angsterregend idiotisch, ihren Mangel an historischer und politischer Bildung für abstoßend, ihre Empfindlichkeit für die Leiden in der Dritten Welt angesichts des ihnen offenbar gleichgültigen Leidens hinter dem Eisernen Vorhang für heuchlerisch. Nie traf ich in meinen Bonner Studentenjahren persönlich einen 68er, den ich wirklich ernst nehmen konnte. Der selektive Blick der 68er auf die Welt ist für mich die Geburtsstunde der alternativen Fakten in der Nachkriegs-Moderne.

Zwei Errungenschaften

1) Das Konzept der freien Liebe fand ich als junger Mann theoretisch überzeugend, schien es mir doch geeignet, hübsche Mädchen zugänglicher zu machen. Missmutig stellte ich jedoch fest, dass die Mädchen, die mich interessierten, von dem Konzept wenig beeindruckt schienen. Ich las von Wilhelm Reich „Die Funktion des Orgasmus“ und von Sigmund Freud alle Werke, die als Fischer-Taschenbuch erhältlich waren. Das Interesse für Psychologie ist mir bis heute geblieben. Ich verdanke es, so gesehen, der 68er-Bewegung.

2) Die Kernidentität der 68er war die Moralisierung der Welt, sie waren besessen vom Kampf gegen das Böse. Dies schuf neue Kategorien der Ästhetik, die dem Filmschaffen einen großartigen Auftrieb gaben. „Blow up“ von Michelangelo Antonioni war für mich 1966 ein Donnerschlag: Die Quelle des Bösen versteckt sich unentdeckt im Gebüsch, und Vanessa Redgrave steht als rätselhafte Schönheit offenbar in seinem Dienst. Das macht sie umso faszinierender. Vier Jahre später zeigte Antonioni in „Zabriskie Point“ die Radikalisierung der Bewegung: Wir erleben die freie Liebe der jungen Helden, die sich zufällig begegnen. Das Böse in Form geldgieriger Geschäftemacher tötet den jungen Mann, und in einer Orgie von Explosionen, die die prachtvolle Wüstenvilla und ihre Bewohner vernichten, wird der Gerechtigkeit Genüge getan.

Nützliche Idioten der Machthaber im Ostblock 

Die 68er umfassten nur eine Minderheit ihrer Generation. Aber sie beeinflussten eine Mehrheit der politisch Aktiven und eine Mehrheit der politischen Journalisten in dieser Generation. Quasi als abgesunkenes Kulturgut prägt ihr Ausblick auf die Welt bis heute besonders stark das politische Feuilleton, wo moralische Besserwisserei und die stille Liebe zum Marxismus nach wie vor geräumige Nischen bewohnen. Wie jede machtvolle Bewegung schufen die 68er einen großen Kreis von Mitläufern, und sie prägten Mentalitäten weit über ihre damaligen Themen hinaus. Ohne das Ferment der 68er gäbe es keine politische Bewegung der Grünen, keine Abschaltung der Kernkraftwerke und keine Energiewende. Das Konzept der sexuellen Befreiung führte in der Konsequenz zur heutigen Kinderarmut in Deutschland, aber auch zur Abschaffung von der Idee der Ehe als der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau.

Neben den Mitläufern produzierte die 68er-Bewegung auch Radikale, deren Bereitschaft zur Gewalt sich entgrenzte und verselbständigte. So entstanden die RAF in Deutschland und die roten Brigaden in Italien. Jedes Mal, wenn ein Vortrag von mir durch Linksautonome gestört wird, denke ich beim Blick in ihre jungen, glatten und gedankenleeren Gesichter: Oh ihr Toren, ich war schon Zeitzeuge, als eure Großväter auf die Straße gingen. Zuerst protestierten sie gegen den Besuch des Schahs in Deutschland, später dann gegen die Notstandsgesetze der Großen Koalition. Als Inbegriff des Bösen galten den 68ern im Sommer 1967 die sogenannten Prügelperser. Das waren Mitglieder des persischen Geheimdienstes Savak, die den Schah auf seinem Staatsbesuch begleiteten und gegen zudringliche Demonstranten vorgingen. Bei solch einer Gelegenheit fiel der Schuss, der im Frühling 1967 in Berlin den Demonstranten Benno Ohnesorg tötete. Dieser Schuss fachte damals das Feuer der 68er zu einem Flächenbrand an, er machte Geschichte. Wie wir heute wissen, stammte er aus der Waffe eines Stasi-Agenten. Aus der Sicht der Machthaber im Ostblock waren die 68er nützliche Idioten, die man jahrzehntelang unauffällig gerne unterstützte, um das kapitalistische System zu unterminieren.

Ihr Leiden freut mich diebisch

Es ist für mich kein Zufall, dass die 68er unter den Journalisten und Politikern besonders spät erwachten, als es jenseits des Eisernen Vorhabens mit dem Kommunismus zu Ende ging. Bis heute leiden die 68er darunter, dass der Kapitalismus mit Privateigentum an den Produktionsmitteln das einzige wirtschaftliche Ordnungsmodell auf der Welt ist, das wirklich funktioniert und zudem noch Bestand hat. Dieses Leiden freut mich diebisch. Es macht die negativen Spuren der 68er, die ich überall in unserer Gesellschaft sehe, für mich erträglicher.

 

In unserer Juni-Ausgabe hatten wir Sie zur Debatte über Nutzen und Schaden der 68er-Generation aufgerufen. Bei Cicero Online führen wir die Diskussion nun fort. Auch unsere Leser laden wir herzlich ein, an der Debatte teilzunehmen.

 

 

 

 

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